Kann es einen Alltag im Taliban-Regime geben?
„Es gibt hier fast niemanden, der nicht raus will“, sagt Mohammad Zahed, während er auf dem Boden seines Gästezimmers sitzt und Obst für seine fünfjährige Tochter schneidet. Die Frage, wie man dem Alltag in Afghanistan entfliehen kann, ist in seiner Wohnung ständig Thema. Aber verschwinden ist teuer. Der Markt für Reisedokumente boomt. Wer ein Visum für Pakistan, Iran oder Kasachstan möchte, muss mittlerweile eine dreistellige Summe in Dollar hinblättern. Einst war Zahed für die deutsche Bundeswehr und die US-Truppen als Kommunikationstechniker tätig. Er legte Leitungen, verdiente gutes Geld und gewann neue Freunde. Ohne seine Expertise hätten jene westlichen Soldaten, die 20 Jahre lang in Afghanistan stationiert waren, nicht miteinander kommunizieren können.
Dann, im August 2021, kamen die Taliban. Die internationalen Truppen zogen ab und alles brach zusammen. „Sie haben sich ihrer Verantwortung entzogen“, resümiert Zahed heute. Er meint damit nicht nur die politische Verantwortung des Westens im Allgemeinen, sondern auch die Verantwortung ihm, einem Arbeitskollegen, gegenüber. Im Gegensatz zu vielen anderen sogenannten Ortskräften wurde Zahed nicht außer Landes gebracht. Er lebt weiterhin mit seiner Familie in Kabul, oder besser gesagt: Er ist untergetaucht. Als einstiger Verbündeter der westlichen Truppen gilt er in den Augen der neuen Machthaber als Feind und Verräter.
Es gibt hier fast niemanden, der nicht raus will
August 2023: Die Taliban feiern ihren Sieg
Seit nun zwei Jahren regieren die militant-islamistischen Taliban wieder Afghanistan. Die alte Armee ist zerfallen, die republikanische Regierung ins Exil geflüchtet. Im Oktober 2001, nach den Al-Qaida-Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon, war das „Islamische Emirat Afghanistan“ gefallen, nachdem die NATO unter der Führung der USA ins Land einmarschiert war. Doch nun ist das alte Regime wieder an der Macht. Die weißen Flaggen mit der Schahada, dem islamischen Glaubensbekenntnis, sind omnipräsent. Mehrere Millionen US-Dollar sollen die Taliban für die Symbole ausgegeben haben, während die Bevölkerung hungert und von einer Krise in die nächste wandert.
Diese Woche jährt sich die Machtübernahme zum zweiten Mal. In den nächsten Tagen wollen die Taliban ihren „Sieg“ gegen die westlichen Truppen und ihre afghanischen Verbündeten abermals in propagandistischer Manier zelebrieren. Aber viele Afghanen sind der Meinung, dass die Taliban gar nicht militärisch gesiegt hätten. Stattdessen sei das Land mittels politischer Deals verkauft worden. Zu Erinnerung: Im Februar 2020 unterzeichnete der damalige US-Präsident Donald Trump in Katar ein historisches Abkommen mit den Taliban. Die USA verpflichteten sich darin, ihre Streitkräfte abzuziehen.
Heute wollen die Machthaber ein anderes Narrativ verbreiten. Im vergangenen Jahr marschierten maskierte Extremisten durch die Hauptstadt, während die Angehörigen von Selbstmordattentätern vom Regime hofiert wurden. Der staatliche Radiosender RTA, der sich einst bemühte, divers und modern zu berichten, stellte Sprengstoffwesten, Kalaschnikows und Handgranaten zur Schau. Auch Kinder werden von den Taliban instrumentalisiert und eifern ihnen nach. „Ich möchte wie mein Vater werden. Irgendwann habe ich meine eigene Einheit“, sagt der gerade mal achtjährige Bilal. Wenige Meter von ihm entfernt, nahe des Dar-ul-Aman-Palasts im Westen Kabuls, patrouilliert sein Vater mit einigen anderen Taliban-Kämpfern. Der Kabuler Sommer macht auch ihnen zu schaffen. Vorbeifahrende Autos werden mit Desinteresse durchgewunken. „Was sollen diese Kinder sonst schon lernen. Diese Gewalt ist allgegenwärtig – und sie wird die Zukunft sein“, sagt Hakim (Name von der Redaktion geändert), der sich mittlerweile an die Präsenz der Taliban-Kämpfer gewöhnt hat. Früher wagte sich der Taxifahrer kaum aus Kabul und mied jene Gebiete, die von den Taliban kontrolliert wurden. Doch heute kann sich niemand den neuen Machthabern entziehen. Sie kontrollieren praktisch das gesamte Land und tummeln sich mittlerweile auch in den Cafés und Restaurants, die sie einst in die Luft jagten. In den Provinzen Baghlan und Panjshir, wo sich einige Widerstandskämpfer bis heute verschanzt haben sollen, tut sich nicht mehr viel.
In beiden Regionen sollen sich seit der Machtübernahme der Taliban mehrere Kriegsverbrechen ereignet haben. Eine unabhängige Berichterstattung ist nicht möglich. Journalisten, die – wenn überhaupt – eingelassen werden, bekommen einen Talib an die Seite gestellt, einen Aufpasser aus den Reihen der Taliban.
Auch Kinder werden von den Taliban instrumentalisiert und eifern ihnen nach
Zur Person
Emran Feroz (geboren 1991 in Innsbruck) ist ein österreichisch-afghanischer Journalist. Sein Buch „Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror“ (Westend Verlag, 2021) war ein Bestseller. Feroz berichtet regelmäßig aus Afghanistan – so auch vergangene Woche. Mittlerweile ist der Reporter zurück in Europa.
Ein Tal als Freiluftgefängnis
Vor allem im Panjshir-Tal nördlich von Kabul, das in den 1990er-Jahren unter dem Mudschaheddin-Kommandanten Ahmad Shah Massoud als Anti-Taliban-Bastion bekannt wurde, dominiert heute die Unterdrückung der neuen Machthaber. Die Taliban üben Rache.
Während der US-Besatzung Afghanistans wurden mehrere Kernministerien, darunter etwa das Verteidigungs- sowie das Innenministerium, von Massouds einstigen Kommandanten dominiert. Massoud selbst wurde zwei Tage vor den Anschlägen des 11. Septembers 2001 von Al-Qaida-Extremisten getötet. Wer heute nach Panjshir will, muss sich den Taliban stellen und ist massiver Überwachung ausgesetzt. Das gilt auch für gewöhnliche Afghanen aus anderen Provinzen. „Wir wurden befragt und mussten letzten Endes gehen“, erinnert sich Karim Mohammadi. Gemeinsam mit seinen Freunden hatte der 25-jährige Student einen Tagestrip ins Tal geplant, doch ihnen wurde seitens der Taliban-Kämpfer vor Ort kein Einlass gewährt. Die Menschen aus Panjshir seien praktisch in einem Freiluftgefängnis, meint Mohammadi.
Schönheitssalons müssen schließen
Viele gehen so weit, ganz Afghanistan als ein solches Gefängnis zu bezeichnen. Seit der Rückkehr der Taliban ist das Land in die Isolation zurückgefallen. Humanitäre Katastrophen und wirtschaftliche Stagnation sind überall zu spüren. Besonders schlimm ist die Situation für Mädchen und Frauen, die vom Schul- und Universitätsverbot der Taliban betroffen sind. Hinzu kommen stetig neue Arbeitsverbote. Für Aufsehen und Empörung sorgte die jüngst erlassene Massenschließung von Schönheitssalons. „Ich hatte sechs Lehrlinge. Meinen Salon leitete ich 15 Jahre lang. Dass ich nun schließen muss, ist nicht nur mein Ruin“, sagt Sharifa, Anfang 50, aus dem Westen Kabuls. Während einige Arbeiter ihren Salon ausräumen, ist sie den Tränen nah. Sharifa erzählt, dass Salons wie der ihrige nicht nur die Existenz von Frauen sicherten und deren Unabhängigkeit förderten, sondern auch ein Ort der Zusammenkunft waren. Die Taliban können damit nichts anfangen. Ihre Sittenwächter, die stets paranoid durch die Stadt geistern, um möglichen „moralischen Vergehen“ auf die Schliche zu kommen, haben dafür kein Verständnis.
„Diese Idioten sehen überall Prostitution und Moralverfall“, sagt einer der Arbeiter wütend, während er Sharifa beim Ausräumen hilft. Wer seinen Salon nicht ausräumt, hat mit Strafen und Enteignung zu rechnen. Sharifa ist nicht die einzige Unternehmerin, die aufhören muss. Zehntausende Schönheitssalons existierten bis vor Kurzem im gesamten Land. Ähnlich wie Oberstufenschulen und Universitätskurse für Mädchen werden auch sie nun in den Untergrund tauchen. Sharifa will weiterhin arbeiten – von zu Hause aus. Auch damit ist sie nicht die Einzige. „Meine Friseurin hat ihr Haus bereits umfunktioniert. Ich werde sie weiterhin aufsuchen“, sagt Samira Rahmani, eine Lehrerin aus Kabul. Dann erzählt sie von einer Bekannten, die nun vorhat, nach Pakistan zu flüchten. „Sie möchte ihren Salon dort wiedereröffnen“, sagt sie.
Diese Idioten sehen überall Prostitution und Moralverfall.
Für Mohammad Zahed, der einst für die ausländischen Soldaten arbeitete, ist hingegen klar, dass das Afghanistan der Taliban keine Zukunft für seine Familie bieten kann. „Das wird nie der Fall sein. Diese Menschen werden sich nie ändern, und ich muss an meine Töchter denken“, sagt er. Nachdem die Deutschen ihn zurückgelassen haben und auf seine Mails nicht mehr reagieren, will er sein Glück in den USA versuchen. Für ein SIV – ein Special Immigrant Visa – hat er sich, ähnlich wie Hunderttausende Afghanen und Afghaninnen, bereits beworben. Ein alter Freund beim US-Militär will ihm helfen. „Die Taliban können das Land gerne haben – mit all jenen, die so denken wie sie“, sagt Zahed.