Jemen: "Fünf Explosionen pro Minute"

Jemen: "Im Durchschnitt hören wir fünf Explosionen pro Minute"

Arunn Jegan von Ärzte ohne Grenzen berichtet von seinem Einsatz im Jemen.

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Ich bin gerade in Tais im Jemen angekommen, wo Ärzte ohne Grenzen mehrere Krankenhäuser auf beiden Seiten der Front unterstützt. Obwohl ich vor meiner Ankunft in den Nachrichten verfolgt habe, wie schlimm die humanitäre Situation der Menschen in der Stadt ist, habe ich erst in meiner ersten Woche hier wirklich begriffen, wie groß die Verzweiflung tatsächlich ist, und mit welch gewaltigen Herausforderungen die Bevölkerung jeden Tag konfrontiert ist.

Am Tag meiner Ankunft, dem 24. Januar 2018, ist die Gewalt an allen Fronten rund um Tais eskaliert, und die vergangenen Tage waren extrem hart. Leider ist das für die Menschen hier inzwischen Alltag.

In den vergangenen drei Tagen haben wir mehr als 117 Kriegsverletzte behandelt, und ihre Zahl steigt und steigt. Sobald die Kämpfe stärker wurden, waren unsere Notaufnahme und die OP-Säle mit Verletzten überfüllt. Allein an einem Tag wurden etwa 70 Patienten und Patientinnen zu uns gebracht. Wir haben Menschen mit Schusswunden und mit Verletzungen durch Granatsplitter und Minen behandelt; es war ein extrem schockierender Anblick. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Krankenhauses haben in diesen Tagen durchgängig gearbeitet, um die Verwundeten zu stabilisieren; einige bekamen nur sehr wenig Schlaf. Einige der Verletzten überlebten, andere nicht. Die Verzweiflung der Menschen zu sehen, war schwierig. Die einlaufenden Anfragen anderer Krankenhäuser nach Blutbeuteln und Leichensäcken machten mir klar, in was für einer entsetzlichen Ausnahmesituation die Menschen in Tais nun schon seit Jahren überleben müssen.

Eine Mutter von fünf Kindern erzählte uns, dass ihr jüngster Sohn, 16 Jahre alt, durch Granatsplitter beim Fußballspielen verletzt wurde. Sie musste ihren Schmuck verkaufen, um den Transport zu bezahlen. Den Schmuck hatte sie eigentlich für die Zukunft ihrer Kinder aufgespart, nicht für deren Überleben. Ihr Sohn kam schließlich in unserer Klinik an und ist in einem stabilen Zustand.

Bernadette Schober über die Arbeit im Jemen

Im Jemen gab es seit der Eskalation des Konflikts im Jahr 2015 dauernd Kämpfe. Leider hat sich die Lage nicht verbessert, seit vor drei Jahren die ersten Kugeln abgefeuert wurden. Die Menschen in der Stadt sind vorsichtig, ihre Häuser zu verlassen. Unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aber sind engagiert, die Verwundeten zu behandeln, und kommen mit fester Entschlossenheit zur Arbeit. Ich bin stolz, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Ich höre ständig Schüsse und Granatfeuer von der Front, die sehr nah bei unserem Krankenhaus verläuft. Das übt zusätzlich Druck und Stress auf die Kollegen und Kolleginnen aus, sowohl mental als auch physisch. An einem durchschnittlichen Tag dieser Woche hörten wir ungefähr fünf Explosionen pro Minute.

Hakim, einer unserer Mitarbeiter, sagt seinen Kindern immer, dass sie drinnen bleiben und nicht das Haus verlassen sollen. Seine Tochter fragte ihn: "Aber wohin gehst du dann jeden Tag?" Es sind Geschichten wie diese, die einen Einblick in die täglichen Herausforderungen hier geben.

Ich mache mir Sorgen über den steigenden medizinischen Bedarf und die Sicherheit des medizinischen Personals und der Gesundheitseinrichtungen in der Stadt. Ärzte ohne Grenzen ruft kontinuierlich alle Konfliktparteien dazu auf, unsere Arbeit zu respektieren und dies zu zeigen, indem medizinische Einrichtungen verschont werden und sicher arbeiten können, und indem alle Menschen durchgelassen werden, die medizinische Hilfe benötigen. Und wir rufen alle auf, das unparteiliche und neutrale Mandat von Ärzte ohne Grenzen zu respektieren, so dass unsere medizinische Hilfe allen Verletzten unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Bevölkerungsgruppen oder Konfliktparteien offensteht. Gleichzeitig hoffe ich, dass andere humanitäre Organisationen den Hilfsbedarf in Tais im Besonderen und im Jemen im Allgemeinen erkennen und ihre humanitäre Hilfe aufstocken. Momentan ist Tais eines der am stärksten umkämpften Gebiete im Land. Die Not ist extrem groß.

Ärzte ohne Grenzen ist gegenwärtig eine der wenigen medizinischen Organisationen in Tais. Für uns sind der Konflikt und der hohe Bedarf an humanitärer und medizinischer Hilfe die Hauptgründe, im Land zu arbeiten. Ärzte ohne Grenzen engagiert sich auch weiterhin im Jemen und unterstützt die Bevölkerung in Not. Wir arbeiten seit zwei Jahren auf beiden Seiten der Frontlinie in Tais. Die aktuellen Kämpfe haben uns erneut bewusstgemacht, wie wichtig es ist, genau hier vor Ort zu sein.“

Arunn Jegan ist Australier und arbeitet seit 2016 für Ärzte ohne Grenzen. Bevor er in den Jemen kam, hat er während des großen Zustroms von Rohingya-Flüchtlingen als Projektleiter im Flüchtlingslager in Cox's Basar in Bangladesch gearbeitet.

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