Jetzt, mit dem Raketenangriff des Iran auf Israel, hat der Krieg eine ungleich größere Dimension angenommen.
Rabinovici
Diese Dimension hatte er von Anfang an. Als ich vor einem Jahr gesagt habe, dass es sich in Wahrheit um einen Konflikt zwischen Israel und dem Iran handelt, der seine Verbündete – Hamas und Hisbollah – vorschickt, und letztlich auch um einen Konflikt zwischen dem Iran und der westlichen Welt, stieß ich bei nichtjüdischen Bekannten auf Unglauben. Jetzt wird kaum mehr jemand widersprechen.
Der 7. Oktober bedeutet ein immenses Trauma für Israel, weil das Sicherheitsgefühl des Staates und seiner Bevölkerung zerstört wurde. Alles, was die israelische Regierung danach unternommen hat, sollte der Wiederherstellung der Sicherheit dienen. Die große Frage: Ist Israel sicherer geworden? Ist der Weg der richtige?
Rabinovici
Israels militärische Abschreckung war durch den 7. Oktober erschüttert, und Friedenspolitik war immer nur möglich, wenn Israel über Abschreckung verfügt. Israel hat sich diesen Krieg am 7. Oktober nicht ausgesucht, er wurde ihm aufgezwungen.
Es begann mit der „Operation Eiserne Schwerter“, dem Krieg gegen die Hamas in Gaza. Zu Beginn stand die westliche Staatengemeinschaft geschlossen hinter Israel. Doch das änderte sich mit der Zeit.
Rabinovici
Ich habe das anders erlebt. Es begann mit den Massakern des 7. Oktober und mit den Raketen auf Israel. Man sagte zwar, Israel dürfe sich wehren, aber ehe der Staat noch sein Kernland befreit hatte, wurde in westlichen Medien und in der UNO schon von angeblicher „Rache“ und „Vergeltung“ gesprochen.
Das liegt allerdings daran, dass israelische Minister Aussagen machten, die stark nach Rache klangen und in denen kein Unterschied zwischen der Terrororganisation und der Zivilbevölkerung gemacht wurde. Dazu kam die Art der Kriegsführung. Sogar der nahezu uneingeschränkt israelfreundliche US-Präsident Joe Biden war entsetzt, dass Israel 2000-Pfund-Bomben auf dicht besiedeltes Gebiet abwarf, und drohte vorübergehend, manche Waffenlieferungen einzuschränken.
Rabinovici
Ja, es ist dann einiges geschehen, was auch in Israel kritisiert wird – und durchaus zu Recht. Dennoch halte ich Vorwürfe wie etwa den des „Genozids“ gegenüber Israel für völlig überzogen. Bekanntlich missbraucht die Hamas die eigene Bevölkerung als Schutzschild.
Die Richterinnen und Richter des Internationalen Strafgerichtshofes und des Internationalen Gerichtshofes sind zu dem Schluss gekommen, dass die Vorwürfe gegenüber Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant beziehungsweise gegenüber Israel es wert sind, untersucht zu werden.
Rabinovici
Das Gericht erklärte nur seine Zuständigkeit für plausibel, doch wird so getan, als habe das Gericht bereits entscheiden, dass die Anklage wahrscheinlich zutreffe. Das ist falsch. Aber wenn ich das Gerede vom Genozid als reine Hetze verurteile, heißt das nicht, dass ich jedes Vorgehen der israelischen Regierung verteidige. Es gab auch Kriegsverbrechen. Übrigens waren manche Äußerungen in dem Moment, als sie inkriminiert wurden, bereits faktisch widerlegt. Wenn etwa ein Minister sagt, Gaza solle nicht mit Lebensmitteln versorgt werden, die Versorgung aber tatsächlich bereits angelaufen ist, dann hat die Realität die Aussage überholt.
Ein höchst umstrittenes Phänomen in diesem Konflikt sind die Gaza-Solidaritäts-Camps und -Demonstrationen an Universitäten im Westen, die rasch als antisemitisch verurteilt wurden. Ist ein solches Pauschalurteil fair? Viele Leute hatten den Eindruck, dass in Gaza Unrecht geschieht – dass Israels Armee keine Rücksicht auf Zivilisten nimmt und dass die israelische Regierung den Palästinensern keine politische Zukunft zugesteht.
Rabinovici
Mag sein, aber das rechtfertigt nicht, mit Leuten zu demonstrieren, die „Kindermörder Israel!“ skandieren und den berüchtigten arabischen Schlachtruf „Chaibar, Chaibar, ya yahud“ (Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden! ). Das sind genozidale Slogans! Was ist deren Sinn? Die genozidale Absicht der Islamisten wird weggebrüllt. Judenstaat und Zionismus werden als Ausbund von Imperialismus, Kolonialismus, Apartheid, Nationalsozialismus diffamiert. Die europäische Judenverfolgung als Grund für Zionismus wird so ausgeblendet. Geht es um Israel, demonstrieren Gruppen miteinander, die sonst einander nur den Tod wünschen – türkische Islamisten und kurdische Nationalisten, Nazis und Linke, Queers und Dschihadisten. Da werden die Massaker und Vergewaltigungen vom 7. Oktober teils offen geleugnet. Beschmiert wurden jüdische Geschäfte, Shoah-Mahnmale und Tagungsorte gegen Antisemitismus. Juden wurden niedergestochen.
Muss es nicht dennoch möglich sein, gegen einen Staat zu demonstrieren, der seit Jahrzehnten Gebiete mit Millionen Menschen besetzt hält und Urteile internationaler Gerichte ignoriert, ohne deshalb als Antisemit bezeichnet zu werden?
Rabinovici
Müsste möglich sein, die Demos und Initfada-Camps machen sich stattdessen lieber mit einer genozidal-antisemitischen Ideologie des Dschihadismus gemein – und zwar, um vorgeblich gegen Genozid zu demonstrieren. Es gibt nichts Verrückteres.
Ehe die Konflikte an den Fronten mit der Hisbollah und dem Iran eskalierten, sah es nach einem Waffenstillstand und einem Geisel-Deal mit der Hamas aus. Die USA verlangten das von der israelischen Regierung.
Rabinovici
Nicht nur die USA. Auch Hunderttausende Demonstranten in Israel.
Die Angst aufseiten Israels ist, dass die Hamas ein Ende des Krieges als Sieg feiern würde.
Rabinovici
Ja, obwohl sie militärisch vernichtet ist. Diese Niederlage hat Hamas-Chef Sinwar in dieser Eindeutigkeit wohl nicht erwartet. Aber er ist ein Apokalyptiker, er nimmt auch das in Kauf. Wir haben es da mit einem Zyniker zu tun.
Das ist noch höflich ausgedrückt.
Rabinovici
Hunderttausende Menschen, denen ich mich verbunden fühle, verlangen von Premier Netanjahu, dass er einen Deal abschließt – aber zugleich sind diese Menschen froh, dass der militärische Schlag gegen die Hisbollah gelungen ist. Das klingt vielleicht paradox, aber der Wunsch nach Frieden mit den Palästinensern und nach militärischer Ausschaltung der Hisbollah sind kein Widerspruch.
Die Hamas ist militärisch ausgelöscht, die Hisbollah hat ihren Anführer verloren, ihr Führungspersonal wurde durch die geheimdienstliche Aktion mit Sprengstoff präparierter Pager stark geschwächt, und sie sieht sich mit einer Offensive konfrontiert – und jetzt wartet alle Welt, wie stark der israelische Gegenschlag auf den Iran ausfallen wird. Haben sich Israels Gegner arg verschätzt?
Rabinovici
Der Iran ging davon aus, dass Hamas und Hisbollah viel stärker seien. Und sie selbst glaubten das wohl auch. Israel fühlte sich nach dem 7. Oktober geschwächt, und viele warnten vor einem Zweifronten-Krieg. Aber Israel kann nicht zusehen, wie der Iran es mit Raketen überzieht, wenn es den Mullahs gerade lustig ist, und zugleich an dem Atomprogramm weiterarbeitet.
Wie ist die Strategie des Iran zu verstehen? Man dachte, Teheran habe großes Interesse, sich moderat zu zeigen, damit die Sanktionen des Westens langsam wieder abgebaut würden. War das ein Irrtum?
Rabinovici
Das wäre das reale Interesse des Iran. Aber daneben gibt es eine Ideologie, die irrational ist. Das Irrationale ist real und wirkmächtig, das lehrt die jüdische Leidensgeschichte. Wenn der frühere Präsident des Iran, Mahmud Ahmadinedschad sagte, er wolle Israel auslöschen, dann nahm Israel das ernst, während alle Welt meinte, das sei bloß Rhetorik. Nein, die Dschihadisten meinen das ernst. Der Iran will seine nuklearen Ziele verfolgen, während seine Handlanger Israel in Schach halten, das ist der Plan.
Gaza ist plötzlich nur noch ein Nebenschauplatz, und die westliche Staatengemeinschaft steht wieder geeint hinter Israel. Aber die Risiken sind gewachsen. Erleben wir jetzt den gefährlichsten Moment in der Folge des 7. Oktober?
Rabinovici
Der Iran will keinen Frieden mit Israel, aber in meiner Jugend wären auch Allianzen Israels mit arabischen Staaten unvorstellbar gewesen, und heute gibt es sie. Die Regierung in Jerusalem hat kein Kriegsziel und keinen Friedensplan ins Auge gefasst. Die Schwächung der islamistischen Terrormilizen könnte auch für eine Initiative genutzt werden. Für den Neubeginn in Gaza, für Stabilität in der Region und einen Kompromiss zwischen Israel und Palästina.