Justizumbau in Israel: Einspruch!
Jerusalem. „Buscha!“ Seit nunmehr sieben Monaten ertönt im ganzen Land ein vielstimmiger Protestschrei. Buscha – die Betonung liegt auf der zweiten Silbe – ist das hebräische Wort für Schande. Es ist ein Ausdruck der geballten Verachtung für das Ansinnen der rechtsreligiösen, ultranationalistischen Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu, die unabhängige Justiz zu stutzen. Immerhin geht es um die wichtigste Kontrollinstanz der israelischen Demokratie.
Mit Netanjahus Koalition einen Kompromiss zu finden, erwies sich als Ding der Unmöglichkeit. Die Vermittlungsversuche von Staatsoberhaupt Yitzhak Herzog stießen ebenso auf Granit wie jene der Gewerkschaften. Auch die unverhüllte Mahnung von US-Präsident Joe Biden an Netanjahu, „sich um einen möglichst breiten Konsens zu bemühen“, verhallte. Ungerührt zog die Regierung am vergangenen Montag das erste Gesetz ihrer sogenannten Justizreform wider alle Einsprüche durch. Das Votum endete mit 64 zu 0. Die 56 Abgeordneten der Opposition hatten sich mit „Buscha“-Rufen vor der Abstimmung aus dem Knesset-Plenum verabschiedet. Und so konnte die Regierung ihren Plan, die Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofs massiv einzuschränken, ohne eine einzige Gegenstimme durchziehen. Netanjahu kann künftig walten, ohne die Einmischung der Obersten Richter zu fürchten.
Der Oberste Gerichtshof ist die letzte Barriere zwischen uns und einer Diktatur.
Doch Israels außerparlamentarische Opposition denkt nicht ans Aufgeben. Der Kampf zur Verteidigung der Demokratie sei noch längst nicht vorbei, meint Avner Malkov: „Wir sind Langstreckenläufer.“ Der 82-jährige Architekt pilgert mit seiner Partnerin Hanna seit Monaten samt blau-weißer Nationalfahne zu Anti-Regierungs-Demos in Jerusalem und Tel Aviv. Weder Hitze noch lange Fußmärsche schrecken den Veteranen des Jom-Kippur-Krieges von 1973 ab. In den Tagen vor der Knesset-Abstimmung hat Malkov wie Tausende andere Demonstranten das Jerusalemer Regierungsviertel belagert. Auch in der Nacht danach, als berittene Polizei und Wasserwerfer Jung und Alt auseinandertrieben, war er vor Ort.
„Das ist eine Frage der Priorität“, sagt Avner Malkov. Schließlich sei nichts wichtiger, als die Abschaffung der Demokratie zu verhindern, wie sie in Polen oder Ungarn bereits geschehen sei. Für ihn steht fest: „Der Oberste Gerichtshof ist die letzte Barriere zwischen uns und einer Diktatur.“
Das rechtsnationale Lager ist begeistert
Weil Israel keine Verfassung hat, sondern nur einzelne Grundgesetze, kommt es umso mehr auf die höchstrichterliche Instanz an. Der Gerichtshof kann Regierungsentscheidungen kippen, die er als überzogen oder willkürlich einstuft. Die Obersten Richter haben davon nur selten Gebrauch gemacht. Zuletzt etwa im Jänner, als sie die Bestellung des wegen Korruption und Steuerhinterziehung vorbestraften Politikers der ultraorthodoxen Schas-Partei Arieh Deri zum Minister verhinderten.
In einem anderen Fall hoben die Richter das Einreiseverbot für 100 Palästinenser auf, die zu einer gemeinsamen Gedenkfeier mit Israelis eingeladen waren. Möglich wurden diese Entscheidungen dank der im Grundgesetz verankerten Angemessenheitsklausel. Genau diese Klausel hat die Regierung jetzt gestrichen. Sie will durchregieren, ohne Rücksicht auf richterliche Einsprüche.
Das rechtsnationale Lager ist begeistert. Am Swimmingpool eines Jerusalemer Sportzentrums klopfen einander die Fans von Netanjahus Likud-Partei auf die nackten Schultern. Soeben ist die Nachricht vom einstimmigen Knesset-Beschluss auf ihren Handys erschienen. Die meisten von ihnen sind Misrahim, orientalische Juden, die mit Ärger auf die europäisch geprägte Elite in den hohen Ämtern blicken. Zwar gehört auch Likud-Boss Netanjahu zu dieser Elite. Aber ähnlich wie bei Donald Trump in den USA beruht sein Erfolg nicht zuletzt darauf, sich als Volkstribun der kleinen Leute zu verkaufen.
Doch Netanjahus Stern scheint zu sinken. In den Umfragen hat seine Koalition, die für ein Israel nach ihrer Fasson die Grundfesten des Staates verrücken will, längst keine Mehrheit mehr. Da hilft auch Netanjahus Mantra nichts, der erste Schritt zum Umbau der Justiz sei „die Realisierung des Wählerwillens und nicht das Ende der Demokratie“, sondern ihre „Essenz“.
Dass Netanjahu als Premier das Land in seine tiefste Krise seit der Staatsgründung gestürzt hat, scheint er nicht wahrhaben zu wollen. Nahezu der gesamte israelische Hightech-Sektor, der weltweit zu den Top 10 gerechnet wird, steht hinter der oppositionellen Protestbewegung. 70 Prozent der Start-ups sollen bereits Gelder und Business-Teile ins Ausland umgesiedelt haben. Am vergangenen Montag gaben zahlreiche Unternehmen ihren Angestellten frei, damit sie an den landesweiten Protesten teilnehmen konnten. Klinikärzte legten einen Streiktag ein. Sogar einige Banken und Shoppingcenter blieben geschlossen. An der Börse in Tel Aviv fielen die Aktienkurse um zwei Prozent.
Die Justizreform als Sicherheitsrisiko
Die Pläne der Regierung könnten der Wirtschaft erheblichen Schaden zufügen. Noch unabsehbarer sind die Folgen für
Israels Verteidigungsbereitschaft. Rund 12.000 Reservisten, darunter 260 Kampfpiloten, haben angekündigt, keine freiwilligen Einsätze mehr zu leisten. Sie wären bereit, einem freiheitlichen Rechtsstaat zu dienen, nicht aber einer Regierung, die demokratische Grundsätze breche.
Doch die Regierung will von ihren Plänen keinen Zentimeter abrücken. Beim geplanten Justizumbau ist das nächste Ziel bereits gesetzt: Im Oktober, nach der Sommerpause und den hohen jüdischen Feiertagen, soll das Komitee zur Richterwahl unter Kabinettskontrolle gebracht werden.
Netanjahu könnte sich mit dem Ende der Angemessenheitsklausel zufriedengeben. Aber ist er überhaupt noch in der Lage, die Scharfmacher in seiner Ministerriege zu zügeln? Sie wollen die Justiz auch deshalb entmachten, um ungehindert Gebiete im Westjordanland zu annektieren.
In seinen früheren Amtsjahren genoss Netanjahu den Ruf des selbstherrlichen Chefs, der am liebsten alles allein bestimmt. Das Bild hält sich bis heute. Auch auf den Pappschildern bei den Massenprotesten tauchte es auf. Eine Zeitungskarikatur zeigt den Premier in Dreifaltigkeit: in der Mitte als „King Bibi“ mit königlicher Krone, als den ihn seine treuesten Anhänger verehren; rechts und links davon mit Richterperücke und Polizistenmütze.
Es ist eine Versinnbildlichung des Koalitionsvorhabens, Judikative und Exekutive auf Regierungslinie zu bringen.
Ist Netanjahu dabei noch treibende Kraft – oder doch Getriebener der Extremisten in seinem Kabinett?
Nach Befund von Anshel Pfeffer, Kommentator der israelischen Tageszeitung „Haaretz“, ist „Bibi“ inzwischen „Israels schwächster Premierminister aller Zeiten“. Die Eigenmächtigkeit, die Netanjahu früher als „Big Boss“ an den Tag legte, ist verpufft. Heute bestimmen andere, wo es langgeht: Netanjahus Parteifreund und Justizminister Jariv Levin etwa, der nicht gerade vor Charisma strotzt, aber im stramm rechten Likud eine mächtige Bastion anführt. Oder die beiden Extremisten im Kabinett: Itamar Ben-Gvir, trotz Vorstrafen wegen Hassdelikten zuständig für Israels nationale Sicherheit, sowie Finanzminister Bezalel Smotrich, dem auch der Siedlungsbau und die militärische Zivilbehörde in den besetzten Gebieten unterstehen. Ohne die von Ben-Gvir und Smotrich angeführten „Religiösen Zionisten“ hätte Netanjahu keine Regierungsmehrheit in der Knesset.
Mit „Bibi“ allein wäre vielleicht noch ein Kompromiss zu machen gewesen. Doch die sogenannte Justizreform entspringt der Feder Jariv Levins. Der sonst oft finster dreinblickende Justizminister strahlte, als sein „Baby“, wie das Gesetz zur Streichung der Angemessenheitsklausel mitunter genannt wird, verabschiedet war. Während Netanjahu, der nach dem Einsetzen eines Herzschrittmachers aus dem Krankenhaus in die Knesset geeilt war, recht blass aussah.
Dabei könnte es dem Premier auch persönlich nutzen, dass sich die Regierung künftig kaum noch um richterliche Interventionen scheren muss. Netanjahu ist Angeklagter in einem laufenden Verfahren wegen Bestechungsvorwürfen, Betrugs und Vertrauensbruchs. Mit maßgeschneiderten Gesetzen ließen sich seine Chancen auf einen vorteilhaften Prozessdeal durchaus verbessern.
Kein Pardon für Abweichler
Letztlich war es Netanjahu, der lieber eine Staatskrise riskierte als den Koalitionsfrieden. Noch vor der kritischen Abstimmung in der Knesset hatte sein Büro Likud-Abgeordnete gewarnt, für Abweichler werde es kein Pardon geben.
Und so unterwarf sich am Ende auch Verteidigungsminister Joav Gallant der Koalitionsdisziplin. Im Frühjahr hatte er sich noch quergestellt, war geschasst und dann, angesichts eines öffentlichen Entrüstungssturms, wieder eingestellt worden. Damals hatte ihn die Protestbewegung als Helden gefeiert.
Heute gilt Gallant als rückgratloser Umfaller. Als reine Ausrede lässt sich seine Erklärung, er halte es für „das Beste, in diesen Zeiten am Steuer zu bleiben“, allerdings nicht abtun. Die Sicherheitslage an Israels Nordgrenze zum Libanon ist brenzlig. Pro-iranische Hisbollah-Kämpfer tauchen seit Wochen zunehmend provokanter nahe dem israelischen Gebiet auf, filmen und versuchen, den Grenzzaun zu beschädigen.
Die Wut gärt auch unter den Palästinensern im Westjordanland. Angesichts gehäufter bewaffneter Übergriffe nationalreligiöser Siedler ist ihre Neigung zur Gewalt wieder gewachsen. Womöglich bahnt sich eine neue Intifada an, ein palästinensischer Aufstand gegen Israel. Bei den israelischen Demonstrationen wurde lange Zeit ausgeblendet, was in den Stachim geschieht, den besetzten Gebieten. Doch mittlerweile hat sich der linke Block, wenngleich eine Minderheit, als feste Größe der Proteste behauptet. „Es gibt keine Demokratie mit einer Besatzung“, steht auf den schwarzen Bannern.
Israels Generalstabschef Herzl Halevi muss sich aus vielerlei Gründen über die operativen Kapazitäten seiner Streitkräfte sorgen. Der Armee dürfte der massenhafte Ausfall von Reservisten zwar erst in einigen Wochen zu schaffen machen. Die Airforce und einige Spezialeinheiten würden aber recht bald mit Problemen konfrontiert, warnt der Militärexperte Amos Harel.
Und auch der tiefe politische Riss, der sich durch die israelische Gesellschaft zieht, könnte die Kampfmoral mindern. Für Offiziere wie Soldaten, die sich von der Regierungspolitik persönlich verletzt sehen, werde es hart sein, so Harel, „in der Uniform zu bleiben und ihrer Verpflichtung wie gehabt nachzukommen“.
Netanjahu scheint sich darauf zu verlassen, dass die Reservisten ihren Boykott, weiterhin zum freiwilligen Dienst anzutreten, im Ernstfall aufgeben. Genauso wenig fürchtet er offenbar, dass sein Zerwürfnis mit Joe Biden, einem langjährigen Freund Israels, zu nachhaltigen Konsequenzen führt. Mit Blick auf die US-Wahlen im kommenden Jahr kann Biden es sich kaum leisten, von den Republikanern mangelnde Solidarität mit dem jüdischen Staat vorgeworfen zu bekommen. Und die jährliche, 3,8 Milliarden Dollar schwere US-Militärhilfe an Israel steht sowieso nicht infrage.
Netanjahus Koalition rechnet damit, dass die Motivation der Demokratieverfechter, massenhaft auf die Straße zu gehen, über den langen, brennend heißen Nahost-Sommer dahinschmelzen wird. Doch da könnte sich das rechte Lager verschätzt haben. „Ich mache weiter“, erklärt der 82-jährige Avner Malkov, „selbst wenn ich der Letzte bin.“ In der größten je da gewesenen israelischen Protestbewegung wird bereits über neue Strategien nachgedacht. Sie hat eine Schlacht verloren, am Ende ist sie nicht.
Zum Durchhalten entschlossen sind allerdings auch ihre Gegner. Gerade weil ihre Chancen schlecht stehen, wiedergewählt zu werden, wird die ultrarechte Koalition ihre einmal errungene Macht kaum aufs Spiel setzen. Und der nächste reguläre Wahltermin im Oktober 2026 liegt noch in weiter Ferne.
Entschieden ist der Kampf um Israels Zukunft jedenfalls noch nicht.