"Wir sollten zu Raubtieren werden"

Nordkorea: Shin Dong-hyuk über Folter, Hunger und Tod

Interview. Ein ehemaliger Lagerhäftling über Folter in Nordkoreas Gulag

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In eigener Sache: Am 19.12.2018 wurde bekannt, dass der vielfach preisgekrönte „Spiegel“-Reporter Claas Relotius seine Artikel in beträchtlichem Umfang manipulierte. profil druckte in den Jahren 2012/13 insgesamt fünf Interviews, die Relotius (damals noch nicht „Spiegel“-Redakteur) geführt hatte. Wir haben derzeit keinen Grund zur Annahme, dass es sich dabei um manipulierte Gespräche handelte, werden die Texte jedoch gewissenhaft prüfen und über das Ergebnis berichten.

Von Claas Relotius, Südkorea

Wenn Nordkorea weltweit Schlagzeilen macht, dann mit den zwei immer gleichen Themen: der bizarren Diktatur der Familie Kim, die nunmehr schon in dritter Generation über das Land herrscht - und ihrem Atomwaffenprogramm, das über den pazifischen Raum hinaus für Angst und Schrecken sorgt.

Worüber nur selten berichtet wird, ist die Tatsache, dass das Regime ein groß angelegtes System von Internierungs- und Umerziehungslagern betreibt. Kaum jemals dringen von dort Nachrichten an die Außenwelt. Übereinstimmende Aussagen von ehemaligen geflohenen Insassen und Wachleuten lassen jedoch darauf schließen, dass in mehr als 20 Camps derzeit zwischen 150.000 und 200.000 Menschen de facto als Sklaven gehalten werden.

In diesem Gulag landen Regimegegner und Kriminelle, wobei diese Zuordnung häufig rein willkürlich erfolgen dürfte. In Nordkorea kann es beispielweise bereits als Straftatbestand geahndet werden, das Porträt eines der drei Kims - Staatsgründer Kim Il-sung, sein Sohn Kim Jong-il und der derzeitige Machthaber Kim Jong-un - "unachtsam“ zu behandeln. Wer als politisch unzuverlässig eingestuft wird, muss damit rechnen, samt seiner ganzen Familie auf unabsehbare Zeit eingesperrt und einem brutalen Bestrafungs- und Folterregime unterworfen zu werden.

Die Lager dienen aber nicht nur zur "Umerziehung“ von Abweichlern, sondern offenbar auch als billige Produktionsstätten. Vor allem im nördlichen Teil des Landes gelegen, erstrecken sich manche über mehrere hundert Quadratkilometer. Sie umfassen landwirtschaftliche Betriebe, Bergwerke und Fabriken, in denen die Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten müssen. Verpflegung und Sicherheitsvorkehrungen sind unzureichend, die Zahl der Todesfälle ist entsprechend hoch.

Es ist zwar schwierig, die Berichte über die nordkoreanischen Lager unabhängig zu überprüfen. Aber wenn auch nur ein Teil der Schilderungen stimmt, dann wird dort seit Jahrzehnten eines der größeren Verbrechen der Menschheitsgeschichte verübt, ohne dass die internationale Gemeinschaft etwas dagegen unternimmt.

Shin Dong-hyuk ist einer der wenigen, die aus eigener Erfahrung darüber berichten können - und das grenzt fast an ein Wunder. Der heute 30-Jährige wurde als Kind von Häftlingen in einem der Lager geboren und wuchs dort ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt auf. Brandmale und Narben am Rücken und an den Beinen zeugen von Folterungen während seiner Inhaftierung.

Erst im Alter von 23 Jahren gelang es ihm zu entkommen. Einen Monat lang schlug er sich als Landstreicher in Nordkorea durch, später schaffte er es unerkannt über die Grenze nach China, wo er als Wanderarbeiter überlebte. Die zufällige Begegnung mit einem Journalisten verhalf ihm schließlich zur Ausreise nach Südkorea, wo er heute lebt.

Ein traditionelles koreanisches Café in der Innenstadt von Seoul. Shin Dong-hyuk unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von den anderen Gästen. Er trägt eine Daunenjacke, hat kurze schwarze Haare und einen Gesichtsausdruck, der pure Freundlichkeit ausstrahlt. Vielleicht ist es nur eine Maske, um nicht aufzufallen. Im Lager jedenfalls wurde Lächeln mit dem Tod bestraft. Er hat es erst nach seiner Flucht vor nunmehr sechs Jahren gelernt, sagt Shin Dong-hyuk.

Auf dem Tisch vor ihm liegt eine Zeitung. Das Titelbild zeigt den stolz lächelnden Kim Jong-un, den Sohn und Nachfolger des verstorbenen nordkoreanischen Diktators Kim Jong-il. Shin Dong-hyuk war während der Herrschaft von Kim Jong-il mehr als zwei Jahrzehnte lang inhaftiert. Den Namen des Potentaten hörte er jedoch erstmals im Alter von 20 Jahren, als sich zwei Wärter über den "Großen Führer“ unterhielten.

Noch bevor das Gespräch beginnt, entschuldigt sich Shin Dong-hyuk: Er sei aufgeregt, es falle ihm noch immer nicht leicht, über die Zeit im Lager, die Erniedrigungen und die Folter zu sprechen - und noch weniger darüber, dass er sich dabei auch selbst schuldig gemacht hat. Aber er möchte es unbedingt versuchen.

profil: Was ist die früheste Erinnerung an Ihre Kindheit?
Dong-hyuk: Das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist eine Versammlung im Zentrum des Lagers, in dem ich war. Ich sehe vor mir, wie dort sehr viele Menschen zusammenkommen und wie ich als kleiner Junge zwischen den Beinen dieser Menschen hindurchlaufe. Das letzte Bild, das ich vor mir habe, ist, wie in der Mitte der Menge ein Mann an einen Pfahl gebunden und dann erschossen wird.

profil: Die erste bewusste Erinnerung Ihres Lebens ist jene an eine Hinrichtung.
Dong-hyuk: Das war bei fast allen Kindern so, die im Lager aufgewachsen sind. Es lag daran, dass wir gezwungen wurden, bei jeder Hinrichtung anwesend zu sein und dabei auf keinen Fall wegzusehen. Jeder sollte von klein auf wissen, was ihn erwartet, wenn er die oberste Vorschrift des Lagers nicht befolgt.

profil: Was war diese oberste Vorschrift in dem Lager, in dem Sie aufwuchsen?
Dong-hyuk: Man durfte erst aufhören zu arbeiten, wenn die Wachen es einem erlaubten. Jeder, der noch halbwegs aufrecht gehen konnte, wurde mit einem Gewehr im Rücken zur Arbeit gezwungen.

profil: Aufgrund von Satellitenbildern gehen Experten davon aus, dass sechs bis acht Konzentrations- und Arbeitslager in Nordkorea existieren, in denen mehr als 200.000 Menschen gefangen gehalten werden. Wie kann man sich diese Lager vorstellen?
Dong-hyuk: Soweit bekannt ist, gibt es unterschiedliche Konzentrationslager in Nordkorea: Die einen dienen der politischen Umerziehung. Dort werden Insassen einer ideologischen Gehirnwäsche unterzogen. Sie müssen ebenfalls Zwangsarbeit leisten, die meisten kommen aber nach fünf bis zehn Jahren wieder frei. In den "Lagern der totalen Kontrolle“ gibt es diese Hoffnung nicht. Man ist dazu verdammt zu arbeiten, bis man stirbt. In einem solchen Lager war ich.

profil: Wie kann man sich dieses Lager vorstellen?
Dong-hyuk: Den Satellitenbildern zufolge umfasst es etwa 280 Quadratkilometer, die sich über mehrere Bergtäler erstrecken. In jedem Tal gibt es Fabriken, Bergwerke und zum Teil auch große Agraranlagen. Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen dort gefangen gehalten werden. Im Lager war manchmal von 20.000 die Rede. Das deckt sich mit den Schätzungen südkoreanischer und amerikanischer Geheimdienste.

profil: Wer wird in dieses Lager deportiert?
Dong-hyuk: Alle möglichen Menschen, Männer, Frauen, Kinder. Warum sie inhaftiert wurden, kann ich jedoch nicht beantworten. Über so etwas zu sprechen, stand unter Todesstrafe.

profil: Wissen Sie, weshalb?
Dong-hyuk: Ich vermute, um zu vermeiden, dass wir irgendetwas von der Außenwelt erfahren. Das Lager sollte ein abgeschotteter Raum sein, eine Welt für sich, damit sich die Insassen dieser Welt und ihren Regeln vollkommen unterwerfen. Wer es wagte, in irgendeiner Weise darüber zu sprechen, was außerhalb passierte, der wurde gnadenlos bestraft. Den Meisten wurde so lange der Mund mit Kieselsteinen vollgestopft, bis sie daran erstickten.

profil: Sie sind im Lager zur Welt gekommen. Hat Sie nicht die Frage gequält, weshalb Sie seit Ihrer Geburt ein Gefangener waren?
Dong-hyuk: Nein, nie. Mir wurde von klein auf klargemacht, meine Eltern sind Verräter und ich muss mein ganzes Leben arbeiten, um ihre Schuld zu begleichen. Die Wärter sprachen von einer Erbsünde und von einem Drei-Generationen-Prinzip. Demzufolge hätte auch meine Kinder eines Tages das gleiche Schicksal erwartet. Ich habe das alles nie hinterfragt.

profil: Können Sie sagen, warum Ihre Eltern als Verräter galten?
Dong-hyuk: Ich habe das nie erfahren. Soweit ich weiß, sind sie sich auch erst im Lager begegnet. Es gab dort sogenannte Belohnungsehen.

profil: Was bedeutet das?
Dong-hyuk: Man kann sich diese Ehen verdienen - meistens, indem man andere Häftlinge für die Wachen ausspioniert und verrät. Dann dürften ein Mann und eine Frau drei oder vier Mal im Jahr in einem Stall und inmitten anderer Häftlinge eine Nacht miteinander verbringen. Aus einer solchen Verbindung muss auch ich entstanden sein.

profil: Werden in den Lagern viele Kinder zur Welt gebracht?
Dong-hyuk: Das hängt davon ab, von wem die Kinder stammen: Bei uns gab es viele Frauen, die von den Wärtern vergewaltigt wurden. Wurden diese Frauen schwanger, wurden sie entweder selbst hingerichtet oder aber dazu gezwungen, ihre Babys nach der Geburt mit Knüppel oder Eisenstangen zu erschlagen. Wenn zwei Insassen ein Kind bekamen, was auch manchmal der Fall war, war dies meist erlaubt. Ehrlich gesagt: Mit dem Wissen, das ich heute habe, glaube ich sogar, es war erwünscht.

profil: Warum glauben Sie das?
Dong-hyuk: Nach meiner Flucht habe ich lesen gelernt und dann auch die Geschichte des Holocaust studiert. Die NS-Konzentrationslager waren überwiegend Vernichtungslager, in denen es darum ging, ein Volk auszurotten. Die Konzentrationslager in Nordkorea existieren aber bereits seit 40 oder 50 Jahren und dienen einem anderen Zweck: zum einen natürlich als gewaltige Einschüchterungsmaschinerie für die Menschen im ganzen Land. Vor allem aber sind sie auch günstige Produktionsstätten.

profil: Wie viele Stunden mussten Sie und die anderen Häftlinge am Tag arbeiten?
Dong-hyuk: Etwa zwölf bis 15 Stunden, manchmal auch mehr. Pausen gab es nur zweimal am Tag, wenn man uns Wasser und ein wenig Essen gab. Es gab immer Kohlsuppe und Maisbrei. In den 23 Jahren, die ich dort war, gab es nicht einen Tag etwas anderes.

profil: In der Biografie, die der US-Autor Blaine Harden über Sie geschrieben hat, ist zu lesen, dass der permanente Hunger für Sie das Schlimmste im Lager gewesen sei.
Dong-hyuk: Abgesehen von der Folter, die immer wieder zur Strafe oder Einschüchterung eingesetzt wurde, war der Hunger das Schlimmste. Das Essen war nie genug. Es gab Häftlinge, die vor Hunger so verzweifelt waren, dass sie das Gegessene erbrochen und sich wieder und wieder in Mund gesteckt haben. Aber wenn man überleben wollte, musste man sehen, dass man woanders Essen herbekam.

profil: Was haben Sie getan, um den Hunger zu stillen?
Dong-hyuk: Ich musste eine Zeit lang nicht in den Bergwerken und Kohlegruben, sondern auf den Feldern arbeiten. Dort haben wir, wenn die Wärter nicht hinsahen, nach Kuhfladen gesucht, weil sich in ihnen oft unverdaute Maiskörner finden ließen. Ich war auch gut darin, Ratten oder kleine Insekten zu fangen.

profil: Was geschah mit denen, die nicht genug zu essen fanden und zu schwach zum Arbeiten waren?
Dong-hyuk: In regelmäßigen Abständen wurden Lagerinsassen auf Viehtransporter geladen und weggebracht. Wir haben nie einen von ihnen wiedergesehen. Die ältesten Häftlinge, die ich im Lager gesehen habe, wurden vielleicht 50 Jahre alt. Aber das waren große Ausnahmen.

profil: Wurden Sie als Häftlinge ideologisch erzogen?
Dong-hyuk: Da wir das Lager ohnehin nie lebendig verlassen sollten, sah man offenbar keine Notwendigkeit, uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Uns hat man nur auf einer niedrigeren, zwischenmenschlichen Ebene erzogen. Wir sollten zu Raubtieren werden.

profil: Was meinen Sie damit?
Dong-hyuk: Die Erziehung bestand allein darin, uns alles Menschliche auszutreiben. Wir wurden bewusst isoliert und gegeneinander ausgespielt. Am Ende der täglichen Arbeit gab es Versammlungen, bei denen besonders uns Kindern und Jugendlichen eingebläut wurde, wie wichtig es sei, Verstöße gegen die Lagerregeln anzuzeigen. Weil wir wussten, dass dies mit ein wenig Essen belohnt wurde, kannten wir keine Skrupel: Wenn ich jemanden denunzieren konnte, habe ich ihn denunziert. Und wenn mich die Wärter danach aufforderten, auf diesen Jemand zur Strafe einzuschlagen, habe ich auch ohne Gnade auf ihn eingeschlagen. Einmal wurde ein Mädchen, das vielleicht sieben Jahre alt war, zu Tode geprügelt, weil andere Insassen behaupteten, es habe drei Reiskörner in seiner Hosentasche versteckt. Keiner von denen, die sie verrieten, hatte danach ein schlechtes Gewissen.

profil: Als Sie 14 Jahre alt waren, haben Sie Ihre Mutter und Ihren älteren Bruder sogar verraten, weil sie gemeinsam einen Fluchtversuch planten.
Dong-hyuk: Das ist wahr. Leider ist es wahr.

profil: Sie wussten, dass beide daraufhin hingerichtet werden würden.
Dong-hyuk: Ja, das wusste ich. Mein Vater und ich sollten dabei zusehen. Aber als es so weit war, hab ich nichts gefühlt, außer vielleicht Erleichterung, dass ich nicht an ihrer Stelle dort stand. Ich hatte kein Mitleid mit ihnen. Ich war der Meinung, sie hatten es nicht anders verdient.

profil: Weil sie gegen die Regeln des Lagers verstoßen hatten?
Dong-hyuk: Als man meine Mutter erhängte, spürte ich vor allem Wut auf sie, weil sie es gewagt hatte zu fliehen. Mittlerweile habe ich gelernt, wie das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern sein sollte, deshalb schäme ich mich abgrundtief für diese Gedanken - und noch mehr für das, was ich getan habe.

profil: Haben Sie sich während all der Zeit je eine Vorstellung davon gemacht, wie die Welt außerhalb des Lagers aussehen könnte?
Dong-hyuk: Nein. Ich wusste nicht, dass die Erde rund ist, und genauso wenig wusste ich, dass es neben Nordkorea noch andere Länder gibt. Den Begriff "Land“ hatte ich nie gehört. Meine ganze Welt war das Lager, sie reichte genau bis zu den Hochspannungszäunen und keinen Meter weiter. Es klingt vielleicht wahnsinnig, aber ich glaube, das war ein großer Vorteil für mich.

profil: Sie meinen, Sie konnten den Lageralltag eher ertragen, weil Sie nie ein anderes Leben kannten?
Dong-hyuk: Wahrscheinlich ist es so gewesen. Andere, die zuvor ein freies Leben geführt hatten, sind schnell daran zerbrochen, weil sie den großen Unterschied zwischen diesen beiden Leben nicht ertragen konnten. Viele brachten sich selbst um. Ich dagegen bin als das Tier, als das ich erzogen wurde, einfach meinem Überlebensinstinkt gefolgt.

profil: Nach 23 Jahren sind Sie aber schließlich doch auf den Gedanken gekommen zu fliehen. Sie müssen eine Ahnung gehabt haben, dass die Welt außerhalb des Lagers eine bessere sein könnte.
Dong-hyuk: Ich hatte diese Ahnung einem Mann zu verdanken, mit dem ich zufällig zur Arbeit eingeteilt worden war. Sein Name war Park. Er gehörte zur nordkoreanischen Elite und hatte in der DDR studiert, bevor er inhaftiert wurde. Er erzählte mir von dieser anderen Welt, in der jeder Mensch sich frei bewegen kann, ohne um Erlaubnis zu fragen, und in der es für alle genug zu essen gibt.

profil: Warum haben Sie nicht auch ihn verraten und angezeigt?
Dong-hyuk: Weil das, was er erzählte, für mich so unglaublich war, dass ich immer mehr darüber wissen wollte. Park erzählte mir von warmen Häusern, in denen Menschen ganz allein wohnen, und von großen Maschinen, mit denen die Menschen durch den Himmel fliegen. Aber am meisten hat mich gefesselt, was er über den Geschmack von Schweinen und Hühnern sagte. Es war nicht mein Freiheitsdrang, der mich zur Flucht getrieben hat. Ich bin vor allem aus einem Grund geflohen: weil ich all das essen wollte, von dem Park mir berichtete. Weil ich gegrilltes Fleisch essen wollte.

profil: Doch nur Ihnen ist die Flucht gelungen.
Dong-hyuk: Das Traurige ist, dass wir nicht erwischt wurden und mein Freund trotzdem sterben musste. Er blieb in einem der Hochspannungszäune hängen, als wir es schon fast geschafft hatten. Sein Tod war aber auch mein Glück, denn das Gewicht seines Körpers drückte den Zaun ein wenig herunter. Nur so konnte ich einem Stromschlag entgehen und entkommen.

profil: Sie gelten als der einzige Häftling, der es danach auch unerkannt aus Nordkorea hinaus geschafft hat.
Dong-hyuk: Ich weiß heute selbst nicht mehr, wie das geschehen konnte. Fast einen Monat bin ich ziellos durch das Land gewandert und habe mich als Vagabund ausgegeben. Dann sprang ich irgendwann mit Wanderarbeitern auf einen Zug auf, der Richtung China fuhr. Ohne Pass durch die Grenzkontrolle zu kommen, war mindestens genauso unwahrscheinlich, wie lebendig durch den Hochsicherheitszaun im Lager zu klettern. Aber ich hatte beide Male großes Glück.

profil: Der amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky schrieb vor Kurzem, die Existenz der Konzentrationslager in Nordkorea sei die größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart, aber auch die am wenigsten beachtete. Hat er Recht damit?
Dong-hyuk: Eines ist wahrscheinlich: Sollte das Regime jemals zusammenbrechen, dann wird dies niemand, der jetzt in einem dieser Lager ist, überleben. Es wird nichts von den Lagern übrig bleiben. Das Regime würde das nicht zulassen. Es gibt also jetzt schon mehr als 200.000 Menschen, die das Schicksal erwartet, so oder so zu ermordet zu werden. Und die Lager wachsen von Jahr zu Jahr, es werden immer mehr Menschen. Das alles ist bekannt, nichts davon lässt sich leugnen.

Zur Person
Shin Dong-hyuk wurde 1982 als Shin In Geun in einem nordkoreanischen Konzentrationslager geboren. Um nach seiner Flucht nicht erkannt zu werden, legte er diesen Namen ab und benannte sich nach jenem Journalisten, der ihm als illegalem Flüchtling auf chinesischem Boden in die südkoreanische Botschaft verhalf. Auch dort wurde er zunächst über mehrere Monate festgehalten und beinahe täglich von Mitarbeitern des Geheimdienstes nach den Konzentrationslagern und seiner unglaublichen Geschichte befragt. Die Spezialisten für solche Befragungen hatten keine Zweifel: Shin Dong-hyuk sagt die Wahrheit.