Kenia: Extrem hohe Geburtenraten werden zum Problem für den Kontinent
Tom Henry Onyano war noch keine 40 Jahre alt, als er begann, seltsam zu werden. Das fanden zumindest seine Freunde und Bekannten, der Vater und die Brüder. Sie beobachteten, dass er im Garten mit seiner jüngsten Tochter Joy spielte, das Mädchen auf die Knie nahm und umarmte. Man sah ihn auf dem Markt Einkäufe erledigen. Es hieß sogar, dass er sich in der Küche zu schaffen mache, um Essen zu kochen. Und er gab zu, mit seiner Frau vereinbart zu haben, keine weiteren Kinder mehr zu zeugen - fünf seien genug.
Die Leute lachten über Onyano, es lag aber auch Vorwurf in ihrer Erheiterung. "Sie haben mich beschuldigt, die Gemeinde mit schlechter europäischer Kultur zu vergiften“, sagt der 43-Jährige, der mit seiner Familie im Manyatta-Slum am östlichen Rand der Stadt Kisumu lebt.
In Kisumu, das im Westen Kenias am Ufer des Victoriasees liegt, offenbaren sich in konzentrierter Form zahlreiche Probleme, von denen vor allem die städtischen Ballungsräume Afrikas heimgesucht werden - und von denen sich auch Europa betroffen und bedroht fühlt: Armut, Perspektiv- und Arbeitslosigkeit und Regierungsversagen in Verbindung mit einem hohen Bevölkerungswachstum. Es sind Ingredienzien, die zu jenen Migrationsströmen führen, deren Ausläufer den Westen seit Jahren in Form der Flüchtlingskrise im Mittelmeer erschrecken. Hinter diesem Schrecken steht die Vorstellung einer unaufhaltsam wachsenden afrikanischen Bevölkerung, die in den industrialisierten Norden drängt.
"Mehr als sechs Millionen Afrikaner auf dem Weg nach Europa“, gruselte sich die deutsche "Bild“-Zeitung vergangene Woche; illustriert war der Artikel mit einem Foto dunkelhäutiger Bootsflüchtlinge.
Eindringliche Warnungen
"Es ist höchste Zeit, dass Afrika ernsthaft befriedet und entwickelt wird. Wenn das nicht gelingt, wird Europa bald von Millionen verzweifelten und perspektivlosen jungen Afrikanern überrannt werden“, warnte Gerhard Heilig, ehemaliger Chefdemograf der Vereinten Nationen, Anfang Mai in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
"Betroffene Länder, UN, NGOs und die europäische Außenpolitik müssen endlich den Schwerpunkt auf Familienplanung legen. Sonst werden die bekannten Katastrophen immer wiederkehren und noch massiv zunehmen - und damit auch die Migration nach Europa“, schrieb Rolf Gleissner, Referent für Sozialpolitik und Gesundheit der österreichischen Wirtschaftskammer (WKO), Mitte April in einem Gastkommentar für den "Standard“.
Wie sehr das Thema den hiesigen Gefühlshaushalt strapaziert, lässt sich nicht nur an diesen Zitaten ablesen, sondern auch an den Reaktionen darauf. Gleissner musste sich wegen seiner Ausführungen einen heftigen Shitstorm gefallen lassen. Viele Angriffe gegen den WKO-Mann liefen letztlich darauf hinaus, dass zuvorderst der Westen an den Problemen Afrikas schuld sei und der dortigen Bevölkerung daher gefälligst nichts vorzuschreiben habe, schon gar nicht im Hinblick auf Geburtenkontrolle. Letzteres sei ein "paternalistischer Hinweis auf eine restriktive ‚Familienplanung‘“, wetterte der Ökonom Stephan Pühringer von der Uni Linz in einem "Standard“-Gegenkommentar.
Selbst wenn es so wäre, würde das nichts daran ändern, dass die Bevölkerung Afrikas derzeit in schwindelerregendem Tempo wächst - Schätzungen der Weltbank zufolge um 2,7 Prozent pro Jahr. Das heißt: jeden Monat um etwa 2,5 Millionen Menschen, jedes Vierteljahr fast um die Einwohnerzahl Österreichs.
800 Millionen Einwohner hatte der Kontinent um die Jahrtausendwende, 1,2 Milliarden sind es gegenwärtig. Im Jahr 2050 werden es 2,5 Milliarden sein, zumindest laut einer mittleren Prognose der UN. Ob diese tatsächlich eintritt, ist derzeit nicht absehbar. Vielleicht sorgt ein unverhoffter Wirtschaftsaufschwung dafür, dass die Geburtenraten sinken, so wie in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts; vielleicht haben technologische Entwicklungen oder andere, nicht vorhersehbare Entwicklungen diesen Effekt. Vielleicht kommt es aber auch anders, und das Bevölkerungswachstum verstärkt sich sogar noch weiter.
Hohe Bevölkerungswachstumsbilanz
Sicher ist bloß: Gegenwärtig liegt die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau in Afrika bei 4,7. Das ist zwar um ein Drittel weniger als in den 1970er-Jahren - aber immer noch doppelt so hoch wie im weltweiten Schnitt. Entsprechend hoch fällt die Wachstumsbilanz aus. In Kenia liegt das Verhältnis zwischen Geburten und Todesfällen bei 34 zu 8 (in Österreich: 9,6 zu 9,4). Gleichzeitig verzeichnet das Land nach Angaben der International Organization for Migration (IOM) eine Netto-Emigration: Es wandern also mehr Menschen aus als ein.
Insgesamt weist die Bevölkerungskurve in Afrika steil nach oben, und in den meisten Ländern des Kontinents hält alles andere nicht damit Schritt - weder das Wirtschaftswachstum noch die Infrastruktur, geschweige denn die Sozialsysteme.
Fragt sich: Warum ist das so? Wer ist verantwortlich dafür? Wer hat berechtigterweise ein Problem damit? Und: Kann man etwas dagegen tun beziehungsweise, für diejenigen, die allein diese Frage als eurozentristisch und kolonialistisch empfinden: Soll man?
Einige Antworten finden sich in jenem Wohnzimmer im Manyatta-Slum von Kisumu, in dem Tom Henry Onyano sitzt, über den alle seine Freunde lachen - und der just an jenem Tag Ende April, an dem in Österreich WKO-Referent Rolf Gleissner durch die sozialen Netzwerke geprügelt wird, aus seinem Leben erzählt.
Onyano arbeitet für das "Kisumu Integrated Family Health Project“, das von der EU, der Österreichischen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit (ADA) und der Hilfsorganisation CARE gemeinsam mit Partnerorganisationen betrieben wird. Dessen Ziel ist nicht nur, die Gesundheitsversorgung zu verbessern, sondern auch Familienplanung zu propagieren, die traditionell ablehnende Einstellung dazu zu verändern und die zahllosen Mythen und Irrtümer zu entkräften, die damit verbunden sind - mit kreativen Mitteln, die von medizinischer Aufklärung bis hin zu Theateraufführungen gehen.
Kisumu ist die Hauptstadt der Provinz Nyanza, dem zentralen Siedlungsgebiet der Luo. Die drittgrößte Ethnie Kenias kann in mancher Hinsicht als Ausnahmefall gelten: Die Luo betreiben im Gegensatz zu den meisten anderen Völkern des Landes etwa keine weibliche Genitalverstümmelung, ihre Gesellschaft ist bemerkenswert egalitär aufgebaut.
Gleichzeitig betrachten die Luo Polygamie bis heute als absolut zulässig. "Die meisten Männer sind verheiratet, führen aber mehrere Beziehungen“, sagt Fred Kadongo von Family Health Options Kenya (FHOK), einer lokalen NGO, die seit fünf Jahrzehnten auf dem Gebiet der Sexualberatung und Familienplanung tätig ist und mit CARE Österreich kooperiert.
Mann bestimmt über Zahl der Kinder
Die Popularität der Polygamie hängt unter anderem damit zusammen, dass sich das Ansehen eines Mannes hier ganz entscheidend an der Zahl seiner Kinder bemisst. Entsprechend verpönt sind Maßnahmen zur Geburtenkontrolle. "Der Mann ist das Familienoberhaupt“, sagt Kadongo: "Wenn er weitere Kinder will, ist die Frau seinem Willen ausgeliefert.“
Das bestätigt auch die Krankenschwester Dorcas Atieno Ogutu, die sich im Zuge des Projekts um Haushalte im Manyatta-Slum kümmert: "Viele Männer betrachten es als ihr Recht, Sex zu haben. Den Frauen steht es weder zu, danach zu verlangen, noch dürfen sie nein sagen.“
Die Pille und ähnliche Verhütungsmethoden lehnen viele Kenianer ebenfalls ab - nicht zuletzt, weil sich hartnäckig das Gerücht hält, dass eine Frau, die einmal damit angefangen hat, nie wieder schwanger werden kann. Und Kondome? Die gibt es zwar, sogar vielfach gratis: "Die Leute verwenden sie trotzdem nicht, und ich habe keine Ahnung, warum das so ist“, wundert sich Otieno Kennedy Ochieng, der als praktischer Arzt für die Gesundheitsbehörde in Kisumu tätig ist.
Tradierte Verhaltensmuster und Sozialstrukturen sind also fraglos ein wichtiger Grund für das Bevölkerungswachstum, nicht nur in Kisumu, auch in anderen Teilen Afrikas. Dass dabei auch Religion eine Rolle spielt, liegt auf der Hand. Der größte Teil Schwarzafrikas ist christlich dominiert; die Bevölkerung von Kenia etwa bekennt sich zu mehr als 80 Prozent dazu. Ob die damit verbundenen vatikanischen Moralgebote im Alltag rigide befolgt werden, lässt sich angesichts der Schilderungen der einheimischen NGO-Mitarbeiter über Polygamie und Sexualverhalten aber zumindest hinterfragen.
Politisch hat das Thema Familienplanung ebenfalls keine Priorität: "Wir vermehren uns so schnell, dass keine Regierung damit klarkommen kann. Aber die meisten Politiker kümmert das nicht, weil sie in den Kindern die Wähler von morgen sehen“, sagt der Mediziner Ochieng - eine Einstellung, die als durchaus repräsentativ für den Kontinent gelten darf. "In den 54 afrikanischen Ländern gibt es wohl eine Mehrheit, deren Herrscher nicht beunruhigt sind wegen des Bevölkerungswachstums, sondern es sogar begrüßen“, analysierte kürzlich Robert Engelman, Fachmann des US-amerikanischen Worldwatch-Instituts im Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Für diese Regierungschefs sei die Zahl ihrer Staatsbürger ein Machtfaktor.
Ähnlich funktioniert auch die innenpolitische Logik in Kenia, die stark auf Stammeszugehörigkeit beruht. Die meisten Parteien sind eindeutig ethnisch definiert, ihre Stärke hängt also stark vom Kinderreichtum ihrer jeweiligen Volksgruppe ab. Auswirkungen hat aber auch die Tatsache, dass es in Kenia und anderswo bislang nicht gelungen ist, funktionierende Sozialsysteme zu errichten, und ein Großteil der Bevölkerung im informellen Sektor des Arbeitsmarkts tätig ist - und somit ohne jegliche Absicherung. Unter diesen Umständen ist die wichtigste Altersvorsorge, die man treffen kann, der eigene Nachwuchs.
Schließlich gibt es noch einen absolut erfreulichen Grund dafür, dass die Bevölkerung in Kisumu stark wächst. Obwohl die Region am Ostufer des Victoriasees besonders stark von HIV betroffen ist und fast 20 Prozent der Bevölkerung infiziert sind, sterben vergleichsweise wenige Menschen an Aids. Mit Mitteln aus dem PEPFAR (President’s Emergency Plan for AIDS Relief), einem auf die Initiative des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush zurückgehenden Hilfsprogramm, haben in Kenia fast eine Million Menschen kostenlosen Zugang zu Medikamenten, die verhindern, dass AIDS tatsächlich ausbricht.
Und auch die Kindersterblichkeit, die bislang unter anderem wegen Durchfallerkrankungen sehr hoch war, konnte durch medizinische Maßnahmen glücklicherweise gesenkt werden.
Manche dieser Faktoren erinnern an Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Geburtenraten unter anderem durch bessere Gesundheits- und Nahrungsversorgung rasant zu steigen begannen und den Aufschwung des Kontinents begünstigten.
In Afrika allerdings leiden große Teile der Bevölkerung derzeit unter ihrem eigenen Wachstum - vor allem die Frauen. "Die meisten hätten gerne zwei, vielleicht drei Kinder, aber sicher nicht fünf und mehr“, sagt Krankenschwester Ogutu: "Sie wären für Familienplanung sehr aufgeschlossen, aber die Männer sind schwer zu überzeugen.“
"Mach gefälligst mehr Kinder"
Inzwischen sind aber auch viele Männer unglücklich mit der Situation. "Ich habe zwei Kinder und einen Job, und trotzdem ist es schwierig für uns, durchzukommen“, klagt Job Mainye, Mitarbeiter von CARE Kenia: "Trotzdem drängt mich mein Vater und sagt:, Mach gefälligst mehr Kinder, die Familie wird sich schon um sie kümmern.‘ Ihm wäre es am liebsten, ich hätte zehn - egal, ob ich sie ernähren, kleiden und zur Schule schicken kann.“
Welche Einflüsse auch immer für das Bevölkerungswachstum verantwortlich sind: Ohne tief verwurzelte, archaische Einstellungen wie diese würde ihnen die gesellschaftliche Grundlage fehlen.
Und hier kommt endlich der viel belächelte Tom Henry Onyano ins Spiel. Er arbeitet im Rahmen des von CARE Österreich unterstützten Hilfsprojekts als "Male Champion“ und soll als Vorbild dazu beitragen, traditionelle Verhaltensmuster zu ändern. Als solches ist Onyano für fast 300 Haushalte im Manyatta-Slum zuständig, die er regelmäßig besucht, um für sein Familienmodell zu werben.
Bei den Luo gilt es nicht nur als ungewöhnlich, sondern geradezu anstößig, wenn Männer Tätigkeiten übernehmen, die als Frauensache betrachtet werden. Kinderbetreuung gehört dazu, Hausarbeit ebenso. "Ein normaler Vater würde seine Tochter nie umarmen“, sagt Onyano und streicht Joy über den Kopf. Wer erkrankte Angehörige, geschweige denn schwangere Frauen, ins Krankenhaus begleitet, muss sich ebenso auf Spott und Hohn gefasst machen.
"Anfangs dachten alle meine Freunde, ich sei verrückt geworden“, erinnert sich Onyano, der den Job als "Male Champion“ nach der Geburt von Joy vor nunmehr drei Jahren übernommen hat. Inzwischen sei das Verständnis aber größer geworden, auch für die Entscheidung, die er gemeinsam mit seiner Frau, einer Krankenschwester, getroffen hat: Geburtenkontrolle zu betreiben.
Besonders stolz ist Onyano darauf, dass seine älteste Tochter Faith als erste junge Frau in der Umgebung die Universität besucht. Die 20-Jährige studiert Mathematik und Geografie und will Lehrerin werden.
"Meine Freunde beneiden mich um unser Familienleben“, sagt Faith.
Ob sie bald Kinder haben will?
Faith lacht und schüttelt den Kopf: Jetzt noch nicht.