Gleb Pawlowskij

Kreml-Spin-Doctor Pawlowskij: "Wir waren die Vorreiter der Fake News"

Gleb Pawlowskij, ehemaliger Spin-Doktor des Kreml und Miterfinder der „gelenkten Demokratie“, über die Massenproteste in Russland, die bevorstehenden Wahlen in Moskau und die Zukunft des Landes nach Wladimir Putin.

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Es sind nur wenige Hundert Meter von seinem Büro zum Kreml. Doch wenn man Gleb Pawlowskij (68) glauben darf, dann trennen ihn Welten vom Machtzentrum Russlands. Lange Zeit galt Pawlowskij als graue Eminenz im Kreml. In der Sowjetunion war er Dissident, nach der Wende beriet er Präsident Boris Jelzin. Als dieser um die Jahrtausendwende die Macht an Wladimir Putin übergab, war der studierte Historiker hautnah als Spin-Doktor mit dabei. Er gilt als einer der Architekten des Systems der „gelenkten Demokratie“. Er sei „ein Putinist“ gewesen, sagt Pawlowskij im Gespräch mit profil. Inzwischen hat er sich aber mit der russischen Führung überworfen und gibt sich seither als geläuterter Kritiker des Systems Putin. Sein Arbeitsplatz liegt nicht mehr im Kreml, sondern in einem Hinterhof nahe der sechsspurigen Prachtstraße Twerskaja.

An der Frage, wie Gleb Pawlowskij einzuordnen ist, scheiden sich die Geister: Einen „Intellektuellen, in dem sich Russlands Geschichte widerspiegelt, eine Romanfigur à la Dostojewskij, klug, geheimnisvoll, glamourös und zynisch“, nennt ihn der bulgarische Politologe Ivan Krastev. Der Schweizer Historiker und Russland-Experte Ulrich Schmid sieht hingegen einen „zynischen Auftragsnehmer in politischer PR“.

profil traf Pawlowskij, um mit ihm über den russischen Protestsommer 2019 zu sprechen. Seit Wochen demonstrieren Tausende Menschen in Moskau, weil die Wahlbehörde alle unabhängigen Kandidaten von der Wahl zum Stadtparlament, die kommenden Sonntag stattfindet, ausgeschlossen hat. Die Polizei ging hart gegen die Demonstranten vor und sperrte Tausende ein. Trotzdem ebbten die Proteste nicht ab.

INTERVIEW: SIMONE BRUNNER, MOSKAU

profil: Tausende Menschen gehen Woche für Woche auf die Straße. Wann wird eine solche Situation für den Kreml gefährlich? Pawlowskij: Dass zuletzt 50.000 Menschen demonstrierten, hängt mit der unverhältnismäßigen Polizeigewalt der vergangenen Wochen zusammen, nicht mit den Wahlen. Es sind auch keine Proteste von nationalem Ausmaß, sie sind auf Moskau beschränkt.

profil: Sie sehen also keine Krise des System Putins? Pawlowskij: Die Moskauer Proteste sind eine Krise der Macht – aber nicht des Kreml, sondern des Bürgermeisteramtes. Konkrete politische Forderungen und Ideen, die über die Wahlen zum Stadtparlament hinausgehen und für das ganze Land Gültigkeit habe, gibt es nicht. Ich bezweifle, dass diese Proteste für den Kreml gefährlich werden können. Die Menschen können nicht jeden Samstag auf die Straße gehen, um sich von der Polizei zusammenschlagen zu lassen! Derzeit sitzt die Staatsmacht noch ganz klar auf dem längeren Ast.

profil: Trotzdem erlebt Russland einen hitzigen Protestsommer. Zuerst demonstrierten Menschen für die Freilassung des Investigativjournalisten Iwan Golunow, dann gegen einen Kirchenbau in Jekaterinburg und schon seit Wochen gegen die Stadtregierung von Moskau. Pawlowskij: Diese Demonstrationen haben wenig miteinander zu tun, sie sind isolierte Phänomene. Es gibt immer wieder Protestwellen bei uns, aber niemanden, der diese Stimmung nachhaltig für sich zu nutzen wüsste – keine Partei, keine Bewegung, keine politische Infrastruktur. Deswegen verpuffen sie nach einer gewissen Zeit wieder.

Wenn der Kreml in eine unangenehme innenpolitische Situation kommt, behilft er sich mit außenpolitischer Eskalation.

profil: Putin steht vor seiner vierten – und laut Verfassung letzten – Amtszeit. Sie vertreten die These, dass Russland sich schon in der „Post-Putin-Ära“ befinde und die Suche nach einem Nachfolger begonnen habe. Kommen die Massenproteste da nicht denkbar ungelegen? Pawlowskij: Dass die Polizei mit derartiger Brutalität auf die Proteste reagiert, hängt tatsächlich damit zusammen, dass wir uns schon im Post-Putin-Russland befinden. Die „Silowiki“ (die Sicherheitskräfte aus Geheimdiensten und Militär, Anm.) bringen sich in Stellung. Ihre Position wird gestärkt, jene des liberalen Flügels um den Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin geschwächt. Das ist ein Vorgeschmack auf 2024, wenn Putins Amtszeit endet.

profil: Mit gesteuerten Machtübergaben kennen Sie sich aus. Um die Jahrtausendwende waren Sie als Spin-Doktor im Kreml maßgeblich daran beteiligt, den Übergang der Macht von Boris Jelzin auf Wladimir Putin zu begleiten. Pawlowskij: Das war eine völlig andere Situation. Am Ende der Jelzin-Ära war Russland weltpolitisch unbedeutend. In der Zwischenzeit hat Putin den Staat umgebaut. Nach außen hin tritt Russland mit dem Selbstverständnis auf, sich in die Angelegenheiten jedes x-beliebigen Landes auf der Welt einmischen zu können – eine Parodie der amerikanischen Politik in vergangenen Zeiten, die aber auch nach innen wirkt. Wenn der Kreml in eine unangenehme innenpolitische Situation kommt, behilft er sich mit außenpolitischer Eskalation.

profil: Was bedeutet das für die bevorstehende Machtübergabe? Pawlowskij: Natürlich hatte sich auch Jelzin mehr herausgenommen, als ihm die Verfassung erlaubt hätte – aber bei Weitem nicht so viel wie Putin. Seine Kompetenzen sind so umfassend, dass es illusorisch wäre, sie auf eine andere Einzelperson zu übertragen.

profil: Was wird im Jahr 2024 passieren? Pawlowskij: Bei Putins Macht geht es nicht nur um ihn selbst, sondern auch um die Leute um ihn herum. Das ist ein höfischer Kreis wie bei Ludwig XIV. Wenn Putin versuchen sollte, sich davon loszusagen, würde er selbst große Probleme bekommen. Er schützt sein Umfeld und wird im Gegenzug von ihm geschützt. Diesen Menschen kann man nicht einfach eine andere Person vorsetzen, das würde zu einer Revolte führen. Deswegen denke ich, dass am ehesten eine kollektive Führung das Ruder übernehmen wird, vielleicht auf der Basis des Sicherheitsrates oder des Staatsrats der Russischen Föderation.

Wenn Sie sich auf Putin konzentrieren, verpassen Sie die Dinge, die um ihn herum passieren.

profil: Von welcher Gruppe sprechen Sie? Pawlowskij: Unter Jelzin diskutierten wir offen darüber, wie wir den Übergang der Macht gestalten können. Heute ist es sehr gefährlich, öffentlich über konkrete Namen zu sprechen. Aber da es im gegenwärtigen Russland um globale Ambitionen geht, werden die Machthaber wohl eher Personen aus dem Militär oder dem Sicherheitsbereich sein.

profil: Sie plädieren dafür, nicht nur Putin zu betrachten, sondern das gesamte russische Machtsystem. Als Vorbild nennen Sie das „Long Telegram“ des US-Diplomaten George Kennan aus dem Jahr 1946. Dieses konzentrierte weniger auf Josef Stalin als auf das sowjetische Machtsystem und legte damit die Grundlage für die US-Politik gegenüber Moskau. Pawlowskij: In der Sowjetunion hatte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei mehr Macht als Putin heute. Aber Leonid Breschnew hat uns Dissidenten nicht interessiert! Wir verstanden, dass wir es mit einem bestimmten System zu tun hatten. Heute ist das wieder so. Wenn Sie sich auf Putin konzentrieren, verpassen Sie die Dinge, die um ihn herum passieren.

profil: Sie vergleichen das heutige russische System mit dem sowjetischen? Pawlowskij: Das heutige System ist klüger und raffinierter, weil es nicht so brutal und totalitär ist. Die Agenda wird ständig angepasst und verändert. Man ist gezwungen, nicht darüber zu diskutieren, worum es eigentlich geht: Wenn es in Russland Probleme gibt, wird ein Konflikt mit den Nachbarstaaten angezettelt. Putin spielt eine gewisse Rolle, aber es ist schwer zu sagen, welche genau. Zugleich ist er überall, wo man hinblickt – wie in einem Spiegelkabinett.

profil: Im Westen dreht sich dennoch alles um Putin, wenn über Russland gesprochen wird. Pawlowskij: Der größte Erfolg der Kreml-PR der vergangenen 20 Jahre bestand darin, das Bild eines übermächtigen Putin zu schaffen, der alle Probleme im Land löst. Aber heute ist offensichtlich, dass dem nicht so ist. Putin hat das Interesse an der inneren Entwicklung des Landes völlig verloren. Er interessiert sich nur noch für Außenpolitik. Früher war er ein talentierter Kommunikator und liebte es, sich mit den Leuten zu unterhalten. Nun findet dieser Kontakt in irgendwelchen künstlichen Formaten statt.

Alles ist von Korruption durchdrungen – das hat es in Russland doch immer gegeben!

profil: Hat er in seinen ersten beiden Amtszeiten anders agiert? Pawlowskij: Er war der Fixstern, um den sich alles drehte. Dem Volk erschien er wie eine Person, die für seine Belange eintritt, und der Elite als jemand, der sie vor dem Volk schützt. Alle wichtigen Deals und Entscheidungen liefen über sein Kabinett. Warum geht Putin jetzt davon aus, dass er sich mit globalen Fragen beschäftigen kann? Weil er findet, dass er seine Aufgaben erfüllt hat. Er glaubt, dass es im Land – im Unterschied zu früher – Gesetze und Gerichte gibt, dass er eine funktionstüchtige Struktur aufgebaut hat und er sich deswegen nicht mehr um die inneren Angelegenheiten kümmern muss.

profil: Dabei kann kaum jemand in Russland abstreiten, dass Korruption allgegenwärtig ist und die Justiz oft willkürlich und im Sinne der Machthaber entscheidet. Pawlowskij: Aus Putins Sicht ist das aber ein fixer Bestandteil dieses Landes. Alles ist von Korruption durchdrungen – das hat es in Russland doch immer gegeben! Putin betonte das in privaten Gesprächen in meiner Anwesenheit immer wieder: Aus seiner Sicht ist es schlichtweg unmöglich, die Korruption in Russland zu beenden.

profil: Sie selbst waren maßgeblich daran beteiligt, Putin an die Macht zu bringen und das Konzept der „gelenkten Demokratie“ zu implementieren. Wie blicken Sie heute darauf zurück? Pawlowskij: Ich war Putinist, aber ich war dagegen, dass Putin im Jahr 2012 eine dritte Amtszeit antrat. Damals gab es die Erwartung, dass es unter Präsident Dmitrij Medwedjew eine langsame Modernisierung geben würde. Ich sah keine Gründe, warum wir da nicht hätten weitermachen sollen. Als Putin seine Rückkehr ins Präsidentenamt ankündigte, habe ich mich mit dem System überworfen. Mit seiner dritten Amtszeit hat er sich selbst am meisten geschadet.

profil: Wie meinen Sie das? Pawlowskij: Putin ist heute kein politischer Führer mehr. Zumindest wird er nicht mehr als solcher wahrgenommen, sondern als jemand, der weltfremd mit seinen Bikern herumkurvt.

Irgendwann wird es eine Deeskalation des politischen Systems geben müssen. Aber das bedeutet nicht zwingend, dass das zu einer Demokratisierung führt.

profil: Sie meinen den nationalistischen Motorradclub „Nachtwölfe“, mit dem Putin zuletzt auf Krim posierte, während in Moskau protestiert wurde. Pawlowskij: Er hat die Verbindung zu den Menschen verloren und setzt sich nicht mehr mit den Problemen auseinander, die sie beschäftigen. Alle haben sich an Putin gewöhnt wie an ein altes Möbelstück in einer Wohnung. Für mich ist es unmöglich, diesen Personenkult zu ertragen, den wir seit seiner dritten Amtszeit sehen. Ich versuche nun zu verstehen, wie das aktuelle System funktioniert, und möchte analysieren, welche Fehler wir gemacht haben.

profil: Haben Sie schon ein paar gefunden? Pawlowskij: Wir haben die Kreml-Kreise gestärkt, indem wir es verabsäumten, „checks and balances“ einzubauen, die deren Macht beschränken könnten. Zugleich haben wir selbst die medialen Mittel geschaffen, um die politische Agenda zu manipulieren. Wir waren die Vorreiter der Fake News, gegen die es bis heute international kein Gegenmittel gibt. (Anm: Pawlowskij gründete in den 1990er-Jahren mehrere Internet-Portale, die kremltreue Nachrichten verbreiteten.)

profil: Dass die Opposition systematisch ausgeschaltet wurde, haben Sie noch nicht erwähnt. Pawlowskij: Am Anfang war die Opposition selbst daran schuld, weil sie zur falschen Zeit die falschen Schlüsse zog. Nachdem sie im Jahr 2003 aus der Duma geflogen war, blickte sie in den Jahren 2004 und 2005 auf die Orange Revolution in der Ukraine und glaubte, dass es reiche, den Protest auf die Straße zu tragen, statt sich auf die nächsten Wahlen vorzubereiten. Aber in der Ukraine war die Opposition damals nicht nur auf der Straße, sie saß auch im Parlament. Dann hat der Kreml einfach den Preis dafür erhöht, auf die Straße zu gehen. Noch vor 15 Jahren hatten wir echte Parteien und eine reale Opposition im Parlament. Seither hat die Opposition in Russland de facto keine politische Infrastruktur mehr, was dazu führt, dass jede Proteststimmung nach einer Zeit wieder verpufft.

profil: Glauben Sie noch, dass Demokratie in Russland möglich ist? Pawlowskij: Irgendwann wird es eine Deeskalation des politischen Systems geben müssen. Aber das bedeutet nicht zwingend, dass das zu einer Demokratisierung führt. Als Michail Gorbatschow vor 30 Jahren die innere Liberalisierung anstieß, existierte noch eine sowjetische Intelligenzija. Heute gibt es diese Stützen für eine liberale Gesellschaft nicht mehr.

Zur Person

Gleb Pawlowskij, 68, geboren 1951 im ukrainischen Odessa (damals UdSSR), wurde 1982 wegen „antisowjetischer Tätigkeit“ zu drei Jahren Verbannung verurteilt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion stieg der studierte Historiker zu einem der einflussreichsten Politikberater Russlands auf. Über seine „Stiftung für effektive Politik“ führte er Wahlkampagnen für Boris Jelzin und Wladimir Putin durch. Wegen der Machtrochade zwischen Putin und Dmitrij Medwedjew in den Jahren 2011 und 2012 überwarf er sich mit dem Kreml und erfand sich als Kritiker der autoritären Staatsmacht neu – obwohl er diese mitgestaltet hatte. Heute leitet er die Online-Plattform gefter.ru.