Japans Ex-Regierungschef Abe nach Attentat gestorben
Japans ehemaliger Ministerpräsident Shinzo Abe ist am Freitag während einer Wahlkampfrede in Nara Opfer eines Attentats geworden. Der 67-Jährige starb im Krankenhaus infolge seiner Verletzungen. Abe sei verblutet, sagte ein Arzt des Universitätskrankenhauses Nara. Zuvor hatte Ministerpräsident Fumio Kishida den Anschlag auf schärfste verurteilt. Die Hintergründe des Attentats sind noch nicht ganz klar. Weltweit reagierten Politiker erschüttert.
Der Angriff auf Abe während des Wahlkampfs für die Wahlen zum Oberhaus am Sonntag sei ein inakzeptabler Angriff auf das Fundament der japanischen Demokratie, sagte der sichtlich bewegte Politiker vor Journalisten. Ihm sei kein Motiv für den "absolut unverzeihlichen" Angriff bekannt.
Tatverdächtig ist ein 41 Jahre alter Japaner, der noch am Tatort festgenommen wurde. Medienberichten zufolge feuerte der Mann zweimal mit einer selbst gebauten Schusswaffe auf den früheren Regierungschef, der vor einem Bahnhof eine Wahlkampfrede hielt. Der rechtskonservative Politiker brach daraufhin zusammen, blutete in der linken Brust und am Hals.
Auf Videoaufnahmen von Reportern sind die beiden Schüsse zu hören. Am Tatort spielten sich dramatische Szenen ab. Helfer führten an dem auf der Straße liegenden Abe erste Herzmassagen durch, bevor er in ein Krankenhaus gebracht wurde. Auf dem Weg ins Krankenhaus soll der Politiker bei Bewusstsein gewesen sein.
Bei dem Attentäter soll es sich um ein früheres Mitglied der Selbstverteidigungsstreitkräfte Japans handeln, hieß es. Er sei "unzufrieden" mit Abe und habe ihn "töten" wollen, wurde der Mann nach seiner Festnahme vom Fernsehsender NHK zitiert. Laut anderen Berichten sagte er, er habe "keinen Groll gegen Abes politische Überzeugungen".
Abe regierte Japan von Dezember 2012 bis September 2020, er war damit der am längsten amtierende Premier des Landes. Unter ihm rückte Japan nach Meinung von Kritikern deutlich nach rechts. Der 67-Jährige gehörte zu den entschiedenen Verfechtern einer Revision der pazifistischen Nachkriegsverfassung des Landes. Im Artikel 9 der Verfassung verzichtet Japan "für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten".
Der Anschlag in einem der sichersten Länder der Welt, das über äußerst scharfe Waffengesetze verfügt, schockierte nicht nur die Menschen in Japan. "Gewalt gegen politische Aktivitäten ist absolut inakzeptabel", sagte ein Vertreter der Kommunistischen Partei Japans, für die Abes nationalistische Politik immer ein rotes Tuch war.
Weltweit reagierten Politiker erschüttert. "Auf der ganzen Welt trauern wir mit dem japanischen Volk um @AbeShinzo. Es ist ein trauriger Tag für die Menschen in Japan. Für alle Menschen, die für die Werte unserer Demokratie einstehen", twitterte Bundespräsident Alexander Van der Bellen am Freitag.
EU-Außenbeauftragter Josep Borrell bezeichnete sich in einer Stellungnahme als "entsetzt" von der "tragischen Nachricht" und verurteilte das Attentat ebenfalls "aufs Schärfste". Die Europäische Union verliere einen Freund, der dazu beigetragen habe, "die bilateralen Beziehungen in allen Bereichen zu vertiefen und zu stärken - eine wichtige Arbeit, die unter Ministerpräsident Kishida fortgesetzt wird". Die EU und Japan würden weiter "Seite an Seite" arbeiten.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete sich als "tieftraurig über die abscheuliche Ermordung von Shinzo Abe, einem Verteidiger der Demokratie und meinem langjährigen Freund und Kollegen". "Mein tiefstes Beileid an seine Familie und das Volk des NATO-Partnerlandes Japan in dieser schwierigen Zeit", twitterte der ehemalige norwegische Ministerpräsident.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigte sich nach dem tödlichen Attentat "fassungslos und tieftraurig". "Mein tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie, meinem Kollegen Fumio @kishida230 und unseren japanischen Freundinnen und Freunden. Wir stehen auch in diesen schweren Stunden eng an der Seite Japans", schrieb er auf Twitter.
Beim Treffen der G20-Außenminister auf Bali äußerte auch US-Außenminister Anthony Blinken tiefe Trauer und Besorgnis. "Unsere Gedanken, unsere Gebete sind mit ihm, mit seiner Familie, mit Japans Volk", sagte Blinken nach Angaben der "New York Times". Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen verurteilte den Anschlag. Abe sei nicht nur ihr guter Freund, sondern auch Taiwans stärkster Freund, der die demokratische Inselrepublik seit Jahren unterstützt habe, schrieb Tsai auf Facebook. Der ehemalige Regierungschef habe keine Mühen gescheut, um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu fördern.
Der scheidende britische Premierminister Boris Johnson würdigte Abes Führungsqualitäten. "An seine globale Führung durch beispiellose Zeiten werden sich noch viele erinnern. Meine Gedanken sind bei seiner Familie, seinen Freunden und dem japanischen Volk", teilte Johnson per Twitter mit. An die Menschen in Japan gerichtet, fügte er hinzu: "Das Vereinigte Königreich steht in dieser dunklen und traurigen Zeit an Ihrer Seite."
Israels Präsident Yitzhak Herzog reagierte schockiert auf den Tod von Abe. "Entsetzt über den abscheulichen Mord an Abe, einem der herausragendsten Führer Japans der Neuzeit", schrieb Herzog am Freitag auf Twitter. Israels Ministerpräsident Yair Lapid würdigte Abe als "Schlüsselarchitekt der modernen israelisch-japanischen Beziehungen" und drückte Abes Familie sowie dem japanischen Volk sein Beileid aus. Abe diente als "bedeutender Katalysator der florierenden Bande, die wir heute sehen", schrieb Gilad Cohen, Israels Botschafter in Japan, auf Twitter. Er sei "absolut schockiert" von den Nachrichten.
Auch die italienische Regierung kondolierte. "Italien ist über das schreckliche Attentat bestürzt, das Japan und die freie demokratische Debatte trifft", teilte der Amtssitz von Regierungschef Mario Draghi am Freitag mit. Abe sei ein großer Protagonist des politischen Lebens in Japan und der Welt gewesen.
Der Anschlag ereignete sich kurz vor Wahlen zum Oberhaus des Parlaments an diesem Sonntag. "Es ist ein Angriff auf die parlamentarische Demokratie und kann nicht toleriert werden", sagte der Präsident des Abgeordnetenhauses, Hiroyuki Hosoda. Auch nach seinem Rücktritt 2020 war Abe in der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) eine prägende Kraft und kontrollierte eine ihrer wichtigsten Fraktionen.
Kishida, Abes Schützling, hatte gehofft, die Wahl nutzen zu können, um aus Abes Schatten herauszutreten und sein Amt als Ministerpräsident zu definieren, erklärten Analysten. Kishida setzte seinen Wahlkampf aus und kehrte nach Tokio zurück. Die Regierung erklärte, es gebe keine Pläne, die Wahl zu verschieben.
Abe glaubte, dass Japans Verfassung nicht der einer unabhängigen Nation entspricht, weil sie 1946 von der Besatzungsmacht USA aufgezwungen worden sei. Es wird erwartet, dass seine Partei LDP bei den Oberhauswahlen einen haushohen Sieg erringen wird und danach die Debatte um eine Verfassungsänderung an Fahrt gewinnen könnte.
Wirtschaftlich wollte Abe mit seiner "Abenomics" getauften Wirtschaftspolitik aus billigem Geld, schuldenfinanzierten Konjunkturspritzen und dem Versprechen von Strukturreformen Japan aus der jahrzehntelangen Deflation und Stagnation führen. Zwar hat die Nummer Drei der Weltwirtschaft unter Abe zwischenzeitlich die längste Wachstumsphase seit Jahren erlebt. Zudem kurbelte er den Tourismus an, der vor der Corona-Pandemie viel Geld ins Land brachte. Gleichzeitig aber habe die "Abenomics" dazu geführt, dass die Gewinne in den vergangenen Jahren ungleich verteilt worden seien, beklagten Kritiker. Ein Drittel aller Beschäftigten ist ohne Festanstellung.