Kommentar

Netanjahu und der Haftbefehl

Ist die internationale Justiz von Antisemitismus getrieben?

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Wann immer jemand zu wissen behauptet, Benjamin Netanjahu, Israels Ministerpräsident, und Joav Galant, Ex-Verteidigungsminister, hätten sich Kriegsverbrechen oder eines Genozids schuldig gemacht, sagt das viel über den jeweiligen Kommentator aus und wenig über den Fall selbst.

Umgekehrt ist es ebenso. Wer zu wissen behauptet, Netanjahu und Galant seien unschuldig, legt damit seine eigene Agenda offen, mehr nicht. Es ist nicht leicht, einen neutralen Blick zu bewahren, wenn Israel vom Internationalen Gerichtshof (IGH) und Netanjahu und Galant vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) belangt werden. Zu aufwühlend ist die Tatsache, dass die internationale Justiz einen westlichen Rechtsstaat ins Visier nimmt und nun sogar Haftbefehle gegen dessen höchste Repräsentanten erlässt. Zumal Israel am 7. Oktober 2023 Opfer eines unsagbaren Terrorangriffs der Hamas wurde. Sehr leicht lässt sich der Schluss ziehen, Israel werde von den Gerichten in Den Haag vom Opfer zum Täter gemacht.

Doch dieser Schluss ist falsch.

Die beiden internationalen Gerichtshöfe kommen einem klaren Auftrag nach und tun dies transparent und nachvollziehbar. Die Vorwürfe gegen sie gehen ins Leere:

Der IStGH betreibt keine Gleichsetzung, wenn er sowohl Anführer der Hamas als auch Mitglieder der israelischen Regierung strafverfolgt. Kein Gericht dieser Welt setzt Beschuldigte in irgendeiner Weise auf eine Stufe, nur weil es sie im selben Zeitraum belangt.

Die Gerichtshöfe sind nicht dafür verantwortlich, dass die Verfahren gegen Israel angeblich den Staat selbst, dessen Institutionen und insbesondere die Israelischen Streitkräfte (IDF) delegitimieren würden. Sie würden vielmehr gegen ihre Prinzipien verstoßen, wenn derartige Überlegungen in der Frage, ob Ermittlungen gerechtfertigt sind, eine Rolle spielten.

Dass diese Verfahren geführt werden, hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Die Sorge, dass Israel im Krieg gegen die Hamas Kriegsverbrechen begehen könnte und Handlungen setzt, die unter die Genozid-Definition fallen könnten, ist auch unter den Verbündeten weit verbreitet. Eine Reihe westlicher Staaten hat deshalb Waffenverkäufe an Israel formell untersagt oder diskret eingestellt. Das US-Außenministerium setzte Israel im Oktober ein Ultimatum: Sollte die Regierung Netanjahu nicht dafür sorgen, dass innerhalb von 30 Tagen mehr humanitäre Hilfe nach Gaza gelangt, würden auch die USA Waffenlieferungen stoppen. Die Zeit verstrich, ob Israel den Forderungen nachkam, ist umstritten, die USA sahen jedenfalls von einer Sanktion ab. Allein die Tatsache, dass die USA unter dem unbezweifelbar proisraelischen Präsidenten Joe Biden zu solchen Mitteln greifen, ist ungewöhnlich.

Viele Fragen sind ungeklärt: Verfolgt Israels Regierung das Ziel, die Bevölkerung in Gaza auszuhungern? Haben die IDF den Auftrag, keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen? Werden Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen bewusst eingesetzt?

Der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, sagt, er habe Belege für diese Anschuldigungen, die die Öffentlichkeit nicht kennt. Etwa für diesen Sachverhalt: Netanjahu und Galant hätten dafür gesorgt, dass keine Narkosemittel nach Gaza gebracht worden seien und Ärzte deshalb Operationen und sogar Amputationen an Kindern ohne Betäubung durchführen mussten.

Das Verfahren ist noch Jahre von einem Urteil entfernt. Ein Ankläger kann Belege überbewerten. Er kann Einzelfälle im Feld als Folge einer generellen Anordnung der Führung missinterpretieren. Er kann die Balance zwischen militärisch notwendiger Gewalt und dem Schutz der Zivilbevölkerung falsch einschätzen. Möglich, dass Khan diese Fehler begeht. Was er jedoch nicht darf, ist, Belege zu ignorieren, die nahelegen, dass Verbrechen begangen wurden.

Das Gericht ist zu dem Schluss gekommen, die Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant seien rechtens. Netanjahu sagt, es handle sich um eine Entscheidung von „voreingenommenen Richtern, getrieben von antisemitischem Hass gegen Israel“. Unmut zu äußern, ist sein gutes Recht.

Schwerer jedoch wiegt das Recht der Weltgemeinschaft auf ein faires Verfahren und ein Urteil durch die internationale Justiz.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur