Anleitung zum höflichen Separatismus

Katalanen: Anleitung zum höflichen Separatismus

Separatimus. Die neue Spezies von europäischer Unabhängigkeitskämpfern am Beispiel der Katalanen

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Separatismus ist meist unschön. Die, die ihn betreiben, die Separatisten also, haben üblicherweise etwas Unelegantes, Martialisches an sich, ob sie nun der nordirisch-republikanischen IRA, den Tamilischen Tigern auf Sri Lanka oder der baskischen ETA angehören. Sie tragen Masken, treten in schlecht gemachten Videos auf, tendieren zu ideologischem Irrwitz, tendenziöser Geschichtsschreibung, obsessiv vorgetragener Folklore – und außerdem legen sie Bomben.

Man kennt das.

Plötzlich aber tauchen an allen Ecken in Europa Separatisten auf, die ganz anders sind: Unvermummt, freundlich im Umgang und ganz ohne Drohgebärden fordern sie einen eigenen Staat. Von der nervigen Fixierung auf Folklore können zwar auch sie nicht ganz lassen, aber ansonsten haben sie mit dem klassischen Separatismus wenig gemein. Der Bau einer Autobombe etwa liegt ihnen fern.

Die Separatisten des neuen Typs kämpfen für einen unabhängigen Staat Schottland, Katalonien, Venetien, Flandern oder Sardinien (siehe Übersicht hier), und sie sind dabei zumindest nicht erfolgloser als ihre traditionell terroristischen Kollegen. Aber werden sie am Ende ihre eigenen Staaten bekommen? profil erläutert Glanz und Elend des höflichen Separatismus am Beispiel der Katalanen.

1. Stolz und Schmach
Jordi Solé i Ferrando trinkt heiße Schokolade im Gastgarten des Café Totote an der Plaça de la Font del Lleó im Städtchen Caldes de Montbui. Man könnte den 37-Jährigen einen spanischen Bürgermeister nennen. Dann ist er ein wenig beleidigt, und man kann sich seinen Café con leche womöglich selbst zahlen. Harschere Reaktionen lässt Solé i Ferrandos Sanftmut nicht zu. Viel lieber erläutert er ruhig die Sachlage: Wohl ist er seit sieben Jahren Bürgermeister von Caldes de Montbui, doch das 17.000-Einwohner-Städtchen 40 Bus-Minuten nördlich von Barcelona ist keine spanische Gemeinde und Solé i Ferrando daher auch kein spanischer Bürgermeister.
Das kam so: Am 28. Februar 2010 wurde in Caldes de Montbui ein Referendum durchgeführt, organisiert von privaten Organisationen. Unter dem Titel „Caldes entscheidet“ stimmten die Bürger darüber ab, ob ihre Gemeinde in Zukunft ein „freies und souveränes Territorium“ sein solle, auf dem die spanische Souveränität keine Gültigkeit mehr haben würde. Ergebnis: 95 Prozent der Teilnehmer stimmten mit Ja.

Solé i Ferrando lächelt zufrieden. Er ist jetzt Bürgermeister einer souveränen katalanischen Gemeinde. Die Tatsache, dass nur 20 Prozent aller Stimmberechtigten am Referendum teilnahmen, kann sein Nationalgefühl nicht beeinträchtigen. Eigentlich kann überhaupt nichts das Nationalgefühl des Politikers der Partei Republikanische Linke Kataloniens (ERC) beeinträchtigen.

Den Drang, Bürger eines freien Katalonien werden zu wollen, verspürte Solé i Ferrando schon im Alter von 15 Jahren. Zu Hause sprach die Familie – wie fast alle hier – Katalanisch, auch in der Schule war das Katalanische die Unterrichtssprache. Doch Jordi tat sich mit einigen Mitschülern zusammen und formte einen „Block für die Unabhängigkeit“. Die Schülerinitiative beschränkte sich darauf, Politiker einzuladen, die über die Utopie eines katalanischen Staates referierten. Resultat: „Wir hörten auf, der spanischen Nationalmannschaft die Daumen zu drücken.“
Man muss kein pubertierender Gymnasiast sein, um seine katalanische Identität zu entdecken. Aber es braucht eine Bereitschaft, brennende nationale Sehnsucht zu verspüren, die doch als mehrheitstaugliche politische Gesinnung in Europa seit Langem ausgedient hat.
Dringlichstes Erfordernis ist zunächst eine Nation. Dazu bedarf es einer eigenen Sprache, eigener Sitten, einer eigenen Kultur und schließlich eines Volkes. Zum Glück sprechen die Katalanen Katalanisch, eine Weiterentwicklung des Vulgärlateinischen. Das mag abwertend klingen, bedeutet jedoch, dass Katalanisch jedenfalls kein Dialekt des Spanischen ist.

Um dem Nationalismus auf die Sprünge zu helfen, sind katalanische Kulturgüter allgegenwärtig. Jordi Solé i Ferrando muss nur mit dem Kopf zum gegenüberliegenden Ende der Plaça de la Font del Lleó deuten. Da zeugt ein großes Plakat von der geliebten, unvergessenen Niederlage der Katalanen. Es ist über dem Eingang zum Stadtmuseum aufgespannt und trägt die Aufschrift „1714“. Vor exakt 300 Jahren standen die Katalanen im Spanischen Erbfolgekrieg auf der unterlegenen Seite der Habsburger. Am 11. September musste sich Barcelona den Truppen des Bourbonen Philipp V. ergeben. Alle katalanischen Institutionen wurden aufgelöst, fortan galten die Gesetze Kastiliens.

Es kann kein besseres Ereignis geben, um eine hungrige Nation zu begründen, als eine jahrhundertealte existenzielle Schmach. Der 11. September ist deshalb der logische katalanische Nationalfeiertag – zumal das Gedenkfeiern während des franquistischen Regimes verboten war, was den Feierlichkeiten heute noch mehr Gewicht verleiht.
Damit sind schon einmal die wichtigsten Elemente für eine starke separatistische Bewegung vereint: eine eigene Sprache, eine damit verbundene Kultur und eine historische Niederlage.
Bürgermeister Solé i Ferrando gerät ins Schwärmen. Drei oder vier Busse voller Bürger aus Caldes seien vorvergangenes Jahr am 11. September zur Großdemonstration nach Barcelona gefahren, und im vergangenen Jahr seien es bereits elf Busse gewesen! In diesem Jahr wird der 11. September ein ganz besonderer Tag, denn knapp zwei Monate später, am 9. November, wollen die 7,5 Millionen Katalanen in einem Referendum endgültig entscheiden, ob sie sich von Spanien loslösen und den Staat Katalonien gründen. Wie das ausgehen wird? Jordi Solé i Ferrando lächelt spitzbübisch, als wäre er noch der Schüler von 15 Jahren.

2. Reich und schön
Traditionelle Separatisten gründen ihren Staat mit dem festen Vorsatz, diesen anschließend vom Ausland aushalten zu lassen. Kosovo (2012), Süd-Sudan (2011) und Ost-Timor (2002) schneiderten sich selbstbewusst ihre Flaggen zurecht, ehe sie bei der internationalen Gemeinschaft schnorren gingen. Wirtschaftliche Überlebensfähigkeit verhält sich da umgekehrt proportional zum Nationalstolz.
Separatisten der neuen Generation hingegen haben dicke Brieftaschen. Katalonien, Flandern, Venetien oder Schottland sind ökonomisch eigenständige und attraktive Regionen. Mehr noch: Katalanen, Venezianer und Flamen sind überzeugt, dass sie ohne den Reststaat, von dem sie sich lossagen wollen, wirtschaftlich besser dastünden.
Xavier Cuadras Morato, Wirtschaftsprofessor an der Universität Pompeu Fabra, rechnet vor, dass Katalonien ein höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat als Gesamtspanien, und zwar sowohl vor als auch nach der Wirtschaftskrise. Gleichzeitig aber hat das spanische Immobilien- und Bankendesaster die Arbeitslosigkeit in Katalonien dramatisch ansteigen lassen. Die Separatisten leiten aus den Daten nur eines ab: Los von Madrid!

Kritiker von der konservativen Volkspartei, die gegen die Unabhängigkeit ist, wenden ein, die Separatisten suchten bloß den wirtschaftlichen Vorteil und verhielten sich unsolidarisch gegenüber ihren bisherigen Landsleuten. „Illoyal“ sei das, sich mitten in einer Krise aus der Verantwortung zu stehlen, zürnt etwa der katalanische PP-Abgeordnete Fer-nando Sanchez Costa. Nein, entgegnen die Separatisten; der neue Staat Katalonien sei gern bereit, als Nettozahler in der Europäischen Union seinen Beitrag zur Umverteilung zu leisten. Auch ein origineller Wesenszug der Separatisten: Lieber schicken sie ihr Steuergeld nach Brüssel als in die verhasste Hauptstadt ihres Herkunftslandes.

3. Kämpfen und Händchenhalten
Der bewaffnete Arm der katalanischen Separatisten häkelt gern. In den Auslagen der souveränen Gemeinden liegen von Hand gearbeitete Wollpölsterchen im Design der katalanischen Flaggenmotive. Tatsächlich existierte bis zu Beginn der 1990er-Jahre die katalanische Terrororganisation „Terra Lliure“, doch deren Anschläge forderten nur ein einziges Todesopfer – und das war ein Unfall. Allerdings starben mehrere Mitglieder der Organisation durch unsachgemäßes Hantieren mit Sprengstoff.

Moderne Separatisten sind höflich, zuvorkommend und bevorzugen jugendfreie Protestformen. 2010 drehte eine katalanische Jugendinitiative ein Musikvideo, auf dem 5771 Personen zum Liedtext die Lippen bewegten. Der Weltrekord, der im Guinness Buch der Rekorde vermerkt wurde, sollte auf die katalanische Sache aufmerksam machen. Mehr als zwei Millionen Menschen sahen den Film auf YouTube.
Noch eindrucksvoller als 5000 Menschen, die ihre Lippen bewegten, war der „Katalanische Weg“, eine Massendemonstration am 11. September 2013. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen bildeten damals eine 480 Kilometer lange Kette, und sie wollten das, wenn man dem Präsidenten der Katalanischen Nationalversammlung glaubt, als „Symbol für die Einheit des katalanischen Volkes, das nationale Souveränität anstrebt“, verstanden wissen.

Solche Aktionen sind naturgemäß sympathischer als die Old-School-Methode des Bombenanschlags mit Bekennerschreiben, und dennoch wirken Aufmärsche, die von nationalen Aufwallungen getragen sind, rückwärts gewandt und ein wenig gruselig – oder schlicht kindisch, wie die Beflaggung von Balkonen mit der katalanischen Senyera (fünf gelbe und vier rote Streifen) oder der Estelada (dieselben Streifen mit einem weißen Stern auf blauem Grund oder einem roten Stern auf gelbem Grund).
Separatistische Politiker wie Roger Montanola i Bousquets von der bürgerlichen Demokratischen Union Kataloniens wollen dem Nationalismusverdacht vorbeugen. Die katalanische Nation sei weder ethnisch-völkisch noch sprachlich definiert: „Jeder, der sich als Katalonien verbunden fühlt, kann der Nation angehören.“ Das gelte für anderswo in Spanien geborene Bürger ebenso wie für Immigranten.
Die neuen Separatisten sind schlau: Sie umarmen jeden, denn am Ende zählt bei einem allfälligen Referendum auch jede Stimme. Und darauf soll alles hinauslaufen: auf eine demokratische Abstimmung. Dass der spanische Staat das Referendum nicht anerkennen will, bringt die Katalanen auf die Palme. „Aber die Demokratie!“, rufen sie empört und hoffen, dass niemand bemerkt, dass ein Referendum über einen Austritt aus einem Staatswesen gemäß so gut wie keiner europäischen Verfassung legitim ist.

Außerdem ist die Fragestellung einigermaßen seltsam: „Wollen Sie, dass aus Katalonien ein Staat wird?“, lautet die erste Frage. Wer sie mit Ja beantwortet, kriegt noch eine gestellt: „Wollen Sie, dass dieser Staat unabhängig ist?“ Hm. Was ist ein Staat, der nicht unabhängig ist? Darauf wissen auch die Separatisten keine Antwort.

4. Irgendetwas fehlt
Im Restaurant des katalanischen Regionalparlaments sitzen Abgeordnete des außenpolitischen Ausschusses friedlich um einen Tisch und tauschen Argumente pro und contra Unabhängigkeit aus. Unter Außenpolitik versteht man hier die Beziehungen zu Madrid. Doch irgendwann, nachdem die Separatisten ihre historischen Wurzeln zurück bis ins 9. Jahrhundert nacherzählt und die demokratische Legitimität einer Volksabstimmung hergeleitet haben, stellt sich eine allerletzte Frage: Warum eigentlich?
Eine Rechtfertigung für die Gründung eines neuen Staates ist in unseren Tagen dramatischer Natur: Bürgerkrieg, Massaker, ethnische Säuberungen, der Zerfall eines Reiches. So entstanden Kosovo, Süd-Sudan, Ost-Timor, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Aber wieso Katalonien, Venezien, Schottland?

Die schlimmsten Geschichten von Unterdrückung durch den Zentralstaat, von denen Katalanen berichten können, betreffen die hohe Steuerquote, die sie an Madrid abliefern müssen – nach eigenen Berechnungen acht Prozent des BIP – und eine Bahnlinie für Güterzüge, welche die spanische Regierung in mutmaßlich böser Absicht an Katalonien vorbei planen will. Dazu kommt noch die angebliche Missachtung der katalanischen Sprache, die darin besteht, dass Madrid Katalanisch und Spanisch als gleichwertige Sprachen an den Schulen etablieren möchte, anstatt das Katalanische zu bevorzugen.

Das alles klingt maximal nach einem Beschwerdefall für den Ombudsman.
Der freundliche, demokratische, friedliche Separatismus hat alles, nur eines nicht: eine nachvollziehbare Existenzberechtigung. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eine viel zu vage Rechtfertigung, denn selbstbestimmt kann ein Volk auch in einem demokratischen, multiethnischen Staat sein. Kein Wunder, dass die Europäische Union den Separatisten recht deutlich zu verstehen gibt, dass ein neu gegründeter Staat nicht automatisch EU-Mitglied wäre.

Die Separatisten können einem leidtun. All die tollen Menschenketten, gehäkelten Wappen, Volksabstimmungen und Busfahrten nach Barcelona – und plötzlich müssen sie feststellen, dass sie das Wichtigste vergessen haben: Sie werden gar nicht unterdrückt! Nicht nur, dass die Außenwelt die Separatismusbestrebungen verständnislos zur Kenntnis nimmt, sind auch viele Katalanen von der Dringlichkeit der ganzen Sache nicht so recht überzeugt. Zwar spricht sich eine große Mehrheit für ein Referendum aus, aber nur etwa die Hälfte würde dabei für einen eigenen Staat stimmen.
Das wäre das – vorläufige – traurige Ende des sanften Separatismus. Ein Trost bliebe: Die Schmach von 1714 kann den Katalanen niemand mehr nehmen.

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