Krankenhausmitarbeiter trauern vor einem improvisierten Denkmal mit Porträts der Opfer, das am 12. Juli 2024 während der russischen Invasion in der Ukraine auf den Ruinen eines der medizinischen Gebäude des durch eine Raketenexplosion zerstörten Kinderkrankenhauses Okhmatdyt in Kiew aufgestellt ist.
Krieg in der Ukraine

Die starken Frauen von Kyiv

Seit drei Jahren tobt Krieg in der Ukraine. Drei Frauen erzählen, wie sich ihr Leben verändert hat.

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Text und Fotos: Marlene Penz aus Kyiv 

Inna braucht noch fünf Minuten, sagt sie. Sie muss sich sammeln, bevor 
sie erzählen kann. Es ist viel passiert in den vergangenen drei Jahren, und es sind einige sehr unschöne Erinnerungen dabei. Eben ist die 57-Jährige aus ihrem Heimatort Piskiwka gekommen, Inna hat rund zwei Stunden Zugfahrt hinter sich. Jetzt sitzt sie in einem Café im Botschaftsviertel von Kyiv (Kiew) vor einer Tasse Cappuccino, bald muss sie zur Arbeit. Inna stellt Rucksäcke und Munitionswesten für die ukrainische Armee her. 

Der Small Talk ist vorbei, Inna beginnt jetzt zu erzählen, zuerst langsam, dann immer schneller. Sie erzählt von Tagen, die sie ihr Leben lang nicht vergessen wird. Von Tagen, an denen sie um ihr Leben bangte. Am 1. März 2022 fielen die ersten Bomben auf Borodjanka, eine 13.000-Einwohner-Stadt rund 20 Kilometer von Innas Wohnort. Rund 90 Prozent der Gebäude wurden zerstört, zahlreiche Zivilisten getötet. „Tausende sind geflüchtet, haben bei uns Hilfe und Unterschlupf gesucht.“ Doch sie seien nicht lang geblieben. „Zwei Tage, dann hat es auch hier begonnen“, sagt Inna. „Mein Mann hat sich auf den Boden geworfen, er wollte gar nicht mehr aufstehen.“ 

Inna, 57

„Der Wald und der Fluss haben uns das Leben gerettet.“

Innas Wohnort Piskiwka ist von Wald umgeben, rund um die Siedlung verläuft ein Fluss.

Die Geflüchteten aus Borodjanka seien weitergezogen, ebenso die meisten Einwohner des 7000-Seelen-Ortes. „Etwa 100 von uns sind geblieben“, erzählt Inna. Warum sie nicht geflohen ist? „Hier hatte ich wenigstens ein Dach – mein Dach – über dem Kopf“, sagt Inna. Außerdem wollte sie ihre beiden Katzen nicht zurücklassen. Innas Wohnort Piskiwka ist von Wald umgeben, rund um die Siedlung verläuft ein Fluss. „Das hat uns das Leben gerettet“, ist sie überzeugt. Forst und Fluss haben einen natürlichen Schutzwall  gebildet. „So konnten die Panzer nicht vordringen“, erzählt die Ukrainerin. Von ihrem Haus aus konnte sie sehen, wie es im Nachbarort hinter dem Wald brannte. Auch Piskiwka wurde bombardiert. Es gab keinen Strom und keinen Handyempfang, mehr als 30 Tage lang war der Ort  isoliert. „Ich hatte zum Glück ein Radio mit Batterien, so konnten wir wenigstens Nachrichten hören.“ Wir – das waren zunächst Inna, ihr Mann und die zwei Katzen. Nach und nach kamen weitere acht Katzen und drei Hunde aus der verlassenen Nachbarschaft dazu. Hilfe erhielten die Menschen im Ort vom Roten Kreuz sowie von einem Geschäftsmann, in dessen kleinem Laden die Verbliebenen einkaufen konnten. Mit seinem Kleinlaster besorgte er über versteckte Wege Lebensmittel aus umliegenden Orten. Mittlerweile ist ungefähr die Hälfte der Bewohner wieder nach Piskiwka zurückgekehrt, der Wiederaufbau hat begonnen. „In dieser Region ist es vergleichsweise sicher, und es gibt Arbeit“, sagt Inna. Vier Tage pro Woche fährt sie zum Arbeiten in die Hauptstadt. Bei Sirenenalarm bringen sich viele in der Metro in Sicherheit, sie selbst aber nicht. „Ich habe keine Angst mehr“, sagt Inna, „ich hatte schon genug davon.“ Psychologische Begleitung hat sie, wie die meisten im Kriegsgebiet, bisher nicht in Anspruch genommen. „Viele Menschen gehen arbeiten, versuchen zu vergessen. Ich werde nie vergessen, ich dachte, ich würde sterben“, sagt sie. In drei Jahren könnte Inna in Pension gehen, doch daran möchte sie nicht denken: „Ich will arbeiten, bis ich 100 bin.“ Und was sagt Inna dazu, dass US-Präsident Donald Trump seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj kürzlich aus dem Weißen Haus geworfen hat? „Die Wahrheit wird siegen“, kommentiert Inna, „Europa wird uns unterstützen.“