Kosovo-Serbe über Banjska: „Keine Terroristen, sondern Helden“
Vor dem Kloster von Banjska stand einmal ein Eisentor. Jetzt hängt es verbogen in den Angeln, sodass das Schild mit den Öffnungszeiten kopfsteht: von 7:00 bis 17:00 Uhr.
Die Angreifer, die das Tor mit einem gepanzerten Fahrzeug rammten, kamen in der Nacht auf Sonntag, dem 24. September. Es waren rund 30 Männer, ausgestattet im Stil einer Guerilla-Gruppe. Sie trugen Uniformen ohne Abzeichen, waren zum Teil maskiert, und sie waren mit Sturmgewehren bewaffnet. Bevor sie sich im Kloster von Banjska verschanzten, versperrten sie die Dorfbrücke mit zwei quer stehenden Lkw. Die kosovarische Polizei rückte an, dann kam es zu einer Schießerei. Dabei kam ein kosovo-albanischer Polizist namens Afrim Bunjaku ums Leben.
Die Kämpfer drangen in das Dorf ein. Sie wiesen die Bewohner an, in ihren Häusern zu bleiben. Den ganzen nächsten Tag waren in Banjska Schüsse zu hören. Ein Bewohner aus der nahe gelegenen Stadt Mitrovica erzählt, dass er in jener Nacht eine SMS erhalten habe, in der stand: „In Banjska herrscht Krieg.“
Banjska ist ein verschlafenes Dörfchen, das für zwei Dinge berühmt ist: seine Spa-Therme aus der Zeit Jugoslawiens und das Bier, das die Mönche im serbisch-orthodoxen Kloster brauen. Seit dem 24. September ist Banjska ein mahnendes Beispiel dafür, wie brüchig der Frieden zwischen Kosovo und Serbien ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg ist.
Dejan Nedeljković, ein Mann von 40 Jahren mit kurz geschorenen Haaren und einem tätowierten Wolfsrudel am Arm, ist in Banjska aufgewachsen, ein Dorf mit 300 Bewohnern, das 15 Kilometer von der serbischen Grenze entfernt liegt. Das Haus seiner Eltern steht am Fuße des Klosters, erzählt er, und am 24. September waren sie zu Hause.
„Meine Mutter hat den Männern Kaffee und Kekse gebracht. Sie dachte, sie sind von der serbischen Armee“, sagt Nedeljković. Er spricht über die Männer, als wären sie müde Wanderer und nicht Mitglieder einer paramilitärischen Einheit. „Es ist kein Geheimnis, dass die Menschen den Norden gerne abtrennen würden. Die Männer wollten dabei helfen, den Norden mit Serbien zu vereinigen“, glaubt er.
Meine Mutter hat den Männern Kaffee und Kekse gebracht. Sie dachte, sie sind von der serbischen Armee
Ein Krim-Szenario auf dem Balkan?
Aus Sicht der Regierung in Prishtina war genau das das Ziel. Vjosa Osmani, die Präsidentin des Kosovo, sprach von einem „Krim-ähnlichen Annexionsplan“, hinter dem der serbische Staat stecke. "Wir haben Karten, Drohnenaufnahmen, die Waffen der Angreifer und ihre auf der Flucht zurückgelassenen Telefone ausgewertet. Daraus geht klar hervor, dass sie an 37 Orten gleichzeitig in einer hybriden Operation Fakten schaffen wollten, um den Norden unseres Landes zu besetzen", so Osmani in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung "Welt". Die Präsident des Kosovo zeigt sich besorgt, „dass es in Zukunft zu ähnlichen Angriffen, auch in größerem Ausmaß, kommen könnte, wenn Serbien nicht verurteilt wird.“ Solange es keine Sanktionen gegen Serbien gibt, werde Prishtina sich nicht an den Verhandlungstisch setzen.
Der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti hat wenige Tage nach dem Angriff Drohnenvideos veröffentlicht. Sie sollen zeigen, wie die Terrorgruppe in Camps der serbischen Armee trainieren. Serbiens Präsident Aleksander Vučić hat die Vorwürfe von sich gewiesen. Serbien wolle Verhandlungen, nicht Krieg, meinte er letzte Woche in einem Interview mit dem Fernsehsender CNN: „Wir haben viel zu verlieren. Warum sollten wir solche Spielchen spielen?“
Ist Vučićs Ahnungslosigkeit glaubwürdig?
Ein Anruf beim österreichischen Außenminister Alexander Schallenberg, der den serbischen Präsidenten aus vielen persönlichen Gesprächen kennt. Zwei Fragen seien jetzt zentral, sagt er. Was war das Ziel der Gruppe? Und wie eng war ihre Verbindung zum serbischen Staat?
Die kosovarische Polizei sei derzeit unter Einbindung der EU-Rechtsstaatlichkeitsmission (Eulex) mit der Aufklärung des Anschlags beschäftigt. „Warten wir erst einmal die Untersuchung ab“, sagt Schallenberg im Gespräch mit profil, „wir sollten nicht sofort mit Maßnahmen aus der Hüfte schießen. Wenn allerdings bekannt wird, dass staatliche Strukturen in Transport, Training oder Beschaffung der Waffen eingebunden waren, muss es eine Reaktion geben.“
Warten wir erst einmal die Untersuchung ab. Wir sollten nicht sofort mit Maßnahmen aus der Hüfte schießen.
Hinter den Kulissen hört man, dass Sanktionen der EU gerade sehr ungelegen kommen. Der Westen sieht Vučić trotz seiner nationalistischen Rhetorik und trotz seiner engen Beziehung zu Russland als Stabilitätsanker und Partner auf dem Balkan. In Hintergrundgesprächen mit Diplomaten hört man Sätze wie: "Ohne Serbien geht nichts auf dem Balkan."
Doch es wird eng für Vučić. Die Angreifer verfügten über ein modernes Waffenarsenal, mit dem man laut den kosovarischen Behörden „Hunderte Kämpfer“ hätte ausstatten können. „Für mich ist es undenkbar, dass die Vorbereitung auf diesen Angriff und die Bewaffnung der Kämpfer ohne das Wissen der serbischen oder russischen Geheimdienste abgelaufen ist“, sagt der Balkanexperte Vedran Džihić, der an der Universität Wien lehrt. „Man muss wissen, dass Vučić den Norden des Kosovo schon immer gesteuert hat. Es ist aber auch gut möglich, dass der Angriff ohne sein Wissen stattgefunden hat. Dann deutet alles darauf hin, dass sein straff organisiertes Regime Lücken aufweist und er nicht mehr alle Fäden zusammenhalten kann.“ Im Interview mit "profil" sagt der Politikwissenschaftler Agon Maliqi: „Das waren keine Zivilisten. Das war eine militarisierte, staatliche geförderte Einheit. Die Bereitstellung, Beschaffung und der Transport der Waffen können nur durch staatliche Einheiten erfolgen." Militärexperten, mit denen profil gesprochen hat, argumentieren ähnlich. Es sei schwierig, Waffen in diesem Umfang und in dieser Qualität auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen. Es brauche einen "Maulwurf" in den Sicherheitsbehörden, der Waffen abzweigt.
Man muss wissen, dass Vučić den Norden des Kosovo schon immer gesteuert hat.
Wer ist Milan Radoičić?
Mittlerweile hat sich Milan Radoičić zu dem Anschlag bekannt, eine Art informeller Herrscher im Norden, der aufgrund seiner Verwicklung in die organisierten Kriminalität auf einer US-Sanktionsliste steht. Als Bauunternehmer verdiente er Millionen aus Staatsaufträgen, die ihm die serbische Regierung zuschanzte. Im Nordkosovo heißt es, er habe mehr Geld, als er ausgeben könne. Manche werfen ihm Korruption im großen Stil vor. Andere bewundern ihn, weil er kranken serbischen Kindern die Operation bezahlt hat.
Radoičić war nicht nur ein dubioser Geschäftsmann, sondern auch der Vizechef der „Srpska Lista“. Das ist die Partei der Kosovo-Serben. Über seinen Anwalt ließ er ausrichten, den Anschlag ganz allein geplant zu haben. Aber viele bezweifeln das.
„Srpska Lista und Belgrad, das ist genau dasselbe“, sagt jemand, der den Norden gut kennt. Die Partei sei ein „Briefkasten“ und erhalte klare Anweisungen aus Serbien. Für diese Theorie spricht, dass ein serbisches Gericht Radoičić nach 24 Stunden wieder auf freien Fuß setzte und sich weigerte, eine Untersuchungshaft zu verhängen.
Viele westlichen Diplomaten zeigten sich daraufhin empört. „Das geht schon einmal völlig in die falsche Richtung. Der Umgang mit Radoičić wird der Lackmustest sein. Wir werden sehen, wie groß die Angst der serbischen Regierung ist, dass er auspackt“, sagt einer.
Und was sagt die EU?
All diese Gespräche finden immer nur im Schutz der Anonymität statt. Brüssel hütet sich, zu schnell mit dem Finger auf die Regierung in Belgrad zu zeigen. „Die EU wird auf Grundlage der Untersuchung nächste Schritte einleiten“, heißt es aus dem Büro des Hohen Repräsentanten Josep Borrell. Angesprochen auf die Frage, was das Ziel der Angreifer gewesen sein könnte, antwortet sein Sprecher: „Die Menge der beschlagnahmten Waffen ist enorm und gibt Anlass zu großer Sorge. Es ist ein Alarmsignal, dass die Lage im Norden des Kosovo äußerst ernst ist.“ Die EU spricht offiziell von einem Terroranschlag.
Wenn aus Terroristen Märtyrer werden
Aleksander und Petar schütteln den Kopf, wenn sie so etwas hören. „Das waren keine Terroristen“, protestieren sie, „sondern Helden und Märtyrer.“
Die beiden sind 27 und 33 Jahre alt und leben im Nordkosovo. Sie heißen eigentlich anders und wollen anonym bleiben. Das Treffen findet in einer Bar im Norden der Stadt Mitrovica statt. Hier kann man, anders als im ethnisch-albanischen Süden, mit serbischen Dinar bezahlen. Auf der Straße flattern serbische Fahnen, und die Autofahrer weigern sich seit über einem Jahr, Kfz-Kennzeichen mit dem Wappen der Republik Kosovo anzubringen. Fragt man Aleksander, wo er lebt, sagt er: in Serbien.
Einer der Guerilla-Kämpfer aus Banjska war ein Kumpel von ihm. Stefan N., 32 Jahre alt, wurde am 24. September nach stundenlangen Gefechten von kosovarischen Spezialeinheiten getötet. Neben ihm starben noch zwei weitere Terroristen. Ein Teil der Kämpfer wurde festgenommen. Dem Großteil gelang die Flucht über die grüne Grenze nach Serbien.
Serbische Boulevardblätter veröffentlichten Fotos der drei getöteten Männer und titelten: „Das sind unsere Helden aus dem Kosovo.“ Aleksander aus Mitrovica sieht das auch so: „Stefan war kein Terrorist. Er war ein Mann, der die Situation hier satthatte und den Terror aus Prishtina nicht mehr ertragen wollte.“
Zankapfel Gemeindeverband
Mit „Terror“ meint Aleksander die Präsenz der Spezialeinheiten, die Albin Kurti seit seinem Amtsantritt im Jahr 2021 vermehrt in den Norden schickt, um den im Norden grassierenden Drogenschmuggel zu bekämpfen. Viele Kosovo-Serben fühlen sich von den schwer bewaffneten, zumeist nur Albanisch sprechenden Männern in den gepanzerten Fahrzeugen eingeschüchtert. Dazu kommt, dass sich Kurti weigert, einen Gemeindeverband für die Serben umzusetzen, eine Art Selbstverwaltung in den Bereichen Kultur, Gesundheitswesen und Bildungssystem. „Wir haben dasselbe Schulsystem wie in Serbien, und ich will, dass das so bleibt“, sagt Marijana, eine Lehrerin aus Mitrovica. Sie wolle keine Dokumente mit dem Stempel der Republik Kosovo, sagt sie. Sie will, dass die Ärzte serbische Gehälter beziehen und die Serben im Notfall in einem serbischen Krankenhaus behandelt werden können.
Die EU und die USA pochen seit Monaten auf den Gemeindeverband. Ohne ihn, so heißt es, liege der Dialog auf Eis. Aber Kurti ist unnachgiebig. Er befürchtet, dass die Kosovo-Serben die Autonomie missbrauchen und eine „Republika Srpska im Kosovo“ etablieren könnten. Das ist eine Anspielung auf jene serbische Entität Bosnien-Herzegowinas, die seit Jahren mit der Abspaltung droht.
Eben dort, in der Republika Srpska, tauchte ein Wandgemälde auf. Es zeigt Stefan N., einen der Angreifer von Banjska, die drei Finger zum serbischen Gruß erhoben, eine nationalistische Geste, die auf die Zeit der Balkankriege zurückgeht. Hooligans hissten dasselbe Banner in einem Fußballstadion in Belgrad. Stefan N. war Fan des Clubs „Roter Stern Belgrad“, erzählt jemand, der mit ihm aufgewachsen ist. Die Fankurve ist für ihre nationalistischen Chöre bekannt. Im Juli enthüllten sie ein Banner, auf dem stand: „Wenn die Armee in den Kosovo zurückkehrt“.
Niemand, mit dem profil im Norden des Kosovo gesprochen hat, verurteilt klar und deutlich, was Stefan N. in Banjska getan hat. „Ihr Ziel war es, den Nordkosovo zu befreien. Und ihre Familien. Freiheit, das ist unser Traum. Aber ich gebe zu, dass Gewalt keine Lösung ist“, sagt Marjana, die Lehrerin. „Banjska musste passieren. Es war nur eine Frage der Zeit", sagen Aleksander und Petar, die beiden Männer aus Mitrovica. Aleksander erzählt, dass sein Cousin festgenommen wurde, weil er auf dem Smartphone ein Foto mit Stefan N. hatte. Für ihn ist das ein Beweis dafür, dass Kosovo-Serben im Norden drangsaliert werden. Dass auch andere Länder nach einem Terroranschlag Verdächtige festnehmen und Netzwerke untersuchen würden, sagt er nicht.
Alle sind sich einig: Stefan N., das war einer von uns, ein ganz normaler Bürger.
Ihr Ziel war es, den Nordkosovo zu befreien. Und ihre Familien. Freiheit, das ist unser Traum. Aber ich gebe zu, dass Gewalt keine Lösung ist
Zvečan: Stacheldraht um die Gemeinde
Stefan N. lebte in Zvečan, eine Kleinstadt, die einst von Minenarbeitern gegründet wurde. Es ist die Stadt, aus der die Familie des berühmten, serbischen Tennisspielers Novak Djoković stammt (Siehe S. 62). Zvečan wurde zu einer Art Keimzelle des Widerstands gegen die Regierung in Prishtina. Eine Geschichtsaufarbeitung hat es hier nie gegeben. Am Dorfeingang prangt das Konterfei von Ratko Mladić, jenem General, der für den Völkermord in Srebrenica verurteilt wurde. Das Massaker gilt als schlimmstes Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Auf dem Gemeindeamt der Stadt sind Slogans gesprayt, die dazu aufrufen, die Lokalwahlen zu boykottieren. Diese fanden im April statt. Die Beteiligung lag bei 3,5 Prozent, da nur die Albaner, die im Norden eine Minderheit sind, teilnahmen.
Trotzdem ließ Albin Kurti vier ethnisch-albanische Bürgermeister in den Ämtern einsetzen. Der Westen riet ihm dringend davon ab, aber Kurti soll einfach das Handy ausgeschaltet haben. „Er wusste, dass es Blut geben wird, und tat es trotzdem. Er hat der NATO eine halbe Stunde vorher Bescheid gesagt“, sagt ein Vermittler, der damals auf Kurti eingeredet hat. Bei Zusammenstößen mit militanten Serben wurden daraufhin 30 Soldaten der NATO-Schutztruppe Kfor verletzt.
Auch Stefan N. soll Teil der Menge gewesen sein und geriet so in den Fokus der kosovarischen Polizei. Um nicht verhaftet zu werden, floh er nach Serbien. Das erzählt man im Norden über ihn, und das deckt sich mit dem, was auch seine Freunde sagen: „Er hatte den Mut, in den Kosovo zurückzukehren.“ Und: „Nach dem Clash in Zvečan ist er verschwunden. Ich habe ihn vier Monate nicht mehr gesehen."
Seit den Ausschreitungen Ende Mai ist das Gemeindeamt von Zvečan geschlossen und mit Stacheldraht umspannt. Griechische Kfor-Soldaten patrouilliert am Eingang. Es ist unklar, ob und wann die Wahl wiederholt wird. Dazu kommt die Frage, ob die „Srpska Lista“, die dominierende Partei im Norden, überhaupt antreten darf. Immerhin ist ihr ehemaliger Vizechef Milan Radoičić als militanter Rädelsführer enttarnt worden.
Am Grab des Polizisten
Afrim Bunjaku, der Mann, der sich Milan Radoičić entgegenstellte und dabei sein Leben verlor, liegt in einem Dorf namens Samadrexhë südlich von Mitrovica begraben. Auf dem Ortsschild ist die serbische Schreibweise durchgestrichen. Während des Kosovokrieges wurde die Moschee von serbischen Paramilitärs niedergebrannt. Mittlerweile steht eine neue im Dorfzentrum.
Jeder im Dorf kannte Bunjaku. „Es tut mir im Herzen weh, dass seine Kinder ohne ihren Vater aufwachsen müssen“, sagt ein Nachbar, der gerade sein Gartentor streicht. Dann zeigt er mit dem Pinsel die Straße hinunter: Dort drüben liegt sein Haus.
Im Garten der Familie Bunjaku wachsen Rosenbüsche. Daneben steht die Schwägerin des getöteten Polizisten und weint. Sie lebt seit 30 Jahren in Deutschland und muss bald zurück, hat aber Angst, ihre Familie mit der Trauer allein zu lassen. „Ich habe Afrim geliebt wie einen Bruder“, sagt sie. Und dann: „Ich hätte mir nicht gedacht, dass so etwas heute noch möglich ist.“ Mit „so etwas“ meint sie: dass ein albanischer Polizist 24 Jahre nach dem Krieg in den Norden des Kosovo auf Streife fährt und von serbischen Paramilitärs getötet wird.