Wird Joe Biden, 81 und offensichtlich nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, wirklich gegen den in 34 Fällen verurteilten Donald Trump antreten? Ein nie da gewesener Vorwahl-Krimi.
„Die Angelegenheit ist abgeschlossen!“ Es gibt wohl keinen besseren Beleg dafür, wie weit sich die Demokratische Partei der USA von der Realität entfernt hat, als dieses Zitat. Es stammt ausgerechnet von Alexandria Ocasio-Cortez, der – vermeintlich – rebellischen Kongressabgeordneten, die dem linken Flügel der Demokraten angehört. Ocasio-Cortez, 34, wiederholte damit ziemlich exakt das, was US-Präsident und Spitzenkandidat Joe Biden, 81, als Losung für seinen weiteren Wahlkampf ausgegeben hat. Es soll keine Debatte darüber mehr geben, dass er körperlich gebrechlich ist, mitten im Satz den Faden verliert und Namen vertauscht; dass er, wie er laut Medienberichten Gouverneuren seiner Partei mitteilte, aus gesundheitlichen Gründen keine öffentlichen Auftritte mehr nach 20 Uhr absolvieren wolle; dass er fast nur noch Reden nach vorbereitetem Skript hält; dass ihn bereits ein 22-minütiges, freies Interview wie am vorvergangenen Freitag im TV-Sender ABC zu überfordern scheint. All das: kein Thema, Angelegenheit abgeschlossen.
Dummerweise hält sich die Öffentlichkeit nicht an die Anordnung des Partei-Establishments. In einer Umfrage des Siena-Instituts im Auftrag der „New York Times“ gaben 74 Prozent der Befragten an, dass sie Biden für zu alt halten, um ein weiteres Mal als Präsident zu dienen. Nein, die Angelegenheit ist nicht nur nicht abgeschlossen, sie wird vielmehr mit jedem Tag, den die Präsidentschaftswahl am 5. November näher rückt, bedeutsamer.
„Ich liebe Joe Biden. Aber wir brauchen einen anderen Kandidaten.“
George Clooney, Schauspieler
Es geht nicht bloß um die Karriere von Joe Biden oder um die Statutenfrage, zu welchem Zeitpunkt eine Kandidatur noch beeinsprucht oder verhindert werden kann. Was auf dem Spiel steht, ist die amerikanische Demokratie. Biden-treue Demokraten argumentieren, dass bis hierher alles korrekt abgelaufen ist. Joe Biden habe sich der Vorwahl gestellt und dabei die überwältigende Mehrheit der Stimmen erhalten. Allerdings traten bei dieser Vorwahl keine ernst zu nehmenden Gegenkandidaten an, und infolgedessen stimmten auch nur sehr wenige Menschen ab. Der Hinweis darauf, dass alle formalen Kriterien eingehalten wurden, ist angesichts der dramatischen Lage wenig überzeugend.
Es kann nicht im Interesse demokratisch denkender Menschen sein – und damit auch nicht im Interesse der Demokratischen Partei –, dass das US-Wahlvolk am 5. November zwischen zwei Personen abstimmen muss, von denen eine mit einem Fuß in einer geriatrischen Einrichtung steht und die andere mit einem Fuß im Gefängnis. (Ein möglicher Dritter, Robert Kennedy, 70, führt in seiner Kampagne einen Feldzug gegen Schutzimpfungen und behauptet unter anderem, diese würden bei Kindern Autismus verursachen, was hinlänglich widerlegt ist.)
Gewählt werden soll nämlich nicht jemand, der gerade noch mit Ach und Krach und der Hilfe eines formidablen Ärzteteams die vier Monate bis zur Wahl übersteht, indem man ihn nach Kräften abschirmt und von Situationen, in denen er spontan reagieren soll, fernhält, sondern jemand, der in den darauffolgenden vier Jahren einen der härtesten und intellektuell am meisten herausfordernden Jobs der Welt erledigt. Und Entscheidungen trifft wie „Krieg oder Frieden?“ und dergleichen.
Bürger außerhalb der USA, wir zum Beispiel, haben allen Grund, beim aktuellen Vorwahl-Drama mitzufiebern, denn der US-Präsident wird nicht zu Unrecht der Anführer der freien Welt genannt. Möchte sich irgendjemand vorstellen, wie sich Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Präsident Xi Jinping die TV-Bilder ansehen, auf denen Biden beim Versuch, einen Satz zu beenden, w. o. gibt?
Werden die Bürger der USA also doch noch einen anderen Kandidaten oder eine andere Kandidatin zur Wahl gestellt bekommen?
Nein, sagt die Partei
Sie hat keinen Plan B für dieses außergewöhnliche – wenn auch absehbare – Szenario vorgesehen, dass Biden schlappmacht. US-amerikanische Parteien sind im Gegensatz zu europäischen auch keine mächtigen Organisationen, sondern eher bürokratische Agenturen.
Die Ausreden und Argumente, weshalb ein Kandidatenwechsel unnötig, falsch und eine Diskussion darüber sogar verwerflich sei, drehen zunehmend ins Absurde ab. Der Kongressabgeordnete Steven Horsford beklagte in einem Interview mit CNN „Ageismus und Ableismus“ in der Kritik an Biden. „Ageismus“ bezeichnet eine soziale oder ökonomische Benachteiligung wegen des Alters; „Ableismus“ eine Diskriminierung wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung. Mit anderen Worten: Gebrechlichkeit oder ein geistiges Defizit dürfen nicht gegen einen Präsidentschaftskandidaten ins Treffen geführt werden. Es deutet allerdings nichts darauf hin, dass sich die Öffentlichkeit an diese kuriose Benimmregel halten wird.
Die Partei, die Transparenz und freie Medien vor dem Zugriff Donald Trumps bewahren möchte, unternimmt alle Anstrengungen, um den Zustand ihres Kandidaten zu verschleiern. Biden tritt nur noch in kontrolliertem Rahmen vor die Medien, liest vom Teleprompter ab; bei Live-Interviews bereiten seine Mitarbeiter Fragen vor; echte, kontroverse Interviews und Pressekonferenzen werden immer seltener. Für seine Fehlleistungen finden seine Sprecher alle möglichen Erklärungen: Jetlag, Überarbeitung, Erkältung, falsche Uhrzeit …
Bei den Wahlen 2020 war Biden der perfekte Gegenkandidat zu Trump: ein weißer Mann, aus dem niemand einen radikalen Linken machen kann.
Martin Weiss
ehemaliger Botschafter in den USA
Seit im Herbst 2022 die Demokratische Partei bei den Kongresswahlen aus ihrer Sicht erfreulich gut abgeschnitten hatte, galt Biden als der Mann, der Trump immer noch schlagen kann. Martin Weiss, ehemaliger österreichischer Botschafter in den USA und jetzt Präsident des Salzburg Global Seminars, erläutert Bidens damalige Vorzüge: Dieser sei „der perfekte Gegenkandidat zu Trump gewesen. Ein weißer Mann, aus dem niemand einen radikalen Linken machen kann.“ So sieht Biden selbst das auch jetzt noch, und die meisten der Parteigranden stimmen ihm zu – jedenfalls wenn sie sich öffentlich äußern. Eine ernsthafte Vorwahl mit Gegenkandidatinnen und Gegenkandidaten hätte die Gefahr von Flügelkämpfen bedeutet. Stattdessen einigte man sich auf eine simpel gestrickte Kampagne: Biden zu wählen, sei der einzige Weg, um Trump zu verhindern. Diese Botschaft werde auch Bidens lausige Beliebtheitswerte vergessen machen, so die Hoffnung.
Dass dieses Konzept zum Erfolg führt, war schon länger fraglich, angesichts der alles überlagernden Debatte um Bidens Gesundheitszustand wurde es zu Konfetti. Doch die Partei scheint in Schockstarre darauf zu warten, dass Biden selbst den für ihn schmerzhaften Schritt setzt und auf eine Kandidatur verzichtet. Bis dahin wird abgeblockt und zum verzweifelten Gegenangriff geblasen: Weshalb die Republikanische Partei nicht aufgefordert werde, Donald Trump zur Aufgabe zu überreden, lautet eine der listigen Gegenfragen demokratischer Aktivisten. Einfache Antwort: weil er die Wahl nach allen derzeitigen Prognosen gewinnen wird.
Nein, sagen auch Trump und dessen Unterstützer
Donald Trump scheint mit der Situation durchaus zufrieden zu sein. Kein Wunder. Die Umfragen bescheinigen ihm einen wachsenden Vorsprung, und neben Biden wirkt der Endsiebziger Trump erstaunlich fit. Und selbst wenn er Unwahrheiten von sich gibt, so tut er dies üblicherweise in zusammenhängenden Sätzen. Im Wahlkampf 2024 hat er angesichts dieser Fähigkeit bereits die Nase vorn.
Auch mit Trump sympathisierende Medien wie etwa die „New York Post“ schwelgen in Bidens Ungemach. Die „Post“ spekuliert, dass in Wahrheit Joe Bidens Sohn Hunter Biden die Kontrolle im Weißen Haus innehabe. Er sitze angesichts des Zustands seines Vaters „im Fahrersitz“.
Trump selbst fordert Biden nicht auf, auf die Kandidatur zu verzichten. In einem Interview mit dem Sender Fox News beschränkt er sich darauf, die Motive seines Gegners zu beschreiben. Fast klingt es, als wolle er Biden bestärken, anzutreten: „Er hat ein Ego, und er will nicht aufgeben. So etwas will er nicht. Für mich sieht es so aus, als sei es das, was er will.“
Unbedingt!, sagen ein paar Abtrünnige
Bisher haben nur etwas mehr als eine Handvoll Kongressabgeordnete der Demokraten gewagt, öffentlich Joe Bidens Kandidatur infrage zu stellen. Adam Smith aus dem Bundesstaat Washington etwa wurde ausgesprochen deutlich: „Die Vorstellung, dass wir in den Faschismus schlafwandeln, weil wir die Gefühle von jemandem, den wir respektieren, nicht verletzen wollen – ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das wütend macht.“ Smiths nicht unbegründete Angst ist eine Niederlage bei der Präsidentschaftswahl und gleichzeitig auch bei den Wahlen zum Senat und Repräsentantenhaus: „Ich glaube, wir könnten das alles verlieren.“
Die drohende Niederlage ist ohne Zweifel der wichtigste Faktor in der Debatte. Wenn sich abzeichnet, dass Biden Trump nicht schlagen kann, wird die Frage unumgänglich, ob jemand anderer besser geeignet ist. Weshalb sich nicht schon längst innerparteiliche Gegenkandidaten aus der Deckung gewagt haben, erklärt Ex-Botschafter Weiss so: „Sie haben sich alle gesagt: Meine Chance kommt 2028. Wozu soll ich mich jetzt verbrennen?“ Im Rückblick erweist sich die Zurückhaltung als schwerer Fehler.
„Wenn irgendjemand von diesen Leuten denkt, ich solle nicht antreten, dann soll er gegen mich antreten.“
Joe Biden
Vergangene Woche forderte der Hollywood-Schauspieler George Clooney, ein treuer Unterstützer der Demokraten, Biden in einem Gastkommentar in der „New York Times“ zum Rückzug auf. Er tat es mit den Worten: „Ich liebe Joe Biden. Aber wir brauchen einen anderen Kandidaten.“ Der alternde Präsident könne den Kampf gegen die Zeit nicht gewinnen, so Clooney.
Am subtilsten äußerte Nancy Pelosi, die ehemalige Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus und selbst 84 Jahre alt, ihr Unbehagen. In einem Gespräch in der SNBC-Sendung „Morning Joe“ sagte sie, Biden solle „rasch eine Entscheidung treffen“ und ignorierte dabei vielsagend, dass Biden längst eine Entscheidung getroffen hat – nämlich zu kandidieren. Damit drängte sie Biden, ohne es auszusprechen, dazu, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken – und zu revidieren.
Interessanterweise hat Joe Biden selbst eine Gegenkandidatur nicht ausgeschlossen, sondern – jedenfalls verbal – ermutigt. „Wenn irgendjemand von diesen Leuten denkt, ich solle nicht antreten, dann soll er gegen mich antreten“, sagte er bei einem TV-Auftritt vergangene Woche. War es bloß Trotz oder öffnete Biden, der gemäß dem Ergebnis der Vorwahl die Kandidatur in der Tasche hat, damit das Rennen doch noch erneut?
Die Demokratische Partei steht vor einer Weggabelung, und welchen Pfad sie beschreitet, kann jetzt schon wahlentscheidend sein. Sie hat zwei Optionen.
Option eins: Biden bleibt Kandidat
Die offizielle Kampagnen-Website gibt den Ton vor, trotzig und kampflustig: „Die Experten und Politiker haben Joe Biden auch früher schon abgeschrieben. Und sie lagen falsch. Komplett falsch. Falsch, was 2020 betraf. Falsch, was 2022 betraf. Falsch, in der Frage, was wir gemeinsam schaffen können. Joe bleibt im Rennen. Wirst du ihm beistehen?“ Darauf folgt ein Spendenaufruf.
Dass solche Durchhalteparolen in Kombination mit fortgesetzter Abschirmung des Kandidaten Bidens Chancen auf einen Wahlsieg wiederherstellen, ist sehr unwahrscheinlich. Was motiviert einen großen Teil der Partei dennoch, an dieser Strategie festzuhalten?
Die Angst vor Chaos. Der Versuch, Biden gegen seinen Willen durch jemand anderen zu ersetzen, würde die Partei sehr unsympathisch aussehen lassen und mit großer Wahrscheinlichkeit spalten.
Aber selbst wenn Biden sich in sein Schicksal fügte und den Weg für eine Ablöse freimacht, besteht die Gefahr, dass ein wüster, polarisierender Kampf der verschiedenen ideologischen Flügel ausbricht. Auf einer viertägigen Convention eine Mini-Vorwahl abzuhalten, die ein Mindestmaß an demokratischer Legitimität erfüllt und unter Garantie kein desaströses Bild abgibt, ist alles andere als einfach.
Die Hoffnung, die aktuelle, schwierige Phase vier Monate vor der Wahl werde mit dem nächsten, halbwegs überzeugenden Auftritt des Präsidenten beendet sein, überwiegt bei vielen noch gegenüber der Angst vor der Unsicherheit eines Last-Minute-Experiments.
Option zwei: Biden wird ersetzt
Wollen die Demokraten die Wahl nicht jetzt schon verloren geben, scheint dies unausweichlich. Bloß: durch wen?
Es gibt eigentlich nur eine Person, die einen logischen Anspruch darauf erheben könnte und deren Inthronisierung als Präsidentschaftskandidatin gegenüber der Partei und der Öffentlichkeit am leichtesten zu argumentieren wäre: Vizepräsidentin Kamala Harris. Sie steht kraft ihrer Funktion bereit, um Biden zu vertreten oder zu ersetzen. Diesen Auftrag hat sie von der Partei und durch die Wahl 2020 auch vom Volk bekommen.
Bloß: Harris’ Umfragewerte sind seit langer Zeit miserabel. Sie als Kandidatin zu nominieren, würde immerhin das Problem mit Bidens Zustand lösen, allerdings nicht das hohe Risiko einer fast sicher scheinenden Wahlniederlage abwenden.
Also werden viele interessante Namen aus dem Hut gezogen. Gouverneurinnen und Gouverneure wie Gretchen Whitmer (auch wenn sie bereits abgesagt hat) oder Gavin Newsom (aus Kalifornien, ein Staat, der ohnehin de facto bereits gewonnen ist) … Oder, wie US-Experte Reinhard Heinisch im Gespräch mit profil analysiert: „Man braucht jemanden, der inspiriert. Michelle Obama wäre so jemand, aber sie will nicht.“ Die Ehefrau von Ex-Präsident Barack Obama, eine erfolgreiche Buchautorin, hatte noch ein politisches Amt inne. Man kann sich ausmalen, wie groß die Widerstände im Partei-Establishment wären.
Doch hat man erst einmal einen Auswahlprozess begonnen, wird am Ende eine Persönlichkeit daraus hervorgehen, die Trump herausfordert. Das entscheidende Kriterium wäre wohl, wem die besten Chancen bei der Wahl am 5. November eingeräumt werden.
Der TV-Satiriker Jon Stewart formuliert es so: „Im Endspiel um die Demokratie bekommt man keinen Preis dafür, bloß teilgenommen zu haben.“