PR-Manöver?
Die Wirkungslosigkeit des Angriffs führte zu Spekulationen, der Iran habe nur ein PR-Manöver mit militärischen Mitteln beabsichtigt. So sagte der frühere NATO-Generalsekretär George Robertson in Wien, der Angriff des Iran sei zwar eine „dramatische Eskalation“ gewesen, doch wollte Teheran offenkundig keinen Treffer landen. Andere Experten mutmaßten, es habe sich um einen Testangriff des Iran gehandelt, um die Kapazitäten der israelischen Luftverteidigung einschätzen zu können. Mehrere arabische Staaten waren bereit Tage vor dem Angriff davon informiert worden, darunter auch Verbündete der USA wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die diese Information auch prompt weitergaben.
Auch die Tatsache, dass sich die Hisbollah an dem Angriff nur halbherzig beteiligte, spricht gegen eine große iranische Kriegslust. Der britische Nahost- und Sicherheitsexperte H. A. Hellyer betrachtet den Angriff mehr als symbolischen Akt: „Die Absicht war, eine Szene zu machen.“ Tatsächlich bekräftigten iranische Regierungskräfte noch am Sonntag, dass ihr Gegenschlag auf Israel hiermit beendet sei, und die regimenahe „Tehran Times“ erklärte in einer ersten Analyse: „In diesem Angriff hat der Iran seine weniger fortschrittlichen Waffen in relativ geringer Menge eingesetzt. Er hat auch sichergestellt, dass bei dieser Operation keine Infrastruktur oder zivile Ziele getroffen werden. Iranische Armeeführer haben klar erklärt, dass sie kein Interesse an einem Krieg haben und dass dieser Angriff dazu gedacht war, Israel eine Botschaft zu schicken.“
Der US-Militärexperte Daniel Davis erklärte in einem Gespräch mit dem Hamburger „Spiegel“: „Die Iraner haben militärische Regionen ins Visier genommen und Waffen verwendet, von denen sie wussten, dass Israels Raketenabwehrsystem ‚Iron Dome‘ sie abfangen würde. Iran wollte also Vergeltung üben, aber aus meiner Sicht mit der Absicht, dass die Sache damit erledigt ist. Die Frage ist nun, ob Israels Premierminister das so hinnimmt.“
Netanjahus Zurückhaltung
Aber selbst wenn sich der Iran zurückhielt, konnte ein derartiger Angriff nicht ohne Folgen bleiben. Die ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz und Gadi Eisenkot sollen im israelischen Kriegskabinett auf einen unmittelbaren Gegenangriff gedrängt haben, als Zeichen der Stärke, aber auch um den absehbaren internationalen Diskussionen über die Angemessenheit einer militärischen Antwort zuvorzukommen. Regierungschef Benjamin Netanjahu wartete ab. Entgegen seinem Image in Europa agiert der israelische Ministerpräsident oft zögerlich, wenn es um den Einsatz militärischer Mittel gegen Außenfeinde geht. Über den begrenzten Schlag von Freitagfrüh bei Isfahan meinte der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir auf dem Kurznachrichtendienst X lapidar: „Schwach!“ Ben-Gvir hatte zuvor „eine vernichtende Reaktion“ gefordert.
Doch Netanjahu kündigte nach einer Sitzung des Kriegskabinetts am Dienstag eine „kluge“ Reaktion an. So wird er es auch bei seinem weiteren Vorgehen halten. Ein Nuklearschlag auf den Iran ist ausgeschlossen, ebenso ein Bombardement der Großstädte durch Raketen und Jagdbomber. Dieses könnte fatal ausfallen. Denn die Luftverteidigung des Iran ist nicht mit dem ‚Iron-Dome‘-System Israels vergleichbar. Opfer unter der iranischen Zivilbevölkerung wird Israel aber vermeiden wollen. Die vielen Toten unter der palästinensischen Bevölkerung im Gazakrieg hat Israels Image international ramponiert. Der iranische Angriff dagegen brachte der Regierung wieder viel Sympathie ein, die allerdings rasch verspielt sein könnte. Daher sind auch Angriffe auf die zivile Infrastruktur des Iran wie Stromwerke oder Raffinerien ausgeschlossen, da dabei ebenfalls Zivilisten ums Leben kommen könnten. Zudem würde dies zwangsläufig in einen Krieg zwischen Israel und dem Iran münden. Allerdings sind Israels militärische Kapazitäten mit den Einsätzen in Gaza und der Abwehr von Raketenangriffen der mit dem Iran verbündeten Hisbollah aus dem Libanon bereits ausgelastet. Durch einen offenen Konflikt mit dem Iran würde sich Israel überdehnen.
Entscheidet sich das Kriegskabinett für einen weiteren Angriff, könnte er auf militärische Infrastruktur und jene Bunker abzielen, in denen der Iran Atomwaffen entwickelt. Deren Lage ist von den israelischen Nachrichtendiensten längst aufgeklärt. Für eine Zerstörung sind allerdings spezielle bunkerbrechende Fliegerbomben mit hoher Durchschlagskraft notwendig, über die wohl nur die USA verfügen. Auch hat Israel wohl nicht die geeigneten Flugzeuge zum Abwurf solcher Bomben. Verdeckte Operationen gegen Repräsentanten des iranischen Regimes wurden schon in der Vergangenheit regelmäßig durchgeführt, sogar auf iranischem Territorium. Zielpersonen waren meist am Atomwaffenprogramm beteiligte Wissenschaftler, Ingenieure und Militärs.
Angriff auf Revolutionsgarden
Eine „kluge“ Antwort könnte auch darin bestehen, iranische Einrichtungen außerhalb des Irans anzugreifen, etwa Stützpunkte der Revolutionsgarden in Syrien. Diese dürften sich bereits in erhöhter Alarmbereitschaft befinden. Ein Angriff auf hochrangige iranische Militärs in Syrien war auch Auslöser für den aktuellen Flugangriff. Am 1. April hatten israelische Kampfjets das iranische Konsulat in Damaskus mit Raketen beschossen. Dabei starben hochrangige Offiziere der Revolutionsgarden, darunter General Mohammad Reza Zahedi. Iran warf Israel vor, mit dem Angriff eines diplomatischen Gebäudes gleichsam die Regeln ihres Schattenkrieges gebrochen zu haben. Der religiöse Führer, Ayatollah Ali Khamenei, ließ wissen, dass „das üble zionistische Regime durch die Hand unserer tapferen Männer bestraft werden wird. Wir werden dafür sorgen, dass sie dieses und andere Verbrechen bereuen.“ In Teheran wurde ein Plakat mit einem Bild General Zahedis aufgehängt und der Botschaft – in Persisch und Hebräisch: „Ihr werdet bestraft, und ihr werdet es bereuen.“
Israel argumentierte, bei dem Angriff seien keine Diplomaten, sondern terroristische Militärs getötet worden, deren Ziel die Zerstörung Israels sei. Mithin wären sie ein legitimes Ziel. Anzunehmen ist, dass Israel in den nächsten Wochen versuchen wird, weitere hochrangige Offiziere der Revolutionsgarden ins Visier zu nehmen. Gemutmaßt wird auch, dass Israel nicht militärisch, sondern digital zurückschlägt. Auch solche Cyberangriffe wurden bereits durchgeführt, etwa auf Nuklearanlagen und Industriebetriebe. Eine softe Antwort hätte sich auf diplomatische Maßnahmen beschränkt. So bemüht sich Israel darum, dass die Islamische Republik international noch stärker isoliert wird. Außenminister Israel Katz forderte die EU-Staaten bereits auf, die Revolutionsgarden zur terroristischen Organisation zu erklären.
Die „New York Times“ spekulierte, Israel könnte sich darauf beschränken, ein wichtiges symbolisches Ziel im Iran anzugreifen. CNN berichtete auf Basis von nachrichtendienstlichen Quellen in der Region, die direkte Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Iran sei mit dem Luftangriff bei Isfahan vorbei.
Bidens Appell
Die „klugen“ Maßnahmen haben etwas gemeinsam: Sie wären von Israel wohl auch ohne den Luftangriff des Iran durchgeführt worden oder würden öffentlich eher unbemerkt bleiben. Daher fordern manche in Netanjahus Kabinett eine geharnischte Antwort mit durchschlagendem Öffentlichkeitseffekt. Es ist die Grundregel des Nahostkonflikts: Auf einen Schlag folgt ein Gegenschlag. Alles andere wäre ein Ausdruck von Schwäche. Die Ultranationalisten in der derzeitigen israelischen Regierung wollen die Gelegenheit zur Eskalation nutzen. Itamar Ben-Gvir sprach bereits davon, dass Israel „Amok laufen“ müsse.
Aus Sicht der Amerikaner bedeutet Zurückhaltung nicht Schwäche, sondern Vernunft. US-Vertreter stellten klar, gegen eine massive militärische Antwort zu sein. Auch würde das US-Militär Israel dabei nicht unterstützen. US-Präsident Biden legte Benjamin Netanjahu schon am Tag nach dem Angriff nahe, die fast vollständige Vernichtung der iranischen Raketen als Erfolg zu begreifen.
Allerdings sind es wohl nicht nur Sicherheitsüberlegungen, die das Handeln des Premiers bestimmen, sondern der eigene politische Überlebenswille. Netanjahu stand in den Monaten vor dem Angriff der Hamas auf Israel und dem folgenden Gazakrieg innenpolitisch schwer unter Druck. Er hat drei Korruptionsverfahren am Hals und mit seinem zynischen Drängen auf eine umfassende Justizreform die größte innenpolitische Protestbewegung der letzten Jahrzehnte ausgelöst: Monatelang demonstrierten Hunderttausende für seine Absetzung. Michael Oren, ein ehemaliger Knesset-Abgeordneter und israelischer Botschafter in den USA, erklärte dem Magazin „New Yorker“, Netanjahu „scheint nicht zwischen persönlichen und politischen Interessen unterscheiden zu können“.
Die an der Person Netanjahus manifest gewordene innere Unsicherheit Israels war möglicherweise auch ein Faktor für den Überraschungserfolg der Hamas-Attacken vom 7. Oktober. Der ehemalige Premier Naftali Bennett meinte im Jänner: „Israel hat sich selbst entzweit und sein Immunsystem geschwächt. Unser Feind hat das erkannt und angegriffen.“
Druck auf Mullahs
Auch die Mullahs in Teheran stehen innenpolitisch unter Druck. Die langjährigen Sanktionen des Westens haben die Wirtschaft des Landes dramatisch geschwächt, die Führung ist bei der Bevölkerung unbeliebt, und Zehntausende protestierten trotz massiver Repressionen für einen Regimewechsel. Langfristig wäre für Ajatollah Ali Khamenei und seinen Präsidenten Ebrahim Raisi eine Normalisierung der Situation im Nahen Osten – etwa durch eine Lösung im Palästinenserkonflikt und eine weitere Normalisierung der Beziehungen Israels zu Saudi-Arabien und den Golfstaaten – ein strategisches Malheur, das es zu verhindern gilt.
Ein weiterer Gegenschlag Israels mit zivilen Opfern würde wohl dazu führen, dass sich große Teile der iranischen Bevölkerung hinter der eigenen Führung sammeln. Taktische Überlegungen würden daher aus israelischer Sicht gegen weitere Maßnahmen sprechen. Eine – wenn auch knappe – Mehrheit der Israelis denkt ohnehin defensiv. Laut einer Umfrage der Hebräischen Universität Jerusalem sagen 52 Prozent der Bevölkerung, Israel sollte auf einen Gegenschlag verzichten, um die aktuelle Gewaltspirale zu beenden. 48 Prozent denken, Israel sollte auch um den Preis einer Eskalation des Konflikts zurückschlagen. Eine deutliche Mehrheit wendet sich allerdings gegen einen israelischen Alleingang. 74 Prozent lehnen einen Gegenschlag ab, sollte dadurch die Sicherheitsallianz mit den USA, Großbritannien, Frankreich und gemäßigten arabischen Staaten wie Jordanien und Saudi-Arabien beschädigt werden. Mittlerweile wird bereits über eine Art Kompromissgeschäft spekuliert. Israel verzichtet auf einen weiteren, dann massiven Gegenschlag gegen die Islamische Republik Iran und erhält im Gegenzug von den USA einen Freibrief für seine Einsatzpläne in Rafah im Süden des Gazastreifens.
In der Kinderintensivstation des Soroka Medical Center in Beersheba in der Negev-Wüste rang das Beduinenmädchen Amina, eine Muslimin, am vergangenen Donnerstag um ihr Leben.