Kein Essen für Migranten: Flüchtlingshilfe auf Lesbos vor dem Kollaps
„Uns geht die Luft aus“, sagt Flüchtlingshelferin Dorothea Blancke. Die Grazerin ist mit ihrer Hilfsorganisation seit 2020 dauerhaft auf der griechischen Insel Lesbos aktiv, nachdem dort das berüchtigte Flüchtlingslager Moria niedergebrannt war. Dort versorgt man derzeit tausende Menschen mit Essensrationen, weil es die griechischen und europäischen Behörden nicht tun.
Vom Notnagel zum Dauerzustand
Eine Koalition mehrerer Flüchtlingshilfe-NGOs wandte sich am Freitag mit einem Brandbrief an EU-Institutionen, um von der Politik substanzielle Veränderung zu fordern. Denn was als schnelle Hilfe in der Not angedacht war, geht nun schon ins vierte Jahr – und wird in Griechenland offenbar als Entlastung der eigenen Kostenstellen gesehen. Nebenbei entledigt man sich damit auch der Verantwortung.
Seit Mai dieses Jahres werden wöchentlich bis zu 700 Essenspakete an Camp-Bewohner ausgegeben. Zusätzlich zu den 200 Wochenrationen, die an vulnerable Migranten abgegeben werden, die wegen Krankheit oder Traumata in der Stadt wohnen. „Warum soll die Zivilgesellschaft hier dauerhaft die Aufgaben des Staates und der EU übernehmen?“, fragt Blancke im Gespräch mit profil. Damit reicht sie eine wiederkehrende Frage ihrer Spender weiter, die immer weniger nachvollziehen können, weshalb sich die Situation auf Lesbos trotz vieler EU-Hilfsgelder nicht verbessert. Erst im September berichtete profil von den menschenunwürdigen Zuständen im Flüchtlingslager.
„Warum soll die Zivilgesellschaft hier dauerhaft die Aufgaben des Staates und der EU übernehmen?“
NGOs vor dem Kollaps
Zwar kam es im Schatten anderer Katastrophen zu einem spürbaren Einbruch der Spendengelder, doch steht Blanckes NGO vergleichsweise solide da. „Wir haben uns einen guten Ruf erarbeitet“, sagt sie. Doch selbst große deutsche Partnerorganisationen stoßen zunehmend an ihre finanziellen Grenzen. Es droht ein Kollaps.
4000 Menschen leben derzeit im neu errichteten Flüchtlingslager Kara Tepe, davon mehr als die Hälfte mit Bleibeperspektive in der Europäischen Union. Tausende Frauen und Kinder sind in der Zeltstadt daheim. Täglich kommen neue Leute hinzu, die in der Versorgung Vorrang haben. Denn, wer einen positiven Bescheid für die Aufnahme eines Asylverfahrens erhält, soll nach einem Monat das Camp verlassen. „Nur wohin, ohne Dokumente, ohne Geld, ohne Hilfe, ohne Unterkunft?“, heißt es in einem Blogeintrag der Blancke-NGO.
Perspektivlosigkeit für Migranten
Neda Noraie-Kia von der Heinrich-Böll-Stiftung in Thessaloniki beobachtet, dass „je nach aktueller Politik, Geflüchtete in erratischen Wellen aufs Festland geschickt“ werden. Die Referentin für Flucht und Migration der den deutschen Grünen nahestehenden Stiftung sieht tagtäglich, wie vor allem in Großstädten wie Athen oder Thessaloniki Menschen perspektivlos auf der Straße leben. Hilfe vom griechischen Staat gibt es für Asylbewerber keine.
„Wer kann, macht sich über die Balkanroute weiter auf den Weg in Richtung Mitteleuropa“, so Noraie-Kia weiter. „Natürlich sind das in Anbetracht der harten und beschwerlichen Reise tendenziell jüngere Männer. Das führt in Deutschland und Österreich zum Zerrbild, nur diese Gruppe würde migrieren.“
Futter für Rechtsextreme
Solche Wahrnehmungen befeuern rechtsextreme Narrative. Zuletzt wurde in Griechenland vergangenen Sommer vermehrt Jagd auf Migranten gemacht, nachdem Politiker das Gerücht streuten, man befände sich in einem hybriden Krieg.
Auf Lesbos ist es so weit noch nicht gekommen. Bei den vergangenen Parlamentswahlen im Juli holten die drei großen rechtsradikalen Parteien gemeinsam nur etwa 10 Prozent der Stimmen. Auch Doro Blancke zufolge ist die Stimmung auf der Insel Geflüchteten gegenüber insgesamt empathisch und solidarisch. Zu Spannungen käme es eher in der wärmeren Jahreszeit, wenn hungrige Migranten Gemüse von den Feldern stehlen würden.
Frage des Willens
Die Zustände auf der Ägäis-Insel, auf der tausenden Menschen nicht nur keine Nahrungsmittel, sondern auch keinen Zugang zu einfacher Gesundheitsversorgung haben, sind Neda Noraie-Kia zufolge keine Frage fehlenden Geldes. Bei der Implementierung von Überwachungs- und Sicherheitstechnik seien schließlich immer genug Ressourcen vorhanden. Vielmehr versuche die EU auf dem Rücken der Geflüchteten ein Bild der Abschreckung zu erzeugen. Dabei habe man bei den Ukraine-Geflüchteten „gezeigt, dass es auch anders geht. Aber der politische Wille muss her.“