Israel-Palästina: Warum der Nahostkonflikt so festgefahren ist

Sechs Gründe, warum sich die Spirale der Gewalt im Nahostkonflikt immer weiter dreht.

Drucken

Schriftgröße

Gerade noch freuten sich israelische Hoteliers darauf, Touristen aus aller Welt zu begrüßen. Über Monate produzierte Israel die besten Schlagzeilen der Welt: Mit Lockdown und Impfung hatte die Regierung von Benjamin Netanjahu die Covid-Pandemie in den Griff bekommen. In Restaurants und Cafés herrschte Feierstimmung in diesem frühsommerlichen Mai. Doch dann kam der Traum von der Normalität zu einem abrupten Ende. Auf dem Flughafen in Tel Aviv landen derzeit keine Flugzeuge mehr.

In Israel und den palästinensischen Gebieten herrscht Krieg. Die israelische Armee bombardiert Einrichtungen der Hamas im Gazastreifen. Auf beiden Seiten regnen Nacht für Nacht Raketen auf Zivilisten. Im Gazastreifen gab es mit Stand Freitag bereits weit über 100 Tote, in Israel bisher acht. Israels Armee befehligt die größte Militäraktion seit 2014, die Operation "Guardian of the Walls"-"Hüter der Mauern".Das israelische Sicherheitskabinett hat die Ausweitung der Bombardements gegen Ziele im Gazastreifen angeordnet. Vermittler aus Ägypten und den USA konnten vorerst nichts ausrichten.

Nicht nur die israelische Regierung und die Hamas-Führung im Gazastreifen bekämpfen einander. In Israels Straßen kommt es seit Tagen zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen den Staatsbürgern - arabische Mobs gegen jüdische Zivilisten und jüdische Mobs gegen arabische Zivilisten. In Israel leben neun Millionen Menschen, 21 Prozent davon sind Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Unruhen gab es schon in früheren Jahren. Als Antwort hat Premier Netanjahu 2018 ein Grundgesetz beschließen lassen, das Israel als eine Nation der Juden definiert.

Doch in den vergangenen Tagen verbreitete sich in Israel erstmals echte Panik vor Pogromen. Vor allem in Städten, in denen jüdische und arabische Nachbarn nebeneinander leben, kam es zu Straßenschlachten. Friedliche Proteste von israelischen Arabern gegen das Gaza-Bombardement schlugen in Gewalt um. Gezielt provoziert wird von antiarabischen Gruppen wie "Lehava" oder "La Famiglia" und rechtsextremen israelischen Siedlern. In Bat Jam wurde ein Araber aus seinem Auto gezerrt und krankenhausreif geprügelt; in Lod kam es zu Straßenschlachten, ein jüdischer Mann wurde auf dem Weg zur Synagoge mit einem Messer angegriffen, eine schwangere arabische Frau erlitt Kopfwunden; in Akko wurde das jüdische Restaurant Uri Buri in Brand gesetzt; in Kfar Kassem gingen Polizeiautos in Flammen auf; in Tiberias attackierten Männer mit israelischen Fahnen ein Auto. Zuletzt warnte Israels Präsident Reuven Rivlin vor einem Bürgerkrieg.

Die Situation ist völlig verfahren, nicht einmal ein Waffenstillstand ist in Sicht. Israels Verteidigungsminister Benny Gantz sagt, es werde so lange gekämpft, bis "totale Ruhe" herrsche. Davon kann derzeit keine Rede sein.

Die Logik der Hardliner auf beiden Seiten dreht die Spirale der Gewalt immer weiter - und die Gewaltbereitschaft dringt immer tiefer in die israelisch-palästinensische Gesellschaft ein.

1. Gewalt ist die Währung des Nahostkonflikts

Hamas-Führer Ismail Haniyeh gab nach dem Abschuss von mehr als 1000 Raketen auf Israel zu Protokoll: "Wir werden den Widerstand nicht aufgeben. Was jetzt passiert, ist eine Ehre für unsere Nation." Israels Premier Benjamin Netanjahu antwortete postwendend: "Die Hamas und die palästinensischen Gruppen vom Islamischen Dschihad werden einen hohen Preis zahlen." Selbst eine israelische Friedenstaube wie Jossi Beilin (siehe Interview im aktuellen profil), ein Architekt des Oslo-Abkommens von 1993, findet, Israel habe keine andere Wahl: "Wenn die Hamas uns angreift, müssen wir zurückschlagen."

Den Hardlinern in Israel und dem Gazastreifen ist es gelungen, ihre Haltungen zum Mainstream im Diskurs über den Nahostkonflikt zu machen.

Die Hamas-Bewegung, die den Gazastreifen seit 2006 kontrolliert, ist zwar hinter den Kulissen pragmatisch und durchaus bereit, mit Israel über Dinge des täglichen Lebens wie die Einfuhr von Medikamenten, Lebensmitteln sowe Gütern zu verhandeln. Denn Israel hat sich zwar aus dem Gazastreifen zurückgezogen, kontrolliert aber den Zugang zum Küstenstreifen, auf dessen 365 Quadratkilometern zwei Millionen Palästinenser leben. Zu Friedensgesprächen zwischen der Hamas und Israel kam es jedoch nie.

Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) dagegen war für einen Friedensschluss mit Israel offen. Weil es seit den ersten Ansätzen während des Oslo-Prozesses 1993 nie zu einem unabhängigen Palästina gekommen ist, hat PLO-Chef und Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas allerdings nur noch wenig Unterstützung in der Bevölkerung. Aus Angst vor einer Niederlage gegen die radikale Hamas verschob Abbas zuletzt sogar die längst überfälligen palästinensischen Wahlen.

2. Oslo - eine Chiffre des Versagens

Das Oslo-Abkommen, vor knapp 30 Jahren die große Hoffnung auf Aussöhnung und Frieden für Israelis und Palästinenser, ist heute auf beiden Seiten ein Schimpfwort. Israelis halten Friedensinitiativen für naiv, Palästinenser für Betrug.

1993 kostete es den damaligen israelischen Premier, General und Chef der Arbeitspartei Jitzhak Rabin große Anstrengung, die Israelis - und sich selbst - von einem Friedensschluss mit Jassir Arafat zu überzeugen. Die PLO hatte seit 1967 mit Gewalt gegen die israelische Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens gekämpft. Doch die Geschichte des gegenseitigen Misstrauens konnte kurzfristig unterbrochen werden, weil die Konfliktparteien unter der Vermittlung der norwegischen Regierung und der Schirmherrschaft von US-Präsident Bill Clinton eine Chance auf Aussöhnung erkennen konnten.

Nach der Ermordung Jitzhak Rabins durch einen fanatischen israelischen Siedler 1995 aber kam 1996 Benjamin Netanjahu an die Macht. Der rechte Likud-Chef hatte den Friedensprozess abgelehnt. Über die folgenden 25 Jahre, in denen er immer wieder an die Macht kam, leistete Netanjahu dem Friedensprozess bloß Lippenbekenntnisse. Seit 2009 ist er Israels Regierungschef. Nennenswerte Verhandlungen mit den Palästinensern gibt es seit Jahren nicht mehr.

Die Ambivalenz in der israelischen Gesellschaft gegenüber den Friedenschancen mit den Palästinensern war schnell wieder in Ablehnung gekippt, nachdem islamistische Gruppen ab 1994 mit Anschlägen auf israelische Busse, Kaffeehäuser und Nachtclubs Terror verbreiteten. Die Zweite Intifada, die nach dem Zusammenbruch der Friedensgespräche in Camp David zur Jahrtausendwende ausbrach, gab dem Friedensprozess den Rest.

Dabei sind die Positionen, mit denen eine Zwei-Staaten-Lösung möglich sein könnte, längst geklärt. Es gibt diverse Konzepte für Grenzverschiebungen, um die jüdische Mehrheit in Israel zu schützen; zudem Pläne für Jerusalem, das sowohl Arabern wie Juden heilig ist. Der Zugang zu den heiligen Stätten sollte demnach immer für alle garantiert werden. Genau daran aber entzündete sich jetzt wieder die Glut des Nahostkonfliktes. Am Jerusalem-Tag, an dem Israelis die Eroberung der Altstadt 1967 feiern, stürmte die israelische Polizei das Plateau vor dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee. Dort hatten Palästinenser angeblich Steine versteckt, um sich gegen jüdische Fanatiker zu wehren. Denen aber war der Zugang nicht erlaubt worden.

Es hätte friedlich bleiben können. Aber jede Seite weiß, wie man die Chance auf Ruhe und Frieden sabotiert. Denn auf beiden Seiten gibt es Akteure, die keine Aussöhnung wollen. Ein Ende des Konflikts bedeutet auch das Ende eines Wunsches, der sich auf beiden Seiten im Hinterkopf vieler gehalten hat: doch noch das ganze Land für sich allein zu bekommen.

3. Von Erschöpfung keine Spur

Seit 1948 leben die Israelis im Ausnahmezustand. Rund 700.000 Palästinenser wurden damals vertrieben, seit 1967 leben viele von ihnen im Westjordanland unter israelischer Besatzung. Doch obwohl es breite Teile der Bevölkerung gibt, die sich nichts sehnlicher wünschen, als in Ruhe gelassen zu werden, heizt sich der Konflikt immer weiter auf. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer, der ins Auge sticht, ist die vertrackte Verbindung zwischen religiösem Eifer und territorialen Ansprüchen.

Es ist zwar unter islamischen Gelehrten umstritten, ob Selbstmordattentate mit einem Platz im Paradies belohnt werden. Hamas-Gründer Scheich Achmed Jassin war fest davon überzeugt, andere wie der Grußmufti von Saudi-Arabien halten Selbstmordattentate für unislamisch. Ob 72 Jungfrauen im Paradies auf Märtyrer warten, ist ebenfalls nicht eindeutig geklärt. Die Zahl 72 kommt im Koran nicht vor. Manche Koranexperten übersetzen das aramäische "Huris" nicht mit Jungfrauen, sondern mit weißen Trauben. Ob nun falsch oder richtig übersetzt und interpretiert: Selbstmordattentate von palästinensischen Männern und Frauen spielen seit den 1990er-Jahren eine tragische Rolle im Nahostkonflikt. Da Jerusalem nach Mekka und Medina der drittwichtigste Ort des Islam ist, bleibt die heilige Stadt ein politischer Zankapfel.

Religiöser Extremismus ist auch den Juden in Israel nicht fremd. Zum Leidwesen des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet geht die israelische Regierung nicht strikt genug gegen die eigenen gewaltbereiten Fanatiker vor. Seit der Ermordung von Jitzhak Rabin durch einen israelischen Siedler 1995 ist die Bewegung an Mitgliedern, aber auch an Macht gewachsen. Heute sitzen sieben Vertreter der rechtsextremen Siedlerbewegung im Parlament.

Der Abgeordnete Itamar Ben Gvir, Parteichef der "Religiösen Zionisten", eröffnete vergangene Woche im arabischen Bezirk Sheikh Jarrah in Ostjerusalem ein "parlamentarisches Büro" - ein demonstrativer Akt der Unterstützung für Siedler, die palästinensische Familien aus diesem arabischen Bezirk vertreiben wollen. Wer beweisen kann, dass ein Haus vor 1948 einen jüdischen Besitzer hatte, kann es laut einem israelischen Gesetz zurückverlangen. Für Palästinenser gilt dies umgekehrt für verlorenen Besitz in Israel nicht. Bei Protesten in Sheikh Jarrah stand Ben Gvir neben dem stellvertretenden Bürgermeister von Jerusalem, Arieh King, als dieser einem palästinensischen Aktivisten zurief: "Schade, dass dich die Kugel nicht in die Stirn getroffen hat."

4. Siedlungen sind Kriegsverbrechen

Die letzte große kriegerische Auseinandersetzung von 2014, bei der die israelische Regierung die Hamas-Strukturen in Gaza zu zerschlagen versuchte, begann nach der Entführung und Ermordung von drei israelischen Religionsschülern vor einer israelischen Siedlung in der Westbank. Die Hamas hatte sich zu der Tat bekannt. Am Ende der Militäraktion waren nach sieben Wochen mehr als 2000 Palästinenser getötet worden, darunter viele Zivilisten. Israel beklagte 64 tote Soldaten.

"Israel begeht Kriegsverbrechen in Gaza", erklärte der palästinensische Premierminister Mohammad Schtajjeh jetzt wieder in einem Fernsehinterview. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag untersucht derzeit die Vorfälle des letzten Krieges von 2014.

Er klagt nicht nur die israelische Regierung an, Kriegsverbrechen zu begehen. "Begründeten Verdacht für Verbrechen", hieß es in einer Anklageschrift im März 2021, gebe es bei "Mitgliedern der israelischen Armee, der Hamas und palästinensischen, bewaffneten Gruppen." Auch Amnesty International wirft beiden Seiten Kriegsverbrechen vor.

Die israelische Regierung lehnt jede Zuständigkeit des Strafgerichtshofes ab. Dieser hat sich freilich für die seit 1967 besetzten Palästinensergebiete Gaza, Westbank und Ostjerusalem für zuständig erklärt. Israel hat Ostjerusalem annektiert, was aber international nicht anerkannt ist.

Zu der ohnehin verwirrenden Gesetzeslage kommt noch eines hinzu: Auch die israelischen Siedlungen sind laut dem Internationalen Strafgerichtshof nicht einfach Landschaftsverbauung. Seit den Anfängen der israelischen Siedlerbewegung nach der Besetzung des Westjordanlandes 1967 sind die Dörfer der Siedler zu Städten herangewachsen. Neben 2,7 Millionen Palästinensern leben im Westjordanland und Ostjerusalem auch etwa 600.000 israelische Siedler.

Im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes wird eine "unmittelbare oder mittelbare Überführung eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung durch die Besatzungsmacht in das von ihr besetzte Gebiet" als Kriegsverbrechen bezeichnet. Israel ist deshalb dem Römischen Statut nicht beigetreten.

5. Keine Hilfe von außen

Angesichts der Videos von verängstigten israelischen und palästinensischen Zivilisten meldeten sich in den vergangenen Tagen Staatsoberhäupter aus allen Teilen der Welt und riefen israelische Regierung und Hamasführung zur Mäßigung auf. Bisher ohne Erfolg.

Die USA halten sich noch mit einem Vermittlungsversuch zurück. Unter Bill Clinton setzten sich die Amerikaner in den 1990er-Jahren für einen friedlichen Ausgleich ein. Donald Trump stand dagegen eher für proisraelische Provokationen wie die Umsiedlung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Joe Biden zeigt vorerst keine Lust, sich die Finger zu verbrennen, und gestand Israel erst einmal "das Recht auf Selbstverteidigung" zu. Alle anderen internationalen Vermittler wie die EU oder die Vereinten Nationen sind bei der israelischen Regierung schon lange nicht mehr gern gesehen. Israel lässt keine internationalen Friedenstruppen auf israelischem Boden zu.

6. Friede jetzt?

"Schalom Arschaw" ("Friede jetzt"), die linke israelische Friedensinitiative, hat seit den 1990er-Jahren immer mehr an Kraft verloren. Viele Ideen für eine friedliche Beilegung des Konfliktes wurden entwickelt und geprüft. Der Realität des Nahostkonflikts hat noch keine einzige standgehalten. Wer sich als Friedensmacher versucht hat, wurde wie Jitzhak Rabin umgebracht oder wie Schimon Peres abgewählt.

Die Kriegstreiber dagegen profitieren von jeder Eskalation. Vor einer Woche hofften Benjamin Netanjahus Gegner noch, ihn mit einer neuen Koalition abzulösen, die von israelisch-arabischen Parteien unterstützt werden sollte. Denn nicht nur die rechtsextreme Siedlerbewegung in Israel ist stärker geworden. Auch die Beteiligung der palästinensischen Israelis am politischen Prozess ist gewachsen. Es gibt seit den Wahlen im März 14 arabische Abgeordnete in der Knesset.

Die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung der israelischen Araber schwindet allerdings, je länger die Pogromstimmung auf israelischen Straßen anhält. Die "Vereinte Arabische Liste" hat Koalitionsverhandlungen eingefroren. Der Parteichef von "Jamina" ("Rechts"), Naftali Bennett, hat bereits angekündigt, doch lieber mit dem bisherigen Premierminister Netanjahu zu verhandeln.

Dieser könnte als "Hüter der Mauern" aus der jüngsten "Operation" hervorgehen - und trotz Gerichtsprozessen wegen Korruptionsvorwürfen weiter Regierungschef bleiben. Die Hamas-Führung wird ebenfalls einen Propagandasieg als Verteidiger Jerusalems für sich verbuchen wollen. "Friede jetzt" war gestern. Heute stehen die Zeichen in Israel und den Palästinensergebieten auf Krieg.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz