Kann Israel den Krieg gewinnen?
Von Siobhán Geets
Schriftgröße
Daniel Hagari hat seine grüne Uniform gegen eine Kampfausrüstung ausgetauscht. Anfang vergangener Woche nimmt der Sprecher der Israelischen Armee (IDF) im Norden Gazas ein Video auf, um zu erklären, warum Israel auch Krankenhäuser ins Visier nimmt. Er führt hinab in einen Tunnel, der mit dem Al-Rantisi-Spital ein paar hundert Meter weiter verbunden sein soll.
Das Anfang vergangener Woche erschienene Video zeigt Hagari im Keller der kürzlich evakuierten Kinderklinik. Da steht ein Motorrad mit Einschussloch, da liegen Waffen, Sprengstoffwesten, Granaten. In einer Ecke ein Stuhl mit den Resten einer Fessel, daneben Windeln, eine Babyflasche. An der Wand eines Aufenthaltsraums mit Sofas klebt ein Kalender mit durchgestrichenen Wochentagen auf Arabisch, beginnend mit dem 7. Oktober, dem Tag des Angriffs der Hamas auf Israel. Hier, so Hagari, hätten sich die Terroristen mit Geiseln verschanzt. In den sozialen Medien wurde das Video viel kritisiert, die Skepsis gegenüber Hagaris Behauptungen ist groß. Seine Angaben können nicht unabhängig verifiziert werden.
Das Video soll die Angriffe der IDF auf Spitäler rechtfertigen. Die Lage in den Krankenhäusern Gazas ist fatal. Mediziner berichten vom Gestank der Leichen, die notdürftig verscharrt werden, von Eingriffen, die ohne Betäubung durchgeführt werden müssen, und von Patienten, die nicht mehr versorgt werden können. Es mangelt an allem, zahlreiche Menschen sollen deswegen bereits gestorben sein, darunter Säuglinge.
Nicht nur internationale Hilfsorganisationen rufen Israel dazu auf, die Kämpfe rund um Spitäler zu stoppen. Auch die USA mahnen, diese nicht zu beschießen.
Doch davon will Israel nichts wissen. Am Mittwoch vergangener Woche rückte die IDF bis ins Al-Schifa-Krankenhaus vor, unter dem Israel und die USA eine Kommandozentrale der Hamas vermuteten. Laut der IDF wurden in dem Spital Waffen gefunden und Terroristen getötet, man habe das Hauptquartier der Hamas ausgehoben – genau das also, was Israel mit seiner Offensive im Gazastreifen erreichen will: die Hamas militärisch auszulöschen.
Im Grunde genommen wollte die Hamas genau das, was geschehen ist: eine groß angelegte Eskalation.
Doch das Vorgehen Israels schadet dem internationalen Ansehen des Landes schwer. Das wiederum nutzt der Hamas, die Israel international isolieren und politisch destabilisieren möchte. Wer ist seinem Ziel näher?
Hat die Hamas mit ihrem Angriff am 7. Oktober erreicht, was sie wollte?
„Im Grunde genommen wollte die Hamas genau das, was geschehen ist“, sagt der Nahost-Experte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin: „Eine groß angelegte Eskalation.“
Nach dem barbarischen Angriff auf israelische Zivilisten mit rund 1200 Toten und 240 verschleppten Geiseln hat Israel eine Großoffensive im Gazastreifen gestartet. Mehr als 11.000 Menschen sollen dabei bisher getötet worden sein, fast die Hälfte davon Kinder. Weltweit wächst das Entsetzen über das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Die Hamas nutzt Spitäler als Kommandozentralen, Stützpunkte für Raketenangriffe auf Israel. Das Kalkül der Terroristen ist aufgegangen: Israel bombardiert diese Hamas-Zentren – und die Bilder von getöteten Palästinensern gehen um die Welt.
„Israels Stärke erlaubt es dem Land, palästinensische Zivilisten zu töten, die palästinensische Infrastruktur zu zerstören und sich den weltweiten Aufrufen zur Zurückhaltung zu widersetzen“, schreibt Jon B. Alterman von der Denkfabrik „Centre for Strategic and International Studies“ in Washington. „All diese Dinge fördern die Kriegsziele der Hamas.“
Ein weiterer Teilerfolg der Hamas ist, dass der Angriff am 7. Oktober den Konflikt wieder auf die Tagesordnung gebracht hat. So ähnlich formuliert es auch die Führung der Hamas. Die Köpfe der Terrororganisation leben im Libanon, in Katar oder anderswo im arabischen Raum, doch einigen Medien, darunter die „New York Times“, ist es gelungen, mit ihnen zu sprechen. Man habe etwas Großes geplant, heißt es da, einen nie da gewesenen Angriff auf Israel, der den Status quo zerstört und einen großen regionalen Krieg provoziert.
Dieses Ziel hat die Hamas nicht erreicht. Keiner der arabischen Staaten kam ihr im Kampf gegen Israel zur Hilfe, ein Flächenbrand ist bisher ausgeblieben – wenn auch die iranische Miliz Hisbollah und die Huthi-Rebellen im Jemen Angriffe auf Israel gestartet haben.
Was sind die allgemeinen Ziele der Hamas?
Die Hamas sei ein „Glied in der Kette des Dschihad gegen die zionistische Invasion“, heißt es schon im Gründungspapier der Hamas von 1988. Ziel sei die Auslöschung Israels. „Dieses Gründungsziel erhält die Hamas rhetorisch aufrecht“, sagt Kaim, „aber taktisch muss sie sich mit kleineren Erfolgen zufriedengeben“. Zwar sind die militärischen Kapazitäten der Hamas in den vergangenen Jahren gewachsen, doch die IDF bleibt militärisch hoch überlegen. Es handelt sich um einen asymmetrischen Konflikt zwischen einem Staat und einer Terrorbande.
Am Ende geht es der Hamas darum, Israel international zu isolieren. Erreicht werden sollen eine Entfremdung von der arabischen Welt, Empathie für die Palästinenser und antiamerikanische Ressentiments.
Nahost-Experte Alterman formuliert die langfristigen Ziele der Hamas folgendermaßen: „Die arabischen Staaten wenden sich entschieden von einer Normalisierung ab. Der Gglobale Süden schließt sich der palästinensischen Sache an, Europa schreckt vor den Exzessen der israelischen Armee zurück, und in den USA bricht eine Debatte über Israel aus, die die parteiübergreifende Unterstützung zunichtemacht, die Israel hier seit den frühen 1970er-Jahren genossen hat.“ Ziel der Hamas sei es, Israel von seinen internationalen Partnern zu entfremden und es zu dem Paria zu machen, der es nach Ansicht der Terrororganisation ist.
Das sei nicht gelungen, sagt Kaim. Mit den sogenannten Abraham Accords, den Abkommen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko, haben sich die Beziehungen zuletzt normalisiert. Zwar liegt ein solches Abkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien nun auf Eis, denn Riad hat Verbesserungen für die Palästinenser zur Bedingung erklärt. Experte Kaim sieht darin jedoch lediglich eine Vertagung. „Die Normalisierung der Beziehungen zu Israel ist Saudi-Arabien wichtiger als die Palästinenser.“ Immerhin gehe es um eine Transformation weg vom fossilen Zeitalter hin zu einer anderen Volkswirtschaft und technologischem Wandel: „Dafür braucht man Israel.“
Israel hat die Zerschlagung der Terrororganisation als Ziel ausgegeben. Doch was bedeutet das?
Diese Frage kann auch Experte Kaim nicht beantworten: „Das frage ich mich ehrlich gesagt auch.“ Was genau Zerschlagung bedeutet und wann „gut gut genug sei“, das sei letztlich eine politische Entscheidung.
Klar ist, dass es Israel kaum gelingen kann, jeden einzelnen Hamas-Kämpfer zu töten. Die Gewalt an der palästinensischen Zivilbevölkerung und die Zerstörung der Lebensgrundlagen Tausender im Gazastreifen könnte noch mehr Menschen radikalisieren, und auch im Westjordanland dürfte die Unterstützung für die Hamas nach den hohen Opferzahlen gestiegen sein. Und für die Köpfe der Terrororganisation stellen die Angriffe Israels keine Gefahr dar, denn sie leben im Ausland. Dort bleibt die Führungsriege der Hamas eine Gefahr – und könnte künftig dafür sorgen, dass sich die Terrororganisation neu gruppiert.
Eine mittel- und langfristige Strategie im Vorgehen Israels ist nicht erkennbar. Den Vorschlag der USA, den Gazastreifen nach Kriegsende unter eine internationale Verwaltung mit Beteiligung der Palästinensischen Autonomiebehörde zu stellen, hat die israelische Regierung zurückgewiesen. „Wir sind wieder bei Punkt Null“, sagt Kaim, „es gibt kein klares Statement aus Israel dazu, wie eine politische Ordnung aussehen könnte“.
Wie könnte eine politische Ordnung in Gaza nach Kriegsende aussehen?
Grob gesehen sind zwei Szenarien vorstellbar. Im ersten kommt es zu einem Kompromiss: Israel stimmt zu, den Gazastreifen unter die Aufsicht der Palästinensischen Autonomiebehörde zu stellen, arabische Staaten wie Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien kooperieren und helfen beim Wiederaufbau. Es ist die Grundlage für eine echte politische Lösung, mit der Palästinenser und Israelis friedlich nebeneinander leben können.
Israel müsse die internationale Unterstützung zurückgewinnen, allen voran jene der arabischen Staaten, schreibt Alterman. Zuletzt gehe es auch darum, die palästinensische Bevölkerung von der Hamas abzuspalten und eine alternative Kraft aufzubauen, der die Menschen vertrauen.
Im zweiten Szenario könnte es am Ende einen Status quo geben, in dem es den Palästinensern schlechter geht als je zuvor. „In einem solchen Szenario würde Israel die Kontrolle über den Gazastreifen behalten. Die Hamas wäre nur teilweise zerschlagen und könnte sich wieder neu gruppieren“, sagt Kaim. Früher oder später würde es dann wieder zu Gewaltkampagnen kommen.
Das wäre ganz im Sinne der Terroristen, die an einem Frieden kein Interesse haben. Für die Hamas ist schon der permanente Konflikt ein Gewinn.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.