Ivan Krastev: Putin ist wütend und will die Ukraine bestrafen
Interview: Tessa Szyszkowitz
profil: Russland hat die Krim praktisch besetzt. Gibt es überhaupt noch Chancen, dass Präsident Wladimir Putin seine Truppen sich wieder zurückzieht?
Ivan Krastev: Der russische Präsident zeigt dem Westen jetzt, dass er politische Isolation nicht fürchtet. Im Gegenteil, er lädt geradezu dazu ein. Das ist ein entscheidender Moment. Die russische Führung kümmert sich nicht mehr um einen Konsens mit dem Westen, sie zeigt offen, was sie von europäische Werten wie der Macht des Volkes hält: nichts. Vor ein paar Tagen noch schien es so unwahrscheinlich, dass der Kreml Truppen schicken wurde Russland hat ja soundso einen so starken Einfluss auf das Nachbarland durch die Gaspreise, von denen die Ukraine ökonomisch abhängig ist. Jetzt riskiert Russland, dass die Krim zwar russisch wird, dafür aber die anti-russischen Gefühle in großen Teilen der Ukraine anschwellen.
profil: Es wirkt so absurd, dass Putin erst 50 Milliarden Dollar für die PR-Veranstaltung Sotschi ausgibt und eine Woche später zerstört er alles, indem er Truppen auf die Krim schickt. Ist ihm egal, wie das wirkt?
Krastev: Russlands Präsident Putin ist wütend und er will die Ukraine bestrafen. Und er möchte gerne vertuschen, dass er die Lage in der Ukraine mehrfach völlig falsch eingeschätzt hat. Er hat alle seine Eier in Viktor Janukowitschs Korbs gelegt. Der ist aber jetzt weg. Putin hat ihm gesagt, er soll mit den Protesten umgehen, wie er es selbst in Moskau vor zwei Jahren gemacht hat. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Russlands Politik gegenüber der Ukraine ist daher jetzt auf eines reduziert: Die Übergangsregierung zu stürzen.
profil: Und dann was?
Krastev: Nach der Orangen Revolution von 2004 hatte die russische Führung begriffen, dass sie sich zu sehr auf die alten sowjetischen Seilschaften verlassen hatte. Die Sowjets waren verhasst. Zuerst hat der Kreml daraus gelernt und versucht, die Kontakte zu verbreitern. Nicht nur pro-russische Parteien zu unterstützen, sondern Parteien, die für einen pro-russischen Konsens in der Ukraine eintraten. Kaum war Janukowitsch wieder an der Macht, verengte sich der Fokus auf ihn. Am Schluss war er von Oligarchen kontrolliert, vor allem Rinat Achmetov. Jetzt wird Russland eine pro-russische Partei finden müssen, die nicht von Oligarchen kontrolliert wird und die eine gewisse Glaubwürdigkeit besitzt. Das ist nicht so leicht. Julia Timoschenkos Entlassung ja wohl mit den Russen abgesprochen. Aber das ist und bleibt das Problem der Russen: Sie sind stark genug, um in der Ukraine im Geschäft zu bleiben. Aber sie sind zu schwach, die Ukraine in die geplante Eurasische Union zu lotsen.
profil: Was wird Russland jetzt als nächstes tun?
Krastev: Russland wird wohl die Wahlen im Mai boykottieren. Schließlich hieß es in dem Abkommen zwischen Opposition und Janukowitsch in der Vorwoche, dass es Präsidentschaftswahlen im Dezember geben soll. Russland könnte argumentieren, dass vorgezogene Wahlen im Mai nicht gesetzeskonform sind. Doch jetzt eskaliert die Lage so schnell, selbst der an sich als besonnen geltende Premierminister Dmitri Medwedew schwingt radikale Reden. Ich denke, das soll signalisieren, dass selbst die moderaten Kräfte beim Thema Ukraine keinen Spaß verstehen.
profil: Was soll die EU tun? Mitgliedschaft anbieten?
Krastev: Das wird nicht so leicht gehen. Wenn man die Ukraine in die EU holt, dann muss man für das Land in den nächsten fünf bis zehn Jahren viel Geld zahlen. Das wird die Griechen, Italiener und Spanier gar nicht freuen. Die Kluft zwischen Nord und Süd in der EU ist in der Frage der Osterweiterung extrem tief. Ein EU-Beitritt der Ukraine wäre also sowohl finanziell als auch politisch sehr belastend für die EU und für Russland eine erneute Demütigung.
profil: Sollte die momentane Übergangsregierung zusammenbrechen, könnte dann Vitali Klitschko zum Zug kommen?
Krastev: Sein Vorteil ist, dass er als unverbraucht und nicht korrupt gilt. Aber vielleicht ist Klitschko nicht der große Politiker. Es muss jetzt jedenfalls ein Präsident mit frischem Gesicht her. Bisher war die Korruption der Kitt der ukrainischen Führung. Man hielt sich gegenseitig an der Macht. In den letzten zwanzig Jahren hat sich zwar die ukrainische Identität gefestigt. Doch was passiert, wenn die korrupte Elite jetzt verjagt wird? Neue Politiker könnten auftauchen, die weniger korrupt sind aber sehr viel nationalistischer oder separatistischer. Das ist die Gefahr.
profil: Flirten die Westukrainer mit dem polnischen Nachbarn?
Krastev: Zum ersten Mal haben die Leute in Lwiw (westukrainischer Verwaltungsbezirk mit der gleichnamigen Hauptstadt, früher Lemberg, Anm.) das Gefühl, dass sie gewonnen haben. Kiew ist jetzt Lwiw näher als Donetsk im Osten. Doch auch die Westukrainer wollen das Land keineswegs spalten, sie wollen nur erreichen, dass die Ukraine pro-europäischer wird. Polen spielt derzeit eine gute, pragmatische Rolle. Außenminister Radek Sikorski weiß genau, wie wichtig eine ökonomisch stabile Ukraine ist.
profil: Zur Zeit ist die Gefahr größer, dass der Osten nach Russland wegbricht, oder?
Krastev: Die Pro-Russen im Osten wollen nicht Teil Russlands werden nicht einmal jene 25% der ukrainischen Bevölkerung, die vorwiegend russisches Fernsehen sehen und damit heftiger Propaganda ausgesetzt sind: Dort ist ja ständig von der Bedrohung durch die Neonazis die Rede. Das macht den Leuten im Osten Angst. Aber: Sie wollen weder Annexion noch eine Teilung des Landes. Die meisten fordern nur, dass der russische Einfluss sprachlich, kulturell und ökonomisch erhalten bleibt.
Zur Person
Ivan Krastev, 49, ist einer der führenden politischen Experten für Osteuropa und Russland. Der aus Bulgarien stammende Politologe wurde vergangenes Jahr vom angesehenen britischen Prospect Magazine in die Liste der World Thinkers 2013 aufgenommen gemeinsam mit Größen wie dem Physiker Peter Higgs, dem EZB-Chef Mario Draghi und dem chinesischen Dissidenten-Künstler Ai Weiwei. Krastev leitet das Center for Liberal Strategies in Sofia und forscht am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Seine bekanntesten Bücher sind In Mistrust We Trust: Can Democracy Survive When We Dont Trust Our Leaders (2013), The Anti-American Century (2007, mit Alan McPherson) und Shifting Obsessions: Three Essays on the Politics of Anticorruption (2004). Zur Zeit bereitet er ein E-Book über die jüngsten Protestbewegungen in Russland, der Türkei und andernorts vor. profil erreichte ihn auf Vortragsreise in New York.