Junckers Vermächtnis
Mehr als drei Jahrzehnte lang gestaltete er die Europäische Union maßgeblich mit, zunächst als Finanz- und Premierminister Luxemburgs, dann als Chef der Eurogruppe, seit 2014 als Präsident der Europäischen Kommission.
Ende November tritt Europas Grandseigneur von der europäischen Bühne ab. Jean-Claude Juncker, der 65-jährige Christdemokrat aus Luxemburg, hat die EU durch mehrere Krisen gesteuert. Seine verbindliche Art, gepaart mit der Fähigkeit, auf seine Gesprächspartner einzugehen, war oft erfolgreich. Dazu kam noch eine Portion Humor, wenn er etwa Kollegen listig von hinten durchs Haar oder über die Glatze fuhr. Und viele von ihnen hatten weniger Angst vor seinen Begrüßungsküssen als vor seinen giftigen Bemerkungen. So begrüßte er einmal den ungarischen Premierminister Viktor Orbán mit einem forschen „Hallo, Dictator!“
Juncker übernahm 2014 die „Kommission der letzten Chance“, wie er die Aufgabe umschrieb, um die Bürger wieder für das Projekt Europa zu gewinnen. Seine wichtigsten Erfolge: Er trug maßgeblich dazu bei, dass Griechenland in der Eurozone bleiben konnte. Er verhinderte einen drohenden Handelskonflikt mit den USA. Und er hat auch einen ungeregelten Brexit, der auch der EU großen wirtschaftlichen Schaden zufügen würde, abgewendet.
Seine Rolle beim Brexit hat er aber auch selbst als seinen „größten Fehler“ bezeichnet. Er hat den Wunsch des damaligen britischen Premierministers David Cameron, sich nicht in die Debatte um den Austritt aus der EU einzumischen, befolgt. Aber er bezweifelte auch, ob er wirklich die Stimmung in Großbritannien zugunsten eines Verbleibs in der EU hätte beeinflussen können. „Hätte ich all diese Lügen, die in Großbritannien massiv verbreitet wurden, so kontern können, dass es was bewirkt hätte? Ich weiß es nicht“, sagte er in einem Abschieds-Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“.
Ein Kommissionspräsident brauche vor allem „große Ohren“, meinte er verschmitzt und spielte damit auf die Bereitschaft zum Zuhören an. Damit war er oft erfolgreich. Beim Streit um das Budgetdefizit Italiens hörte er sich zuerst die Forderungen des italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte geduldig an. Doch am Ende stimmte Conte den Ausgabenkürzungen der EU zu.
Und im Streit mit US-Präsident Donald Trump, der Juncker wiederholt einen „brutalen Killer“ nannte, wandte er ähnliche Methoden an. Ja, er habe einen guten Draht zu Trump, auch weil er ihm widersprochen habe, so Juncker. Immerhin erreichte er einen Aufschub bei den angedrohten US-Zöllen auf Auto-Importe aus Europa.
Juncker hatte auch mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel einen vertrauensvollen Kontakt etabliert. Er habe es für richtig empfunden, dass Merkel 2015 mitten in der Flüchtlingskrise die Grenzen nicht geschlossen habe.
Doch die Migrationskrise war allen EU-Politikern, so auch ihm, entglitten. Die von Juncker geforderte Aufteilung der bereits in Griechenland und Italien gelandeten Flüchtlinge war in vielen Staaten, vor allem in Mittel- und Osteuropa, auf energischen Widerstand gestoßen, obwohl es dabei oft nur um einige tausend Personen pro Land ging. Vor allem Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei wollten bei der Aufnahme von Migranten keinerlei Solidarität zeigen. Und die EU-Kommission verfügte über keinerlei Sanktionen, um dieses Verhalten zu ahnden. Vorschläge, wie vom Budgetkommissar Günther Oettinger, der EU-Förderungen von der Aufnahmebereitschaft der Länder bezüglich Migranten abhängig machen wollte, fanden bislang keine Mehrheit. Aber bei den 2020 beginnenden Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen werden ähnliche Forderungen mit Sicherheit neuerlich erhoben werden. „Die EU wird von vielen neuen Mitgliedsländern als eine Art Bankomat missverstanden“, erklärte Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn, zuletzt für die Erweiterung und Nachbarschaftspolitik, in der neuen Kommission fürs Budget zuständig.
Er habe die kulturellen Unterschiede zwischen den neuen und alten Mitgliedsstaaten unterschätzt, gab Juncker freimütig zu.
Jetzt rächte es sich, dass sich die Bürger der neuen Mitgliedsländer in der EU diskriminiert fühlten. Mit wenigen Ausnahmen – wie dem Polen Donald Tusk als Präsident des Europäischen Rates, zuvor dem polnischen Politiker Jerzy Buzek als Präsident des Europäischen Parlaments oder zuletzt der Bulgarin Kristalina Georgieva als neue Chefin des Internationalen Währungsfonds - gab es für Politiker aus den neuen Mitgliedsstaaten selten hohe Positionen in den EU- oder internationalen Gremien.
Die EU-Kommission hätte auch früher das Verhalten mancher Lebensmittelkonzerne, die minderwertigere Produkte extra für die neuen Länder produzierten, ahnden müssen. Und vielleicht hätte Juncker auch öfter in den Osten der EU reisen sollen.
Dass er wegen seines Ischias-Leidens oft mit Alkohol-Problemen in Zusammenhang gebracht wurde, habe ihn anfangs weniger geärgert als seine Familie. Aber dann habe er darauf nicht mehr reagiert, meinte er. Zuletzt hat er auch eine gefährliche Aneuyrisma-Operation überstanden.
Juncker wusste zu gut über die Krankengeschichte der EU. Schon 1999 meinte er bei einem EU-Gipfeltreffen in Tampere: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter: Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."
Diese Methode konnte in einer Union mit 28 Mitgliedern nicht mehr funktionieren, das wusste auch Juncker. Aber der Lissabon-Vertrag hatte die Zuständigkeiten für nationale Regierungen gerade im heiklen Asylwesen oder in der Steuerpolitik nicht eingeschränkt. Daher war auch eine Initiative für eine Steuer auf Finanztransaktionen oder eine CO2-Steuer am Widerstand einiger Mitgliedsstaaten gescheitert.
Worauf Juncker besonders stolz ist: sein „Plan für strategische Investitionen“. Mit der Hebelwirkung sollten bis 2020 bis zu 500 Milliarden Euro an Garantien für neue Projekte aufgebracht werden. Doch der Europäische Rechnungshof kritisierte in einem Bericht, dass dieser Fonds hauptsächlich in den alten EU-Staaten genützt wurde und meist nur private Finanzierungsmöglichkeiten verdrängt habe. „Wir wollen vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen fördern. Dort sind die meisten Arbeitsplätze in der EU“, sagte er „profil“. „Aber auch die schleichende Entindustrialisierung Europas muss gestoppt werden.“
Doch beim Kampf gegen Steuerdumping der großen Konzerne holte Juncker seine Vergangenheit als Premierminister eines Steuerparadieses ein. Jetzt waren all jene Modelle, wonach sich multinationale Konzerne in Ländern mit geringen Steuersätzen niederließen, plötzlich in Kritik geraten. Er habe nichts Illegales getan, verteidigte sich der Luxemburger.
Juncker wird dennoch als wirkungsvoller und durchsetzungsstarker Präsident der EU-Kommission in die europäische Geschichte eingehen. Seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen hat den Klimaschutz als Priorität der neuen Kommission verankert. Sie wird sowohl mit Handelskonflikten, die weltweit zunehmen, als auch mit dem härteren Widerstand gegen Freihandelsverträge konfrontiert sein. Sollte Großbritannien die EU verlassen, muss sie auch mit der wichtigeren Rolle von Deutschland und Frankreich umgehen und auch auf die mittleren und kleineren Länder zugehen. Der Luxemburger Juncker hat die Rolle der kleineren EU-Staaten immer betont. Der Sohn eines Stahlarbeiters hatte den sozialen Ausgleich gleichsam in den Genen. Europa wird Juncker als wichtigen Gestalter bald vermissen.