Opfert Boris Johnson für den Brexit das Vereinigte Königreich?
1. In den Katakomben von Downing Street
Im Keller von Downing Street, dem Sitz des britischen Premierministers, herrscht Bunkerstimmung. In die Katakomben des Gebäudekomplexes gelangt man über enge Treppen und verwinkelte Korridore, die hinter der berühmten schwarzen Tür mit der goldenen Nummer 10 liegen. Der kleine Konferenzraum, in dem Brexit-Minister Stephen Barclay zum Interview empfängt, wirkt wenig anheimelnd. Eine Karaffe Leitungswasser steht auf dem Tisch. Barclays Botschaft verstärkt die Untergangsstimmung: „Wenn die EU bei ihrem absolutistischen Ansatz bleibt, dann müssen wir unsere Vorbereitungen für ein No-Deal-Szenario mit Turboaufladung betreiben.“ Der Minister klingt, als wolle er demnächst seine Mitarbeiter dazu abkommandieren, im Garten von Downing Street Kartoffeln anzupflanzen.
Das Vereinigte Königreich rutscht seit dem Brexit-Referendum 2016 immer tiefer in die politische Krise. Premierminister Boris Johnson versucht, die Briten auf die härteste aller Varianten einzuschwören: „Wir werden uns nicht unterwerfen!“, erklärt er jeden Tag aufs Neue. Er gibt sich alle Mühe, dabei wie Winston Churchill zu klingen, unter dessen Führung sich die Briten im Zweiten Weltkrieg erbittert und erfolgreich dem Dritten Reich widersetzten. Die euroskeptische Presse hilft dem Regierungschef redlich, das Vereinigte Königreich in einen Belagerungszustand hineinzutrommeln. „Das Parlament unterwirft sich der EU!“, titelte der „Daily Express“empört.
Dabei hat das Parlament den Premierminister vergangene Woche lediglich daran gehindert, sein Land ohne Abkommen aus der EU zu führen. Dies hätte nach Ansicht der Bank of England das Land fünfeinhalb Prozent des Bruttoinlandsproduktes kosten können. Dass er intensiv um ein Abkommen mit der EU bemüht sei, behauptet Boris Johnson unverdrossen. Um das Engagement des Chefs zu unterstreichen, hat der Brexit-Minister die Korrespondenten einiger europäischer Medien, darunter profil, zum Gespräch geladen. „Wir wollen mit einem Deal austreten“, hält er kategorisch fest. Was Johnsons Regierung vorschlägt, um einen solchen zu bekommen, kann Barclay allerdings nicht genau sagen. „Das Beste wäre ein Abkommen, in dem der ,Backstop‘ (eine Vertragsklausel, die eine EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland verhindert, Anm.) nicht mehr vorkommt.“ Falls die EU nicht zustimme, sei dies kontraproduktiv: „Denn wir werden am 31. Oktober austreten, so oder so.“
EU-Chefverhandler Michel Barnier hat den Verzicht auf den „Backstop“ allerdings bereits mehrfach und unmissverständlich abgelehnt – Angela Merkel und Emmanuel Macron, die beiden wichtigsten Staatschefs der Europäischen Union, ebenso. Der „Backstop“ ist die Notfallslösung für Nordirland. Er bedeutet aus Sicht der EU die Sicherung des Friedens in Nordirland, weil er die Grenze zwischen Nordirland und Irland offenhält. Die Europäische Union, die den Belfaster Friedensvertrag von 1998 mitunterzeichnete, sieht sich als eine der Garantiemächte des Abkommens.
Die britische Regierung entfernt sich immer weiter von dieser gesamteuropäischen Logik. Im nationalistischen Überschwang der „Brexiteers“ bleibt der legendäre britische Pragmatismus zunehmend auf der Strecke. Konkrete Pläne zu Verhandlungen mit der EU wurden längst auf dem Altar populistischen Eifers geopfert. Die Befürworter eines harten Brexit sehen im „Backstop“ und dem gesamten Scheidungsvertrag von der EU nichts anderes als eine Fessel: Um die Grenze offenzuhalten, müssten Nordirland und der Rest des Königreichs sich auch weiterhin an die Regeln der EU-Zollunion und des EU-Binnenmarktes halten. Dann könnte das Vereinigte Königreich aber in Zukunft keine unabhängige Handelspolitik entwickeln. Da es in dieser Frage keine Verhandlungslösung zu geben scheint, betreibt Boris Johnson eine Politik der Eskalation.
2. Glanzstunde des Unterhauses
Solange das Parlament nicht tagte, gehörte die politische Bühne ganz allein Boris Johnson. Mit Charme und Politaktivismus hielt er die Menschen bei Laune. Um freie Hand zu haben, bat der Premierminister deshalb die Queen, das Parlament ab 12. September für fünf Wochen zu suspendieren. Großbritannien schlitterte immer schneller auf einen Austritt ohne Abkommen am 31. Oktober zu.
Doch als die Parlamentarier aus den Sommerferien zurückkehrten, waren Johnsons politische Flitterwochen vorbei. Das House of Commons und das House of Lords beschlossen in einem einzigartigen Kraftakt innerhalb von zwei Tagen ein Gesetz, das einen Austritt aus der EU ohne Abkommen am 31. Oktober verhindern soll. Der Regierungschef muss nach dem neuen „EU-Austrittsgesetz Nummer 6“ in Brüssel um eine Verschiebung des Brexit auf den 31. Jänner 2020 ansuchen, wenn er bis Mitte Oktober kein Verhandlungsergebnis präsentieren kann, das vom Parlament gebilligt wird.
Was den einen als Akt der Vernunft erscheint, stellt für die anderen einen Verrat dar: „Ich werde auf keinen Fall um eine weitere nutzlose Verschiebung in Brüssel ansuchen“, rief Boris Johnson Mittwochabend nach der dritten Lesung des Gesetzes im Unterhaus trotzig. Aus Wut über die moderaten Rebellen in den eigenen Reihen, die mit der Opposition gegen die Regierung gestimmt hatten, ließ er 21 Abgeordnete aus der Tory-Partei ausschließen, unter anderen auch den Enkel seines Idols Winston Churchill, Nicholas Soames. Die Betroffenen blieben allerdings auf den Bänken hinter dem Regierungschef sitzen und wechselten nicht auf die Seite der Opposition, denn dort gab es keinen Platz mehr für sie.
Auch der 79-jährige Proeuropäer Ken Clarke wurde hochkant aus der Partei geworfen, weil er die „No Deal“-Option ablehnt. Als ältester Abgeordneter trägt der moderate Konservative den Ehrentitel „Vater des Hauses“. Aus der Vogelperspektive von der Pressetribüne des ehrwürdigen House of Commons wirkte es besonders eindrucksvoll, wie Ken Clarke aus der dritten Reihe der Hinterbänke seinen um 34 Jahre jüngeren Regierungschef wie einen dummen Jungen zur Ordnung rief: „Er ist jetzt Premierminister und in einer verantwortungsvollen Position. Ich ermahne ihn ein letztes Mal: Er soll aufhören so zu tun, als wäre das hier nur ein Spiel!“
Boris Johnson grinste grimmig. Seine sechste Woche als Premierminister war ein Desaster. Seine hauchdünne Mehrheit im Parlament hat er bereits verspielt. Es ziemt sich zudem nicht, das Parlament durch Beurlaubung zu entmachten und ehrwürdige Tories aus der Partei zu werfen, denn das Parlament gilt als das demokratische Herz der britischen konstiutionellen Monarchie. Es ist im Ernstfall – und dieser trat vergangene Woche ein – mächtiger als der Premierminister.
Ein weiterer Dolchstoß traf Johnson am Donnerstag. Sein jüngerer Bruder Jo, den Boris im Juli in sein Brexit-Kabinett geholt hatte, trat als Staatssekretär und Tory-Abgeordneter zurück. Die Familie Johnson ist für ihre politischen Differenzen berühmt, aber auch für ihre Loyalität. Boris Johnsons Versuch, das Parlament zu übergehen, und die Parteisäuberung waren dann doch zu viel für Jo. Wie viele Konservative glaubt auch er, dass sein Bruder den Bogen überspannt hat. Der ehemalige britische Tory-Premierminister John Major warnt, dass die Tories Gefahr laufen, zu einer „gemeinen Sekte“ zu verkommen.
3. Frühstück mit dem Dissidenten
Im Zentrum der britischen Macht ist es noch still am Donnerstag um acht Uhr früh, als Dominic Grieve über die flachen Eingangsstufen in den Cinnamon Club eilt. Der ehemalige Staatsanwalt Englands musste ungläubig mitansehen, wie die Tories sich von einer Volkspartei für Mittelstand und Oberschicht, Geschäftsleute und Grundbesitzer in einen Gentlemen-Club für brextremistische Europafeinde verwandelte. Bis zum Referendum hatte der sozialliberale Flügel mit weltoffener und geschäftsfreundlicher Haltung dominiert.
Aus dieser Tory-Tradition kommt eigentlich auch Boris Johnson. Dass er sich nun jedoch nationalpopulistischen Fanatikern am rechten Rand angeschlossen hat, ist dem Juristen Grieve zuwider: „Diese Regierung sucht nach immer extremeren Lösungen, die aus dem Brexitchaos führen können. Boris Johnson hat bereits in seiner sechsten Woche die Grenzen des Möglichen ausgestet – und erreicht.“
Dass Grieve gemeinsam mit den moderaten Proeuropäern in der Labour-Party einen parteiübergreifenden Gesetzestext ausarbeiten konnte, erfüllt den abtrünnigen Tory mit Stolz. Doch die Stunde seines Triumphs könnte gleichzeitig auch das Ende seiner politischen Karriere bedeuten. „Ich bin bisher nicht über meinen Rauswurf informiert worden“, sagt Grieve lapidar. Er habe nur bemerkt, dass er keinen Zugang mehr zu den Datennetzwerken der Parteizentrale habe. Andere Rebellen wurden via SMS über ihren Ausschluss informiert. Das Chaos unterminiert inzwischen sogar die Kernkompetenz der Inselbewohner: die britische Höflichkeit.
Sollte er als unabhängiger Kandidat in seinem Wahlbezirk Beaconsfield in Südengland antreten, müsste Grieve sich unbequemen Realitäten stellen. Aufgrund des britischen Mehrheitssystems gewinnt der stärkste Kandidat im jeweiligen Wahlkreis. Bei Neuwahlen wird Grieves ehemalige Partei wohl einen strammen Brexiteer gegen ihn nominieren und die gesamte Parteimaschinerie dafür aufbieten, dass dieser gewinnt.
Doch so weit ist es noch nicht. Vorerst geht es den Parlamentariern darum, sich nicht von Boris Johnson austricksen zu lassen. „Wir wissen, dass wir dem Premierminister nicht trauen können“, sagt Grieve. Erst wenn es mit Sicherheit unmöglich sei, am 31. Oktober ohne Abkommen auszutreten, sollten die Abgeordneten Neuwahlen zustimmen. Dass man dem Wort des eigenen Parteichefs nicht mehr trauen könne, ergänzt Grieve bitter, „haben wir Dominic Cummings zu verdanken“.
4. Johnsons Rasputin
Dominic Cummings, PR-Manager und Boris Johnsons Chefberater, gilt als genialisches Talent. Er war Mastermind der Brexit-Kampagne 2016. Von ihm stammte der Slogan „Take back control“, der eine Mehrheit der Engländer überzeugte. Der 47-jährige Politstratege wurde von seinem ehemaligen Chef Michael Gove, dem amtierenden Minister für „No-Deal“-Vorbereitungen, allerdings auch als „Karriere-Psychopath“ beschrieben. Sein aktueller Plan: Boris Johnson soll mit dem Versprechen eines harten Brexit Neuwahlen gewinnen.
Johnson hatte Cummings nach seiner Kür zum Parteichef im Juli gedrängt, ihm in die Downing Street zu folgen. Zwar zog gleichzeitig auch die PR-Managerin Carrie Symonds im Sitz des Premierministers ein, doch die 31-Jährige nimmt eher die Funktion als „First Girlfriend“ wahr – sie ist Johnsons Geliebte. Der Spindoctor Cummings dagegen schien der Richtige dafür zu sein, gemeinsam mit dem Alleinunterhalter Boris den gordischen Brexitknoten zu zerschlagen. Auf Cummings’ Empfehlung bat Boris Johnson die Queen, das Parlament zu beurlauben. Und der Premier säuberte die Partei von moderaten Widerständlern. Nicht nur viele Tories sind der Meinung, Dominic Cummings habe viel zu viel Einfluss – so wie einst der Mystiker Grigori Rasputin auf den letzten russischen Zaren, Nikolai II. Seit Johnsons Rasputin den Premierminister in immer disruptivere Politmanöver treibt, steigt draußen die Volkswut.
„Marionetten-Regierung“ steht auf einem Plakat, das Sam Kwiatkowski umklammert, als er am schmiedeeisernen Tor vor der Downing Street demonstriert. Darauf sieht man Dominic Cummings, der Boris Johnson mit langer Pinocchio-Nase an einem Hundehalsband führt. „Wenn die Regierung unser Parlament zusperrt, dann blockieren wir eben die Straßen“, ruft der Student, der im Norden an der Universität von Durham Mathematik studiert, gemeinsam mit Tausenden Demonstranten. Spätestens am 12. September dürfen die Abgeordneten fünf Wochen lang nicht mehr tagen. Sams Familie stammt ursprünglich aus Polen; er ist Brite: „Natürlich habe ich dafür gestimmt, dass wir in der EU bleiben. Inzwischen geht es aber nicht mehr nur darum, gegen den Brexit zu kämpfen. Es geht darum, Boris Johnson davon abzuhalten, unsere demokratischen Institutionen lahmzulegen.“
5. Kadettinnen im Rücken
Am Donnerstagabend tritt Boris Johnson in der West-Yorkshire-Polizeiakademie im nordenglischen Wakefield vor die Kameras. Hinter ihm stehen nicht ganz zufällig Polizeischülerinnen in Reih und Glied. Der Premierminister ist im Wahlkampfmodus und verspricht, 20.000 Polizisten mehr auf Großbritanniens Straßen zu bringen. Was er verschweigt: Genau diese Zahl an Ordnungskräften ist von den konservativen Regierungen seit 2010 eingespart worden.
Doch die aus London mitgereisten Journalisten wollen ohnehin nur über das Thema Nummer eins sprechen. Ob er sich an das neue Gesetz halten und den Brexit verschieben werde? „Ich entleibe mich lieber, als in Brüssel um eine weitere Verlängerung anzusuchen“, ruft Johnson aufgekratzt.
Der Wind verwischt seine Worte, die Mikrofone knattern. Seine Antworten wirken fahrig. Hinter ihm kippt eine Polizistin um. Die Kadettinnen hatten über eine Stunde stehend auf den Premierminister warten müssen. „Zeit für mich zu gehen“, meint Johnson salopp, blickt auf die am Boden kauernde Polizistin und setzt die Pressekonferenz einfach fort. „Soll Corbyn doch nach Brüssel fahren und um eine weitere Verlängerung ansuchen!“, sagt Johnson und simuliert Kampfesmut.
Es gelingt ihm nicht mehr so recht in dieser desaströsen Woche. Der 55-jährige Politiker scheitert vor aller Augen an der Transformation vom Enfant terrible der britischen Politik zum Premierminister, der eine Staatskrise meistern soll, die er selbst ausgelöst hat. Es war nicht zuletzt Boris Johnson selbst, dessen engagierter Einsatz für die Brexitkampagne die Briten 2016 vom Austritt aus der EU überzeugte. Im Herbst 2019 holt ihn dies ein wie ein Fluch: Er ist zwar plangemäß Premierminister geworden. Er könnte es sogar bleiben, wenn die Politik der Eskalation eine Mehrheit findet. Doch er zertrümmert dabei seine Partei, seine Familie und vielleicht sogar das Vereinigte Königreich.
Im Parlament schmieden inzwischen Opposition und Tory-Rebellen einen Pakt gegen ihn. Es soll keine Neuwahlen geben, bis die Drohung eines „No Deal“ am 31. Oktober endgültig vom Tisch ist. Das wird nicht vor dem 19. Oktober der Fall sein. Solange die Opposition nicht zustimmt, kann Johnson keine Beschlüsse mehr fassen, weil er im Unterhaus keine Mehrheit mehr hat.
Weil es sonst nichts mehr für ihn zu tun gibt, tut Boris Johnson, was er am besten kann: Er tourt durch das Vereinigte Königreich und provoziert, poltert, stichelt. Er ist schon wieder im Wahlkampf.
6. Schotten gegen König Boris
Am Freitag verspricht Johnson schottischen Bauern in Aberdeenshire 51 Millionen Pfund extra. Er will außerdem „Nicola Sturgeon davon abhalten, eine interne Grenze in Großbritannien zu errichten“. Dabei spielt seine Politik den schottischen Nationalisten eher in die Hände. Was Nicola Sturgeon, die Chefin der schottischen Nationalisten, die auch als First Minister der autonomen Regierung in Edinburgh vorsitzt, ganz sicher nicht will: einen harten Brexit. Die Schotten haben 2015 in einem Referendum dafür gestimmt, im Vereinigten Königreich zu bleiben – und 2016 dafür, in der EU zu bleiben. Je mehr das Brexitchaos die britische Politik erfasst, umso wahrscheinlicher wird ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich. Je härter der Brexit ausfällt, den Boris Johnsons Regierung anstrebt, umso größer werden die Chancen, dass Sturgeon es auch gewinnt.
Zu allem Überfluss ist den Konservativen im hohen Norden auch noch ihre Geheimwaffe abhanden gekommen. Ende August trat die schottische Tory-Chefin Ruth Davidson zurück. Sie errang bei den nationalen Wahlen 2017 13 Mandate. Die erfrischend direkte, charismatische Schottin bewies in den vergangenen Jahren, dass die Tories immer eine „One-Nation-Party“, eine Partei für das ganze Vereinigte Königreich, waren. „Im Namen von allem, was gut und heilig ist: Wie kann es sein, dass es in der Partei keinen Platz mehr gibt für Nicholas Soames?“, twitterte Davidson nach der Parteisäuberung.
Davidson, die mit ihrer Partnerin gerade Mutter geworden ist, soll zwar auch aus privaten Gründen die Reißleine gezogen haben. Doch der Zeitpunkt war wohl kein Zufall. Ohne sie droht den Konservativen bei den nächsten Wahlen in Schottland eine schmerzhafte Niederlage. Ihre Konkurrentin Nicola Sturgeon kann sich freuen: Nach aktuellen Umfragen des Instituts YouGov könnten die schottischen Nationalisten 51 von 59 Sitzen erringen.
7. Bier-Brexit im Pub
„Das ist doch alles nur noch lächerlich“, schimpft Wayne Walker und klopft auf die Zeitung vor ihm, in der schreiende Abgeordnete im Parlament abgebildet sind. Walker ist Maurer. Den heutigen Tag hat er sich frei genommen, oder vielleicht hat er zur Zeit auch gar keine Arbeit, er lässt das lieber im Ungewissen. Viele englische Handwerker stehen ohne Job da, seit osteuropäische Einwanderer billiger (und vielleicht auch besser) arbeiten. Schuld an allem ist für Wayne die gesamte regierende Klasse: „Unser politisches System ist kaputt, wir können keinem mehr trauen. Die müssen alle weg.“
Im Pub „The Old Bank“ sind durchaus nicht alle seiner Meinung. Doch die Stimmung hier in Sutton ist insgesamt eher neuenglisch, also anti-EU. Der Wahlkreis, gerade noch innerhalb der Stadtgrenzen von London gelegen, war beim EU-Referendum 2016 einer der wenigen Bezirke Londons, die für den Austritt stimmten. Eine dieser Stimmen kam von Wayne Walker. Es war überhaupt das erste Mal, dass er zu einer Wahl ging. Er vertraut keinem der Regierenden: „Die sind doch alle korrupt.“ Umso schmerzhafter ist es für ihn jetzt, dass sich alle seine Vorurteile bestätigen: “Was müssen wir jetzt erleben: Unsere Stimmen zählen nichts!“, empört er sich. Dreieinhalb Jahre ist das EU-Referendum bald her: „Und wo bleibt nun der Brexit?“
Boris Johnson ist für ihn keine Ausnahme. Wayne Walker meint, er werde bei den kommenden Wahlen Nigel Farage und dessen Brexit-Partei wählen. Der ehemalige UKIP-Chef hat den Brexit seit über 20 Jahren zu seinem Lebensprojekt gemacht. „Dem gebe ich meine Stimme. Er wird den Brexit nicht verraten“, meint Walker und nimmt noch einen Schluck Bier: „Ich will endlich aus der EU austreten.“
Boris Johnson kann nur hoffen, dass Walker sich noch besinnt und ihn doch wählt. Er hat schließlich die Tories ganz nach rechts geführt, um Nigel Farage und der Brexit-Partei den Wind aus den Segeln zu nehmen. Jetzt, da der Premierminister sich mit den harten Brexiteers verbündet hat und die politischen Mitte zu den Liberaldemokraten und Labour abwandert, braucht er die Stimmen aller Wayne Walkers, um in Downing Street bleiben zu können. Sonst geht er als der kürzestdienende Regierungschef in die britische Geschichte ein.