"Eine neue, gefährliche Welt“
profil: Donald Trump ist US-Präsidentschaftskandidat, Großbritannien tritt aus der EU aus, der Westen wird von dschihadistischem Terror gepeinigt, die Türkei schafft die Demokratie ab. Ist die Welt verrückt geworden? Ivan Krastev: Das weiß ich nicht. Aber wir stehen an einem Wendepunkt. Wir erleben die Auflösung der liberalen Weltordnung, die sich nach 1989 herausgebildet hat. Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle, die miteinander verbunden sind. Wir sehen das Schwinden des Einflusses des Westens auf das internationale System. China und Russland gewinnen an Macht, aber auch in unserer Nachbarschaft entwickeln sich Staaten auf eine Weise, die wir nicht mehr kontrollieren können. Gleichzeitig findet ein bedeutender Stimmungswandel statt. Die positive Einstellung, die noch vor zehn Jahren gegenüber der Globalisierung - Freihandel, freier Verkehr von Personen, Kapital und Ideen - herrschte, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Es ist ein enormer Backlash gegen die Globalisierung im Gange. Donald Trump ist ein gutes Beispiel für einen Proponenten der Anti-Globalisierungsbewegung. Ähnliche Tendenzen sehen wir auch in Europa, bei der Rechten und bei der Linken. Das bedeutet: Der Westen verliert nicht nur Macht, sondern das Fundament der liberalen Weltordnung wird angezweifelt.
profil: Woher kommt dieser Umschwung? Krastev: Eben noch hielten sich die USA und Europa für die größten Gewinner der Globalisierung. Alle wichtigen Ideologien des Westens beruhten auf der Annahme, dass die gegenseitige Abhängigkeit der Staaten voneinander die wichtigste Quelle für Stabilität sei. Man war überzeugt, je mehr Handel wir treiben und je mehr wir miteinander reden und zu tun haben, umso sicherer ist die Welt. Jetzt glauben mehr und mehr Menschen das nicht mehr. Die gegenseitige Abhängigkeit wird von vielen als Quelle der Verunsicherung wahrgenommen. Man kann das daran ablesen, wie Grenzen interpretiert werden. Grenzen kannten wir als Touristen, und je weniger es davon gab, umso besser. Jetzt empfinden viele Menschen die fehlenden Grenzen als Unsicherheitsfaktor. Insgesamt herrscht das Gefühl vor, dass die alte, sichere Welt verschwunden ist und eine neue, gefährlichere an ihre Stelle getreten ist.
Nicht nur wirtschaftlich sieht sich sich der Westen mittlerweile als Verlierer.
profil: Tatsächlich hat die Globalisierung zumindest wirtschaftlich den Schwellenländern mehr genützt als den Industriestaaten. Krastev: Nicht nur wirtschaftlich sieht sich sich der Westen mittlerweile als Verlierer. Ein Beispiel: Vor zehn Jahren galt es als eines der wichtigsten Symbole für den Erfolg der Globalisierung, dass die englische Sprache sich so stark verbreitete. Jeder lernte Englisch, und so beeinflussten die USA sehr erfolgreich die globale Debatte. Jetzt erkennt der Westen die Kehrseite der Medaille: Die Amerikaner haben selbst keine anderen Sprachen gelernt und lernen auch keine. Die anderen kennen unser System, wir aber ihres nicht. So wird etwas, das als Zeichen der Dominanz des Westens gesehen wurde, plötzlich als Quelle der Verwundbarkeit empfunden.
profil: Durch die Bevölkerung scheint ein Bruch zu gehen. Auf der einen Seite stehen jene, die eine offene Gesellschaft wollen, auf der anderen die Verteter einer geschlossenen. Krastev: Es gibt eine Kluft zwischen Menschen, die internationale Kooperation gutheißen und die Globalisierung im Prinzip richtig finden, und anderen, die meinen, nur ökonomischer, kultureller und politischer Protektionismus könne uns retten. Diese Kluft konnte man in der zweiten Runde der österreichischen Bundespräsidentenwahl ebenso sehen wie beim Brexit-Referendum in Großbritannien. Der Graben verläuft meist zwischen Metropolen und dem ländlichen Raum, zwischen den Generationen, zwischen Leuten mit unterschiedlichem Einkommens- und Bildungsniveau. Das geht so weit, dass auch der soziale Zusammenhalt, den wir lange als ungefährdet betrachtet haben, jetzt fragil ist.
profil: Ist das Nationalismus, der wiederkehrt? Krastev: Nicht der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Es handelt sich vielmehr um ein Ansteigen der Bedeutung von ethnischer und religiöser Identität. Der alte Nationalismus bezog sich auf den Staat, heute geht es um ursprünglichere Formen von Loyalität - religiöse Loyalität etwa, die im Nahen Osten sehr stark ist. Wo die Kolonialstaaten zusammengebrochen sind, orientieren sich die Menschen an konfessionellen Identitäten wie der Zugehörigkeit zur Schia oder der Sunna.
profil: Besteht zwischen diesen Identitätsfragen im Nahen Osten und der Identitätspolitik eines Donald Trump ein Zusammenhang? Krastev: In dieser Hinsicht folgt Trump demselben Trend. Er ist das Sprachrohr einer Mehrheit, der weißen Amerikaner, die fürchten, dass ihre Dominanz im politischen System bedroht ist - nicht ganz zu Unrecht. Studien belegen den Niedergang der weißen Unterschicht in den USA. In den vergangenen zehn Jahren mussten sie ein Absacken ihres Lebensstandards hinnehmen. Sie sterben früher, sind stärker von Alkohol und Drogen betroffen. Dieser Typ des weißen Amerikaners wird von Trump mit seinen xenophoben Aussprüchen erreicht.
Eine der bedeutendsten politischen Entwicklungen ist der Wechsel der Arbeiter von den sozialdemokratischen Parteien zu weit rechts stehenden Parteien.
profil: Europa bleibt von diesem Phänomen auch nicht verschont. Krastev: Nein. Eine der bedeutendsten politischen Entwicklungen ist der Wechsel der Arbeiter von den sozialdemokratischen Parteien zu weit rechts stehenden Parteien. Österreichische Arbeiter wählen den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer, französische Arbeiter den Front National, und auch die Brexit-Bewegung stützte sich zum Teil auf das Milieu der Arbeiter. Sie waren einst in einer marxistischen, internationalistischen Bewegung verankert, das ist vorbei. Kultureller und ökonomischer Protektionismus gehen heute Hand in Hand.
profil: Wie ist es mit dem Generationenunterschied? Sind nicht jüngere Bürger offener und pro-europäischer? Auch der Arabische Frühling war eine Revolution der Jungen. Ist das nicht eine Entwicklung, die optimistisch stimmen könnte? Krastev: Es gibt so etwas wie eine Generationen-Identität, aber man sollte nicht generalisieren. Wenn es um gesellschaftspolitische Fragen wie die Homo-Ehe geht, macht das Alter zum Beispiel einen erheblichen Unterschied. Beim Thema Immigration auf der anderen Seite ist das nicht so. In Zentral- und Osteuropa wiederum ist die jüngere Generation nicht notwendigerweise offener eingestellt als die ältere. In Polen haben 60 Prozent der unter 35-Jährigen die katholisch-konservative PiS-Partei von Jaroslaw Kaczynski gewählt oder Parteien, die noch weiter rechts stehen. In Ungarn genießt die rechtsextreme Jobbik-Partei die Unterstützung vieler junger Leute. Generell neigen die Jungen aber stark zu Anti-Establishment-Parteien. Sie haben das Gefühl, dass der Status quo ihr Feind ist.
Ich glaube, dass wir die Kluft zwischen Alt und Jung in diesem Sinne am deutlichsten erleben werden.
profil: Was auch nicht ganz falsch ist. Krastev: Stimmt. In Ländern wie Spanien und Griechenland etwa wurden die Jungen besonders hart von der Wirtschaftskrise getroffen, die Jugendarbeitslosigkeit ist enorm. Ich glaube, dass wir die Kluft zwischen Alt und Jung in diesem Sinne am deutlichsten erleben werden. In Europa dominieren die Alten die Wahlen. In den USA wiederum kam es zuletzt zu einer interessanten Koalition von jungen Wählern und alten Linken rund um den demokratischen Kandidaten Bernie Sanders.
profil: Eigentlich dachten wir in Europa ja, dass wir mit der EU ein System etabliert hätten, in dem geschlossene Gesellschaften, Identitätspolitik und streng bewachte Staatsgrenzen nicht länger attraktiv sind. War das ein Irrtum? Krastev: Ich glaube nicht, dass es ein Irrtum war. Aber wir haben die Institutionen überstrapaziert und die Rolle der Erfahrungen unterschätzt. In Europa lebt heute eine Generation, die keine dunklen Erlebnisse mit Nationalismus gemacht hat und die auf der Suche nach einer Identität ist. Für sie ist der Zweite Weltkrieg ferne Vergangenheit, auch wenn der Zusammenbruch der gewalttätigen, nationalistischen Regime die wichtigste Erfahrung des 20. Jahrhunderts im Westen war. So wurde die europäische Demokratie geboren. Zentral- und Osteuropa hingegen haben in dieser Hinsicht gänzlich andere Erfahrungen gemacht. Sie lebten lange unter kommunistischen Regimen, die selbst stark gegen Nationalismus waren und wenigstens rhetorisch Internationalismus pflegten. So bedeutete das Revolutionsjahr 1968 im Westen für viele die Identifikation mit der nicht-westlichen Welt, im Osten aber war 1968 eine Zeit des nationalen Erwachens. In Polen, in der Tschechoslowakei rebellierte man gegen die dominante Sowjetunion. Diese unterschiedlichen Erfahrungen zwischen West und Ost konnte man sehr deutlich bei den anfänglichen Reaktionen auf die Flüchtlingskrise spüren, wo sich der Osten sehr nationalistisch zeigte.
Es ist paradox, aber die Integration steigerte die Attraktivität der nationalen Identitäten sogar noch.
profil: Sollte nicht die EU-Integration diese Nationalismen überwinden? Krastev: Es ist paradox, aber die Integration steigerte die Attraktivität der nationalen Identitäten sogar noch. Das Ziel ist ja, die politische Entscheidungsfindung mehr und mehr aus der nationalen Politik herauszunehmen und an die Ebene der europäischen Institutionen zu delegieren. Die Höhe des Budgetdefizits etwa ist zur EU-Angelegenheit geworden. Aber wenn nationale Parteien nicht mehr in einen Wettbewerb um die bessere Wirtschaftspolitik treten können, weil die EU darüber entscheidet, müssen sie auf einer anderen Ebene um Wähler kämpfen. Das kann Geschlechterpolitik sein oder eben auch nationalistische Politik. Außerdem hatte die Personenfreiheit in der EU einen Effekt: Es gab Leute, die sich bewegten, und Leute, die sich nicht bewegten. Dazu liegen biologische Studien vor: Wenn wir etwas sehen, das sich bewegt, und etwas, das sich nicht bewegt, bemerken wir das, was sich bewegt. Seit Jahrzehnten bemerken wir nur die Veränderungen, aber wir ließen außer Acht, dass an vielen Orten die Mehrheit immobil blieb. In manchen Gegenden in Südeuropa leben, arbeiten und sterben die meisten Leute an dem Ort, an dem sie auch geboren wurden.
profil: Auch die Türkeipolitik erweist sich jetzt als Fiasko. Eine Zeit lang sah es so aus, als könnte dieses große, muslimische Land Teil der EU werden - oder wenigstens enger Partner. Im Moment deutet die Stimmung eher auf einen Kampf der Kulturen hin: islamistische Diktatur versus europäischer Rechtsstaat. Krastev: Der Westen geht seit 1989 von einer Annahme aus, die radikal falsch ist: Um eine ideale Welt zu erreichen, bräuchten wir überall westliche Institutionen, beginnend mit demokratischen Wahlen. So kämen notwendigerweise westlich gesinnte Regierungen an die Macht, die mit uns alliiert sind. Das Beispiel Türkei zeigt aber, dass die Ermächtigung durch den Wähler auch zu einer Revolte gegen den Westen und den Liberalismus führen kann. Der jahrelange Prozess der Demokratisierung hat am Ende die islamistische AKP nach oben gebracht, die jetzt unter Erdogan ein illiberales Regime installiert.
Vieles, was wir erleben, geht auf das Verschwinden der Dominanz der USA zurück.
profil: Aber Recep Tayyip Erdogan begann doch vor mehr als einem Jahrzehnt als pro-europäischer Regierungschef. Krastev: Es war so lange ein pro-europäischer, demokratischer Regierungschef, bis er das Ziel erreicht hatte, die Armee loszuwerden. Lange Zeit gab es eine Balance zwischen Armee und Regierung. Sowohl die Armee als auch die Islamisten betrachteten den Westen als ihren Verbündeten. Die Regierung sah das so, weil der Westen demokratisch ist und die AKP die Mehrheit stellt. Die Armee wähnte sich mit dem Westen in einem Boot, weil dieser säkular eingestellt ist. Doch im Jahr 2013 sah Erdogan, wie die westlichen Medien auf die Proteste um den Gezi-Park reagierten, und er begann, den Westen als Bedrohung seiner Macht zu empfinden. Als sich dann die USA weigerten, in Syrien zu intervenieren, betrachtete Erdogan den Westen nicht mehr als Verbündeten. Das Resultat war, dass er für die Türkei eine neue Identität formte, eine islamische Identität. Das Modell eines moderaten, liberalen islamischen Regimes verschwand nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings, und die Türkei bewegt sich seither tendenziell in Richtung des Iran.
profil: Die Welt präsentiert sich ziemlich chaotisch. Gibt es am Ende eine Lehre? Krastev: Vieles, was wir erleben, geht auf das Verschwinden der Dominanz der USA zurück. Wir beginnen zu begreifen, dass Trends, die wir für unumkehrbar hielten, umgekehrt wurden. Wir dachten, Grenzen könnten nicht mehr verändert werden. Jetzt sehen wir, dass sie nicht unumstößlich sind, etwa in der Ukraine oder im Nahen Osten - und wir entdecken, dass sie wichtig sind, dass sie Verschiedenes bedeuten und wie man sie verteidigen kann. Und das alles, nachdem die EU jahrzehntelang sagte: "Fragt nicht nach unseren Grenzen. Wir haben keine traditionellen Staatsgrenzen mehr.“ Jetzt werden sie wieder zur realen Frage.
Ivan Krastev, 50 ist Vorsitzender des Center for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow des Institutes für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Krastev publiziert regelmäßig Analysen in der "New York Times“. In seinem jüngsten Buch "Democracy Disrupted“ beleuchtet er die Protestbewegungen nach der Finanzkrise von 2008.