Interview

Juncker: „Die ÖVP darf nicht noch einmal mit der FPÖ koalieren“

Jean-Claude Juncker hält nichts von der Zusammenarbeit Konservativer mit Rechtspopulisten. Der ehemalige Chef der EU-Kommission über die Gefahren einer Anbiederung an Rechte, seine Kritik an der Regierung in Wien und nächtelange Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin.

Drucken

Schriftgröße

Gerade einmal vier Jahre ist es jetzt her, dass Jean-Claude Junckers Amtszeit als Präsident der Europäischen Kommission endete. Seine Jahre in Brüssel waren geprägt von Krisen, doch im Vergleich zur Zeitenwende, die der Angriffskrieg auf die Ukraine eingeläutet hat, wirken sie wie aus einer anderen Epoche.

Seit seiner Rückkehr in seine Heimat Luxemburg ist Juncker nicht mehr politisch aktiv. Ein „political animal“ bleibt der 68-Jährige aber allemal. Zuletzt rügte er etwa Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer für dessen Vorstoß, das Bargeld in der Verfassung zu verankern. Und auch im profil- Interview spart Juncker nicht mit Kritik an seinen konservativen Kollegen in Wien.

Der Luxemburger gehört zu jenen europäischen Konservativen, die davor warnen, die Argumente und Narrative der Rechten zu übernehmen. Den Rechtsruck in einigen EU-Mitgliedstaaten der vergangenen Jahre (siehe Grafik) beobachtet er mit Sorge.

Umfragen deuten darauf hin, dass rechte Parteien auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im kommenden Juni zulegen werden. Dass auch Brüssel nach rechts rückt, war lange nicht vorstellbar, immerhin verkörperte die EU das Gegenteil der nationalistischen Ideen von rechts. Die längste Zeit wollten Europas Rechtspopulisten die EU nicht mitgestalten, sondern sie verlassen. Das hat sich geändert. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Italien, aber auch die FPÖ in Österreich sprechen nicht mehr vom EU-Austritt, sondern wollen die Staatengemeinschaft sozusagen zurückzuentwickeln – Macht von Brüssel abziehen und wieder an die Nationalstaaten übertragen.

Europas Rechte sehen die EU als undemokratisches Machtzentrum, das den Ländern ihren Willen aufzwingt.

Um die EU ein Stück demokratischer zu gestalten, wurde 2014 das neue – und einigermaßen revolutionäre – System der Spitzenkandidaten eingeführt: Chef der EU-Kommission sollte der Spitzenkandidat der stimmenstärksten Fraktion im Europaparlament werden. Das hat 2014 tatsächlich funktioniert: Der ehemalige luxemburgische Premier Juncker, dessen EVP die Wahlen gewonnen hatte, wurde Kommissionspräsident, der zweitplatzierte Martin Schulz, ein deutscher Sozialdemokrat, Parlamentspräsident. Die Idee war, dem Volk die EU näherzubringen und das Parlament zu stärken.

Doch schon bei den nächsten Wahlen im Jahr 2019 sah es wieder anders aus. Kommissionspräsident wurde nicht EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber, sondern die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, auf die sich die Staats- und Regierungschefs geeinigt hatten. Wieder einmal waren es die klandestinen Verhandlungen der Vertreter der Nationalstaaten gewesen, die am Ende die Entscheidung brachten.

Jetzt wird von der Leyen wohl für eine zweite Amtszeit antreten. Sie wäre – nach Walter Hallstein, Jacques Delors und José Manuel Barroso – die vierte Kommissionschefin, die eine zweite Runde drehen darf.

Herr Juncker, Sie schreiben ein Buch über Ihre Zeit als Chef der EU-Kommission. Wie weit sind Sie damit gekommen?
Juncker
Es ist ein Tatsachenbericht über meine Jahre in Brüssel. Im Moment beschreibe ich meine Treffen mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Wladimir Putin und Donald Trump habe ich schon hinter mir. Ich schreibe das Buch allein, insofern ist das ein Selbstmordkommando!
Wer wird sich beim Lesen ärgern?
Juncker
Viktor Orbán. Die Briten kriegen auch ihr Fett ab. Würde ich über Luxemburg schreiben, gäbe es aber noch mehrere. Damit muss ich warten, bis der eine oder andere das Zeitliche gesegnet hat.
Sie äußern sich nach wie vor gern zu politischen Themen. Wie kommt das Veto Österreichs zum Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens bei Ihnen an?
Juncker
Schlecht. Ich setze mich seit Jahren für deren Beitritt ein, mir fehlt jegliches Verständnis für die Weigerung Wiens. Die technischen Voraussetzungen für den Beitritt zum Schengenraum sind erfüllt.
Wien argumentiert mit der angeblich hohen Zahl von Flüchtlingen, die über Rumänien nach Österreich gelangen. Rechnen Sie damit, dass das Veto vor den Nationalratswahlen in Österreich in einem Jahr aufgehoben wird?
Juncker
Ich kenne die wirklichen Beweggründe hinter den offiziell genannten nicht. Ich wünsche mir sehr, dass das Veto noch vor den Europawahlen aufgehoben wird. Man kann das den Bulgaren und Rumänen nicht erklären, denn alle anderen sind dafür, mittlerweile auch die Niederlande. Dieser Vogeltanz ist der Sache Europas nicht dienlich. Ich habe aber keinen Kontakt zu Bundeskanzler Karl Nehammer und weiß nicht, was sich hinter seinen Argumenten versteckt.
Kennen Sie ihn gut?
Juncker
Er ist ein guter Bekannter.

Meine wirkliche Sorge ist, dass im klassischen Parteienfeld immer mehr Politiker den Rechten nach dem Mund reden. Das ist die eigentliche Gefahr.

Bei den Europawahlen im kommenden Juni dürften die beiden großen Fraktionen, Sozialdemokraten und Konservative, weiter an Sitzen verlieren, rechte Parteien dazugewinnen. Droht ein Rechtsruck in Brüssel?
Juncker
Wenn ich die nationalen Wahlergebnisse und Regierungsbildungen, die es in einigen Ländern gegeben hat, auf Europa übertrage, wird es zu einer Stärkung der Rechten kommen. Ich mache mir da aber keine großen Sorgen. Es ist ein Auf und Ab, Wähler wandern in die rechte Ecke und kehren dann wieder zurück, das gibt es seit Langem. Meine wirkliche Sorge ist, dass im klassischen Parteienfeld immer mehr Politiker den Rechten nach dem Mund reden. Das ist die eigentliche Gefahr. Man darf den Rechten nicht nachlaufen, man muss sich ihnen in den Weg stellen, denn sonst sieht man sie nur von hinten – und dann sehen sie harmlos aus. Wenn man sie aber von vorn betrachtet, merkt man, dass sie kein Rückgrat haben.
Der Chef der europäischen Konservativen Manfred Weber reiste nach Italien, um Kontakte mit Giorgia Meloni zu knüpfen. Er strebt offenbar eine stärkere Zusammenarbeit an. Soll man die rechten Parteien integrieren, damit sie weniger gefährlich werden?
Juncker
Ich weiß nicht genau, was mein Freund Manfred Weber im Schilde führt. Ich denke, dass er an einer künftigen Koalition im Europaparlament arbeitet. Ich bin der strikten Auffassung, dass sich die Christdemokraten mit der Rechten nicht gemeinmachen dürfen. Es ist aber noch ein weiter Weg bis zu dem Punkt, den er offensichtlich anstrebt. Und es gibt in der EVP-Fraktion erhebliche Widerstände gegen diese Art, Mehrheiten zu organisieren. Ich bin sehr dagegen.
Die rechtsextreme ID-Fraktion könnte bei den Europawahlen 77 Sitze dazugewinnen, das liegt vor allem an der Alternative für Deutschland (AfD). Wie lange wird die Brandmauer in Deutschland noch halten?
Juncker
Ich kenne die CDU gut. Die vorherrschende Meinung ist, dass man sich nicht vorstellen kann, die Brandmauer aus wahltechnischen Gründen einzureißen. Ich würde der CDU auch raten, das nicht zu tun.
In Österreich gibt es schon lange keine Brandmauer mehr. Doch auch anderswo hoffen Konservative, dass rechte Parteien geschwächt werden, wenn sie deren Inhalte bis zu einem gewissen Grad übernehmen. Gleichzeitig sind die Rechten in der Regel weniger EU-skeptisch geworden, sie wollen keinen Austritt mehr, sondern mitgestalten. Liegt eine Zusammenarbeit da nicht auf der Hand?

In Österreich scheint sich die ÖVP nahtlos an die FPÖ anzuschließen.

Juncker
Die klassischen Europaparteien – Sozialisten, Liberale, Grüne zum großen Teil und Christdemokraten – müssen das Parlament funktionsfähig halten. Das ist aber kein Grund, sich mit Italiens Premierministerin Giorgia Meloni gemeinzumachen. Man muss die Genese ihrer Partei Fratelli d’Italia betrachten. Das passt nicht in mein Welt- und Menschenbild. Zwar verhält sich Meloni bisher vernünftiger als angenommen, doch das ist kein Grund, mit rechten und teils faschistisch angehauchten Parteien gemeinsame Sache zu machen. In Österreich scheint sich die ÖVP nahtlos an die FPÖ anzuschließen. Einige in der ÖVP tun, als ob gemeinsam mit der FPÖ etwas möglich wäre. Ich halte das für nicht wünschenswert.
Rund 300.000 Stimmen sind nach dem Ibiza-Skandal von der FPÖ zur ÖVP gewandert. In Österreich ist das Potenzial am rechten Rand groß. Wieso also sollte die ÖVP nicht zumindest rechts blinken, um diese Wähler zu halten?
Juncker
Ich bin der Auffassung, dass die ÖVP nicht noch einmal mit der FPÖ koalieren darf. Das passt nicht zusammen. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht mit den Sorgen der Menschen, die sich zur FPÖ hingezogen fühlen – Stichwort Flüchtlingskrise – beschäftigen soll. Aber sich mit Sorgen beschäftigen und den Standpunkt der Rechten übernehmen, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Man darf die Rechten nicht verharmlosen. Man sollte an Bewährtem festhalten, anstatt in die rechtsradikale Kiste zu greifen. Was man da rauszieht, taugt nicht zum Stoff, aus dem Politik gemacht werden kann.

In Sachen Europa ist Sebastian Kurz immer zu kurz gesprungen.

Wie kamen Sie eigentlich damals mit Bundeskanzler Sebastian Kurz zurecht?
Juncker
Ich habe mich redlich bemüht, ein gemeinsames Terrain freizuschaufeln. Das ging in der Regel gut, obwohl ich manchmal nach Wien reisen musste, um Kinkerlitzchen zu regeln. Bei der Schaffung der europäischen Arbeitsbehörde gab es erhebliche Widerstände aus Wien, die wurden aber langsam abgetragen. Es kam jedoch nie zu gemeinsamen Projekten mit Kurz darüber, wie die österreichische Regierung zusammen mit der Kommission bestimmte Dinge weiterbringen kann.
Sie haben ihn also nicht als großen Europäer erlebt?
Juncker
In Sachen Europa ist er immer zu kurz gesprungen.
Was Rechte fordern, ist an den EU-Außengrenzen zur Realität geworden. In Griechenland werden Menschen mit Gewalt zurückgedrängt, sogenannte Pushbacks finden auch in Ungarn und Kroatien statt. Müsste die EU-Kommission härter gegen diese Rechtsverstöße vorgehen?
Juncker
Ja, denn Pushbacks dürfen nicht zum gängigen Arsenal in der Flüchtlingspolitik werden. Ich beobachte die Pushbacks mit Sorge. Das birgt Gefahren, dennoch gehen fast alle – unabhängig von politischer Couleur – in diese Richtung. Das liegt daran, dass die Quotenaufteilung von Flüchtlingen in der EU, wie ich sie damals vorgeschlagen habe, nicht umgesetzt wurde, obwohl 2015 von den Innenministern mit qualifizierter Mehrheit beschlossen. Darauf müsste man zurückkommen, aber in der aktuellen Kommission gibt es keinen erkennbaren Willen, diese vernünftige Idee wieder aufzugreifen.
Es scheint, als sei die Idee aufgegeben worden.
Juncker
Ja, den Eindruck habe ich auch. Wir müssen als Mitgliedstaaten solidarisch handeln, vor allem in Hinblick auf Italien und Griechenland. Ein Quotensystem ist der beste Weg.
Laut der Quotenregelung müsste Italien sogar noch Flüchtlinge aufnehmen. Doch eine faire Verteilung aller Schutzsuchenden würde nichts daran ändern, dass sich Menschen auf die gefährliche Reise nach Europa machen.
Juncker
Ja, aber wenn sich herumspricht, dass man sich das Aufnahmeland nicht selbst aussuchen kann, würden mit der Zeit auch weniger Menschen kommen. Ich bin dafür, dass man Rückführungsabkommen trifft, aber das ist, wie man jetzt mit Tunesien sieht, nicht so einfach. Die Zahlen aus Tunesien nehmen sogar zu. Wer Geld von der EU bekommt, der muss auch dafür sorgen, dass der Flüchtlingsstrom nicht wächst.

Wenn ich mir vorstelle, dass die EU auf 33 oder 34 Mitgliedstaaten anwächst, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass wir am Einstimmigkeitsprinzip festhalten.

Müsste auch der EU-Türkei-Deal erneuert werden?
Juncker
Ja. Ich habe den damals ausgehandelt. In den Zeitungen steht noch immer, das wäre Angela Merkel gewesen. Ich weiß nicht, wo sie damals war in all den Nächten, in denen ich mit Staatspräsident Erdoğan verhandelt habe. Die Türkei hat ihre Verpflichtungen zu fast hundert Prozent eingehalten. Das zeigt: Deals machen auch mit Regimen Sinn, die uns nicht unbedingt passen.
In Polen versucht Ex-Ratspräsident Donald Tusk, ein Konservativer, die nationalistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von den Hebeln der Macht zu vertreiben. Aufgefallen ist sie durch den Abbau der Demokratie, Stichwort Justizumbau. Es gibt viel Kritik an Ihrer Nachfolgerin Ursula von der Leyen, die zu zögerlich beim Vorgehen gegen Rechtsbrüche in der EU vorgehe. Teilen Sie diese Kritik?
Juncker
Nicht ganz. Die Kommission, meine wie auch von der Leyens, hat Ungarn und Polen regelmäßig vor den Europäischen Gerichtshof gezerrt – und die Fälle auch meistens gewonnen. Wir können Mitgliedstaaten verklagen, und das haben wir auch gemacht. Die Frage ist eine der Rhetorik. Man muss das auch in öffentlichen Reden immer wieder brandmarken. Das wurde früher eindeutiger getan als jetzt.
Vor fast zehn Jahren sind Sie und Martin Schulz im Rahmen eines fast revolutionären Systems angetreten: die Spitzenkandidaten. Doch schon 2019 wurde es ausgesetzt, nicht Weber wurde Chef der Kommission, sondern von der Leyen. Ist das System tot?
Juncker
Ich hoffe nicht, denn ich halte das für einen demokratischen Fortschritt. Es ist ein Rückschritt, dass das System 2019 nicht zum Zug kam. Das lag vor allem an Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Ich bin enttäuscht vom Europäischen Parlament, denn die Abgeordneten hätten die Kommission ablehnen können. Ich hoffe, dass das Spitzenkandidatensystem diesmal wiederholt wird. Viele Wähler hatten es beim ersten Mal nicht in ihre wahlpolitischen Überlegungen integriert. Wäre es 2019 auch zum Zug gekommen, dann hätten sich die Europäer auf dieses System eingelassen. Ich hoffe, sie bekommen wieder eine neue Gelegenheit.
Es heißt, von der Leyen will keinen europäischen Wahlkampf mit Reisen in die Mitgliedstaaten führen.
Juncker
Wenn sie Spitzenkandidatin wird, muss sie das tun. Wenn sie aber außerhalb dieses Systems kandidiert, weiß ich nicht, worauf sie sich beziehen würde, um ihren Anspruch geltend zu machen, Kommissionspräsidentin zu werden. Ihre Partei will sie, doch sie braucht eine oder zwei weitere Parteien. Ich wurde damals neben der CDU von den griechischen Konservativen unterstützt. Von der Leyen wäre gut beraten, sich noch eine Partei aus dem Süden ins Boot zu holen.
Soll das Einstimmigkeitsprinzip in der EU abgeschafft werden?
Juncker
Ja. Das gibt es zwar nur noch in seltensten Fällen, doch in Sachen Außenpolitik müssen wir zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit kommen. Nicht, was die Entsendung von Soldaten betrifft, das muss selbstverständlich die Entscheidung der nationalen Regierungen und Parlamente bleiben. Aber andere außenpolitische und steuerpolitische Fragen könnten sehr wohl mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden, damit wir nicht auf Dauer blockiert sind, wenn ein Land sich der gemeinsamen Beschlussfassung widersetzt. Wenn ich mir vorstelle, dass die EU auf 33 oder 34 Mitgliedstaaten anwächst, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass wir am Einstimmigkeitsprinzip festhalten. Wir können das ohne Vertragsänderungen lösen: Der Europäische Rat kann einstimmig beschließen, dass künftig in einigen Teilbereichen mit Mehrheiten beschlossen werden kann. Es hängt also vom Willen der Regierungen ab. Wir sollten das zum Wahlkampfthema machen.
Ein Thema im Wahlkampf wird auch der Ukrainekrieg spielen. Auch Sie haben ihn nicht kommen sehen. Hat Europa im Umgang mit Russland Fehler gemacht, weil es Putin nicht als den brutalen Autokraten erkannte, der er schon vor dem 24. Februar 2022 war?
Juncker
Der war er nicht zu der Zeit, als man ihn nicht als solchen erkannte. Im Deutschen Bundestag hielt er 2001 eine Rede, die in dem Satz gipfelte: „Der Kalte Krieg ist vorbei.“ Das gesamte Haus gab Standing Ovations.
Seither ist viel geschehen. Das war der Putin von 2001.
Juncker
Putin I, wie ich immer sage. Putin II sah ihm nicht mehr ähnlich. Ich habe stundenlang mit ihm gesprochen. Er war bis etwa 2007 sehr prowestlich und proeuropäisch. Es gab von unserer Seite keine Bedenken, dass er sich der neuen kontinentalen Ordnung fügen würde. Jetzt sagen alle, dass wir Fehler gemacht haben. Ich gebe zu, dass wir einige gemacht haben. Das ist aber kein Kriegsgrund.
Welche Fehler haben Sie gemacht?
Juncker
Wir haben mit der Ukraine ein Freihandelsabkommen abgeschlossen, ohne mit den Russen zu reden. Das geht nicht. Das war einer unserer Fehler. Putin hat mir immer eine Liste mit acht oder neun Punkten vorgetragen, die ich dann mannhaft abgewehrt habe. Angenommen, Merkel hätte 2007, 2008 oder 2009 beschlossen, die guten Beziehungen mit Moskau einzufrieren und Russland zu behandeln wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Die Plätze in Europa wären voller Demonstranten gewesen. Alle waren der Meinung, wir müssten die europäische Sicherheitsarchitektur mit Russland gemeinsam gestalten. Hätten wir einseitig beschlossen, das Einvernehmen mit Moskau aufzukündigen – wir wären mit den Hunden zum Dorf hinausgetrieben worden.
Was hätte es geändert, wenn man vor dem Abkommen mit der Ukraine mit Russland gesprochen hätte? Hätte man es auf Anraten Putins bleiben lassen?
Juncker
Nein, aber man hätte mit ihm geredet gehabt.
Glauben Sie wirklich, dass das am Umgang Putins mit der Ukraine etwas geändert hätte?
Juncker
Das war ein Beispiel, weil Putin mir das immer entgegengeschleudert hat. Es gibt auch andere Punkte, etwa im Verteidigungsbereich. Eines habe ich nie verstanden: Wieso haben wir den NATO-Russland-Rat abgeschafft, als wir mit Russland in der Ukraine-Frage quer lagen? Im Streit muss man doch reden! Es braucht nur einen Idioten, um einen Krieg zu beginnen. Es braucht viele Genies, um ihn zu beenden.
Sie haben Putin auch privat getroffen, waren in seiner Datscha …

Putin hat mich jedes Mal umarmt. Er war ein guter Kollege, es war eine fast freundschaftliche Beziehung.

Juncker
Ja, öfter. Zuletzt war ich 2016 bei ihm. Da habe ich gegen die Meinung fast aller europäischer Länder am Wirtschaftsforum in St. Petersburg teilgenommen. Das war nach der Annexion der Krim, ich habe eine heftige Anti-Putin-Rede gehalten. Danach haben wir uns sechs Stunden unterhalten, eine ganze Nacht lang, wie schon viele Male zuvor. Beim G20-Gipfel 2014 in Brisbane, Australien, (das Treffen fand nach der Annexion der Krim statt, Anm.) lud Putin Merkel und mich zu einem nächtlichen Gespräch auf sein Hotelzimmer ein. Wir sagten ihm dann offen: So geht das nicht.
Hat er das angenommen, war überhaupt ein Gespräch möglich?
Juncker
Wir haben Punkt für Punkt mit der Ukrainekarte im Kopf darüber geredet, was er tun darf, wie weit er nicht gehen darf. Und jetzt, am Vorabend des Überfalls auf die Ukraine, sagte er, dass er einen solchen nicht plane. Auch ich sagte am Tag vor Kriegsbeginn: Der wird das nicht machen, ich kenne den Mann. Denkste!
Haben Sie ihn falsch eingeschätzt, hat er sich verstellt?
Juncker
Hat er sich verstellt oder hat er sich irgendwann für eine andere Richtung entschieden? Ich denke, er hat ab 2007 oder 2008 ins alte Denken des Kalten Krieges gewechselt. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich an diese Zeit zurückdenke. Ich frage mich: Haben wir etwas übersehen, haben wir nicht zugehört? Haben wir seine Körpersprache falsch interpretiert? Putin hat mich jedes Mal umarmt. Er war ein guter Kollege, es war eine fast freundschaftliche Beziehung. Ich fühle mich auch als Mensch enttäuscht und teilweise an der Nase herumgeführt.
Würden Sie jetzt noch mit ihm sprechen?
Juncker
Das letzte Mal rief er mich an meinem letzten Tag in Brüssel Ende 2019 an, um sich für die gute Zusammenarbeit zu bedanken. Ich würde mit ihm sprechen, aber nicht ohne Mandat. Ich bin gegen Paralleldiplomatie.
Auch mit China, sagen Sie, braucht es Gespräche. Die EU hatte lange Zeit keine eigenständige China-Politik. Zuletzt gab es Besuche von Scholz und Macron in Peking. Muss die EU eigenständiger werden in ihrer China-Politik, weg von den USA?
Juncker
Wir können unsere Beziehungen zu China nicht über Washington definieren. Wir sollten uns nicht von China abkoppeln, das würde uns schaden. Ich habe zu meiner Zeit als Premierminister im Europäischen Rat veranlasst, dass wir die chinesischen Investitionen in Europa dahingehend überprüfen müssen, dass sie unseren sicherheitsstrategischen Überlegungen nicht widersprechen. Das wird inzwischen gemacht. Im Jahr 2019 hatten Macron, Merkel, Xi und ich ein Treffen in Paris. Wir haben erklärt: Wir sind Partner in Wirtschaftsfragen, aber ihr seid auch unsere systemischen Rivalen. Das hat Xi zur Kenntnis genommen. Es ist nicht davon abzuraten, dass jetzt einige Regierungschefs nach China reisen. Aber man muss auch Tacheles reden, wenn es um Menschenrechte geht und um das Verhalten der Chinesen im Südpazifik.
Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.