"Fass deine Schwester an": Kindesmissbrauch auf den Philippinen
Anmerkung: Diese Geschichte erschien ursprünglich im profil Nr. 19 / 2018 vom 07.05.2018. Autor Philipp Hedemann wird am 7. Oktober dieses Jahres für seine Reportage mit dem Hauptpreis der Privatstiftung Hilfe mit Plan Österreich ausgezeichnet.
MITARBEIT: CHRISTOPH ZOTTER
„Ich musste alles machen, was sie von mir verlangten. Ich habe Dinge getan, von denen ich nicht dachte, dass ich sie jemals tun würde. Ich habe mich so schmutzig gefühlt.“ Rubys* Stimme zittert, dann laufen ihr Tränen über die Wangen, zu viele für das Taschentuch, das sie beim Erzählen in winzige Fetzen zerrissen hat. Die Schatten ihrer eigenen Vergangenheit holen Ruby ein – und das nicht zum ersten Mal.
Ruby war elf Jahre alt, als ihre Eltern starben. Danach gab es immer wieder Streit mit ihren neun älteren Geschwistern; oft schlugen sie Ruby mit einem Kabel. Ruby wollte nur noch weg, aber sie wusste nicht, wohin. Da blinkte die vermeintliche Rettung auf ihrem Smartphone auf. Eine junge Frau kontaktierte Ruby über Facebook. Sie schmeichelte der Schülerin, die sich nach Anerkennung und Zuwendung sehnte, bot ihr einen Job als Kassiererin in einem Internetcafé an und schickte Geld für die Reise. Ohne ihren Geschwistern Bescheid zu sagen, machte Ruby sich auf den Weg von ihrem Heimatort in der Provinz Capiz in die mehr als 60 Kilometer entfernte Provinz Pampanga, nordwestlich der Hauptstadt Manila. 24 Stunden war sie mit Bus und Fähre unterwegs; schließlich brachte ein Angestellter ihrer neuen Facebook-Bekanntschaft sie zu einem kleinen Haus. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, begriff Ruby, dass sie betrogen worden war: „Plötzlich kamen halbnackte Mädchen aus den Zimmern. Ich dachte, es passiert nur im Film, dass Kinder verschleppt werden, um sich vor der Kamera auszuziehen.“
"Manche waren innerlich tot"
Ruby wollte sofort zurück zu ihren prügelnden Schwestern, doch ihre „Facebook-Freundin“ sagte, sie könne erst gehen, wenn sie ihre „Schulden“ für die Anreise abbezahlt habe. Schon am nächsten Tag stand Ruby vor einer Webcam – und musste sich ausziehen. „Einige der Mädchen hatten überhaupt keine Scham und keine Selbstachtung mehr. Manche waren innerlich tot und haben wie Maschinen funktioniert, andere haben getrunken, um es zu ertragen. Aber ich ekelte mich vor mir selbst. Ich musste mich selbst missbrauchen, und andere sahen mir dabei zu“, erzählt Ruby, und wieder laufen ihr Tränen über das Gesicht.
Erreichte sie in ihrer Acht-Stunden-Schicht nicht die Umsatzvorgaben oder weigerte sie sich, die perversen Wünsche der Kunden zu erfüllen, bekam sie weniger zu essen. Zwischen zehn und 30 Euro zahlten die meisten ihrer Kunden für einen Live-Sex-Chat mit der Minderjährigen. Ruby bekam davon nichts ab, ihre Schulden blieben.
Immer wieder versuchte sie, aus ihrem Kerker zu fliehen, doch ein Wachmann passte rund um die Uhr auf die sechs eingesperrten Mädchen und Frauen auf. Als Ruby laut um Hilfe rief, wurde sie mit einem Messer bedroht. Die Nachbarn hörten nichts – oder wollten nichts hören. Auch über das Internet konnte Ruby keinen Hilferuf absetzen. Ihr Telefon war ihr abgenommen worden; saß sie am Computer, durfte sie nur die einschlägigen Sexchat-Seiten öffnen.
„Ich dachte, ich müsste in diesem Gefängnis sterben“, erzählt Ruby. Sie wusste nicht, dass philippinische Ermittler ihren Peinigern bereits auf der Spur waren. „Polizei! Polizei!“, schrie eines Morgens der Wachmann, dann stürmten schwerbewaffnete Polizisten ins Haus. „Ich war glücklich. Aber ich sah die Panik in den Augen der anderen Mädchen. Die Jüngste war erst acht“, berichtet Ruby in der Einrichtung einer christlichen Hilfsorganisation in der Nähe von Manila. Um sie einzuschüchtern und gefügig zu machen, hatten die Betreiber des Kinderpornografie-Chats ihren minderjährigen Opfern eingeimpft, dass sie und ihre Eltern ins Gefängnis kommen würden, sollte die Polizei das Versteck finden.
Epizentrum der Cybersex-Kriminalität mit Kindern
Doch statt ins Gefängnis kam Ruby in ein Wohnheim einer Partnerorganisation der International Justice Mission (IJM). IJM setzt sich gegen Sklaverei und Zwangsarbeit ein. Dazu arbeitet die Organisation in zehn Ländern eng mit Polizei, Justiz und Gesetzgebern zusammen. Auch eigene verdeckte Ermittler, Anwälte und Sozialarbeiter sind im Einsatz. Auf den Philippinen steht der Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen im Internet ganz oben auf der Agenda. „Die Philippinen sind laut dem FBI das Epizentrum der Cybersex-Kriminalität mit Kindern. Wir kämpfen für ein Ende dieser abscheulichen Verbrechen“, sagt IJM-Landesdirektor Sam Inocencio.
Doch wie konnten die Philippinen zum Internetsex-Hotspot werden? Und wie soll dieses globale und boomende Business bekämpft werden? IJM-Mann Inocencio kennt Antworten und Lösungsansätze. Etwa ein Fünftel der rund 105 Millionen Philippinos lebt nach wie vor unterhalb der Armutsgrenze. Die Möglichkeit, im Internet mit der sexuellen Ausbeutung von Kindern – oft den eigenen – schnelles Geld zu verdienen, erscheint da verführerisch. Zudem gibt es mittlerweile auch in ländlichen Gebieten billiges und schnelles Internet für Livestreams gegen Bezahlung. Da auf den Philippinen trotz eines seit Jahren anhaltenden kräftigen Wirtschaftswachstums auch in Zukunft Armut ein Thema bleiben wird, hält Rechtsanwalt Inocencio die konsequente Strafverfolgung der Anbieter und der Kunden für das beste Mittel im Kampf gegen die Cybersex-Kriminalität.
Die entsprechenden Gesetze dafür gibt es bereits. In dem von Präsident Rodrigo Duterte autoritär regierten Land kann die sexuelle Ausbeutung von Kindern mit lebenslanger Haft bestraft werden. „Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass diese Gesetze auch konsequent umgesetzt werden“, sagt Inocencio. „Wir müssen die Risiken für Anbieter und Konsumenten so sehr erhöhen, dass Angebot und Nachfrage stark zurückgehen – auf den Philippinen und in allen Ländern, in denen die pädophilen Kunden sitzen.“
Zahl der Delikte steigt
Unter den Konsumenten sind auch Österreicher. „Die meisten Opfer von österreichischen Tätern kommen aus den Philippinen“, sagt Vincent Kriegs-Au, Pressesprecher des Bundeskriminalamtes (BKA): „Die Leute dort sind sehr arm und haben viele Kinder, die sie als Einkommensquelle verwenden, um die Familie zu erhalten.“ Statistiken würden in diesem Zusammenhang zwar keine geführt, die Zahl der Delikte steige jedoch. Österreich hat sogar eine eigene Kontaktperson bei der philippinischen Polizei, um bei Verdacht schnell reagieren zu können. „Unser Anliegen Nummer eins ist es, die Kinder zu befreien“, sagt Kriegs-Au. Über konkrete Fälle möchte er jedoch nicht sprechen.
In Deutschland landete vor Kurzem einer vor dem Richter: Im April verurteilte das Landgericht Traunstein den Malermeister Martin R. wegen Anstiftung zum sexuellen Missbrauch von philippinischen Kindern zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren. Der 48-Jährige hatte der Mutter der Kinder über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren mehrere Tausend Euro gezahlt und dafür unter anderem verlangt, dass die Kinder sich vor einer Webcam ausziehen, tanzen und urinieren.
In Frankfurt am Main nahm das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) zudem Mitte Januar einen 52-jährigen Deutschen fest. Über das Internet soll er sich in mindestens drei Fällen zum schweren sexuellen Missbrauch philippinischer Kinder verabredet haben. Er sei bereit gewesen, dafür mehrere Hundert Euro zu zahlen. Außerdem soll sich der Mann, der längere Zeit auf den Philippinen gelebt hat und selbst Vater ist, fast 2000 kinderpornografische Bilder und Videos besorgt haben. Er hatte vorgehabt, bald wieder auf die Philippinen zu reisen. Seine Festnahme vereitelte dies. IJM-Ermittler hatten in diesem Fall der philippinischen Polizei geholfen, Beweismaterial zu sichern.
Marcus, der nicht möchte, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht, ist einer dieser IJM-Ermittler. „Dort hinten haben wir aus einem Haus mehrere Kinder befreit, die für Livestream-Übertragungen sexuell missbraucht wurden. Das jüngste war sieben Jahre alt“, sagt der Ermittler und zeigt durch die getönten Scheiben eines unauffälligen Toyotas auf den Eingang einer engen Gasse in einem der vielen Slums in der Hauptstadt Manila. Marcus war selbst zehn Jahre lang Polizist, ehe er als Ermittler zu IJM wechselte. „Unsere Undercover- Arbeit ist gefährlich. Die Leute sind sehr misstrauisch, wenn in ihrer Nachbarschaft plötzlich ein fremdes Gesicht auftaucht. Sie wissen, dass sie für den sexuellen Missbrauch von Kindern für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis gehen können. Und sie sind teilweise bewaffnet“, berichtet der Ermittler.
Mangel an Personal, Ausstattung und Erfahrung
Bei ihren Befreiungsaktionen kooperiert IJM stets mit der philippinischen Polizei. „Bislang können wir leider fast nur aktiv werden, wenn wir von ausländischen Ermittlungsbehörden wie dem FBI oder dem Bundeskriminalamt Hinweise bekommen“, räumt William Solano Macavinta in einem spartanisch eingerichteten Zimmer im Polizei-Hauptquartier in Manila ein. Für eigene Anfangsermittlungen fehlt es dem Leiter der Abteilung für den Schutz von Frauen und Kindern bislang an Personal, Ausstattung und Erfahrung bei der Bekämpfung der Cybersex-Kriminalität.
Mithilfe der IJM kam es auf den Philippinen in den vergangenen drei Jahren jedoch zu rund 80 Befreiungsaktionen. Fast 300 Opfer sexueller Online-Ausbeutung konnten so gerettet werden. Knapp 90 Prozent von ihnen waren minderjährig, mehr als die Hälfte sogar unter zwölf Jahre; das jüngste Kind war gerade einmal zwei Monate alt. In etwa 80 Prozent der Fälle wurden die Kinder von ihren eigenen Eltern oder engen Verwandten missbraucht. Die IJM-Operationen führten bislang zur Verhaftung von rund 130 Verdächtigen, 24 von ihnen wurden zu meist langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Auch das Ehepaar, das Ruby gefangen hielt und zum Webcam-Sex zwang, sitzt derzeit 15 Jahre ab. Rubys Aussage hat dazu entscheidend beigetragen: „Ich habe sie gehasst, und ich wollte, dass sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden“, sagt die Studentin, die eines Tages als Anwältin Opfern sexuellen Missbrauchs beistehen möchte.
Nach der Befreiung ins Leben zurückzufinden, ist schwierig. „Diese Kinder leiden oft unter Alpträumen, Panikattacken und Depressionen. Manche wollen sich umbringen, andere werden aggressiv gegenüber anderen oder sich selbst, ihr kindliches Urvertrauen ist schwer erschüttert. Sie leiden oft unter Selbsthass und Schuldgefühlen“, berichtet Dolores Rubia, die bei der IJM für die Betreuung der Kinder und Jugendlichen verantwortlich ist, die aus der Sexsklaverei befreit wurden. Viele von ihnen mussten sich nicht nur vor einer Webcam ausziehen, sondern sich auch an ihren eigenen Geschwistern vergehen. Andere wurden auf Wunsch der Kunden von Erwachsenen – teils ihren eigenen Eltern – vor laufender Kamera vergewaltigt oder gar gefoltert.
Mit einer Mischung aus Gesprächs-, Mal-, Theater-, Musik- und Spieltherapie und manchmal auch mit Antidepressiva versuchen die Therapeuten, den missbrauchten Kindern wieder auf die Beine zu helfen. Ruby, mittlerweile 21 Jahre alt, sagt heute: „Ich bin nicht mehr das Mädchen, das vor der Webcam erniedrigt wurde, auch wenn der Missbrauch immer Teil meiner Geschichte bleiben wird. Doch diese schreckliche Zeit soll nicht den Rest meines Lebens bestimmen. Darum habe ich ausgesagt.“