Krankenhausmitarbeiter trauern vor einem improvisierten Denkmal mit Porträts der Opfer, das am 12. Juli 2024 während der russischen Invasion in der Ukraine auf den Ruinen eines der medizinischen Gebäude des durch eine Raketenexplosion zerstörten Kinderkrankenhauses Okhmatdyt in Kiew aufgestellt ist.
Krieg in der Ukraine
Die starken Frauen von Kyiv
Seit drei Jahren tobt Krieg in der Ukraine. Drei Frauen erzählen, wie sich ihr Leben verändert hat.
09.03.25
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Text und Fotos: Marlene Penz aus Kyiv
Inna braucht noch fünf Minuten, sagt sie. Sie muss sich sammeln, bevor sie erzählen kann. Es ist viel passiert in den vergangenen drei Jahren, und es sind einige sehr unschöne Erinnerungen dabei. Eben ist die 57-Jährige aus ihrem Heimatort Piskiwka gekommen, Inna hat rund zwei Stunden Zugfahrt hinter sich. Jetzt sitzt sie in einem Café im Botschaftsviertel von Kyiv (Kiew) vor einer Tasse Cappuccino, bald muss sie zur Arbeit. Inna stellt Rucksäcke und Munitionswesten für die ukrainische Armee her.
Von Siobhán Geets,
Sebastian Hofer,
Franziska Tschinderle und
Laura Schatz
Der Small Talk ist vorbei, Inna beginnt jetzt zu erzählen, zuerst langsam, dann immer schneller. Sie erzählt von Tagen, die sie ihr Leben lang nicht vergessen wird. Von Tagen, an denen sie um ihr Leben bangte. Am 1. März 2022 fielen die ersten Bomben auf Borodjanka, eine 13.000-Einwohner-Stadt rund 20 Kilometer von Innas Wohnort. Rund 90 Prozent der Gebäude wurden zerstört, zahlreiche Zivilisten getötet. „Tausende sind geflüchtet, haben bei uns Hilfe und Unterschlupf gesucht.“ Doch sie seien nicht lang geblieben. „Zwei Tage, dann hat es auch hier begonnen“, sagt Inna. „Mein Mann hat sich auf den Boden geworfen, er wollte gar nicht mehr aufstehen.“
„Der Wald und der Fluss haben uns das Leben gerettet.“
Innas Wohnort Piskiwka ist von Wald umgeben, rund um die Siedlung verläuft ein Fluss.
Die Geflüchteten aus Borodjanka seien weitergezogen, ebenso die meisten Einwohner des 7000-Seelen-Ortes. „Etwa 100 von uns sind geblieben“, erzählt Inna. Warum sie nicht geflohen ist? „Hier hatte ich wenigstens ein Dach – mein Dach – über dem Kopf“, sagt Inna. Außerdem wollte sie ihre beiden Katzen nicht zurücklassen. Innas Wohnort Piskiwka ist von Wald umgeben, rund um die Siedlung verläuft ein Fluss. „Das hat uns das Leben gerettet“, ist sie überzeugt. Forst und Fluss haben einen natürlichen Schutzwall gebildet. „So konnten die Panzer nicht vordringen“, erzählt die Ukrainerin. Von ihrem Haus aus konnte sie sehen, wie es im Nachbarort hinter dem Wald brannte. Auch Piskiwka wurde bombardiert. Es gab keinen Strom und keinen Handyempfang, mehr als 30 Tage lang war der Ort isoliert. „Ich hatte zum Glück ein Radio mit Batterien, so konnten wir wenigstens Nachrichten hören.“ Wir – das waren zunächst Inna, ihr Mann und die zwei Katzen. Nach und nach kamen weitere acht Katzen und drei Hunde aus der verlassenen Nachbarschaft dazu. Hilfe erhielten die Menschen im Ort vom Roten Kreuz sowie von einem Geschäftsmann, in dessen kleinem Laden die Verbliebenen einkaufen konnten. Mit seinem Kleinlaster besorgte er über versteckte Wege Lebensmittel aus umliegenden Orten. Mittlerweile ist ungefähr die Hälfte der Bewohner wieder nach Piskiwka zurückgekehrt, der Wiederaufbau hat begonnen. „In dieser Region ist es vergleichsweise sicher, und es gibt Arbeit“, sagt Inna. Vier Tage pro Woche fährt sie zum Arbeiten in die Hauptstadt. Bei Sirenenalarm bringen sich viele in der Metro in Sicherheit, sie selbst aber nicht. „Ich habe keine Angst mehr“, sagt Inna, „ich hatte schon genug davon.“ Psychologische Begleitung hat sie, wie die meisten im Kriegsgebiet, bisher nicht in Anspruch genommen. „Viele Menschen gehen arbeiten, versuchen zu vergessen. Ich werde nie vergessen, ich dachte, ich würde sterben“, sagt sie. In drei Jahren könnte Inna in Pension gehen, doch daran möchte sie nicht denken: „Ich will arbeiten, bis ich 100 bin.“ Und was sagt Inna dazu, dass US-Präsident Donald Trump seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj kürzlich aus dem Weißen Haus geworfen hat? „Die Wahrheit wird siegen“, kommentiert Inna, „Europa wird uns unterstützen.“
Elena hat im Krieg einen Sohn verloren, jetzt hilft sie anderen, die Ähnliches erlebt haben. Die 47-jährige Psychologin mit den dunklen Haaren und dem freundlichen Gesicht engagiert sich ehrenamtlich für Mütter, deren Kinder im Krieg getötet wurden. Elena sitzt bei einer Tasse Tee in einem Imbisslokal in Kyiv, ihr Fünfjähriger spielt in der Kinderecke. Ihr ältester Sohn Artur starb mit 22 Jahren. „Er wollte für sein Land kämpfen“, erzählt die vierfache Mutter, die Finger in die Serviette gekrallt. Artur habe immer schon einen starken Willen gehabt. In der Ukraine galt er als Nachwuchstalent in den Kampfsportarten Kickboxen und MMA. Dann meldete er sich freiwillig zur Armee.
Zunächst bewachte Artur das Militärhauptquartier in Kyiv, doch dann wurde einer seiner Freunde getötet. „Beim Begräbnis habe ich es in Arturs Augen gesehen: Er wollte Rache“, sagt Elena. Ihr Sohn suchte um Versetzung an, kam an die Front zu einer Scharfschützen-Einheit. Nach vier Monaten im Einsatz wurde er verletzt, ein Projektil traf sein Bein, und er verlor auf einer Seite sein Gehör. Zehn Monate verbrachte Artur in einer Reha-Klinik in Kyiv, doch seine Verletzungen hielten ihn nicht davon ab, wieder in den Krieg zu ziehen. „Er wollte nur noch mehr Rache“, sagt seine Mutter. Artur habe sich sehr verändert. Er sprach von Territorien und davon, Menschen zu töten. Sobald er wieder fit genug war, ging er zurück an die Front. Vier Wochen später erhielt seine Familie die Nachricht, dass Arturs Einheit vermisst werde. Einen Tag später wurden die Eltern zur Identifizierung einer Leiche gebeten. Von 30 Männern in Arturs Einheit wurden 28 getötet, alle zwischen 18 und 25 Jahre alt. Artur war einer von ihnen. „Zumindest konnten wir ihn begraben“, sagt Elena. „Viele Angehörige wissen monatelang nicht, was mit ihren Söhnen geschehen ist.“ Seit dem Begräbnis sind sechs Monate vergangen. Nach drei Jahren Krieg meldet sich niemand mehr freiwillig, und die Anzahl der Deserteure ist hoch. Wenn Elena hört, dass Männer Fahnenflucht begehen, während ihr Sohn sein Leben für das Land gegeben hat, wird sie wütend. „Ich bin sehr stolz, dass ich einen Sohn auf die Welt gebracht habe, der Gutes für die Welt getan hat“, sagt sie unter Tränen. Und: „Jeder kann in diesem Krieg seinen Beitrag leisten, indem er trotz der Grausamkeit positiv bleibt. Es muss nicht der Kampf sein.“
Elena hofft, dass ihr der Krieg keine weiteren Angehörigen nimmt. Sie hofft, dass ihr 20-jähriger Sohn und ihr Mann nicht in den Kampf ziehen müssen. Derzeit würden aus Familien, die Angehörige im Kriegsdienst verloren haben, keine weiteren Männer einberufen, erklärt sie. Elena versucht, trotz allem positiv zu denken, auch nach Trumps Eskalation im Weißen Haus. „Uns bleibt nur zu hoffen, dass der Rest der Welt uns unterstützt“, sagt sie. Elena versucht, anderen Müttern Mut zu machen. In Erinnerung an Artur, den Beschützer der Familie.
„Ich träume davon, dass mein Mann lebend nach Hause kommt.“
Alexandra hält einen handgefertigten Talisman in der behandschuhten Hand. Es ist ein etwa zehn Zentimeter großes Pferd aus Juteschnur. In einem Park in einem Vorort von Kyiv zeigt die 38-Jährige den kleinen Gegenstand, der die Männer auf dem Schlachtfeld beschützen soll. Ihre Mutter hat ihn gebastelt. Im Krieg gegen Russland werden Pferde wie dieses an die Soldaten verteilt, auch Alexandras Mann trägt eines mit sich, wenn er im Panzer an der Front unterwegs ist.
Als die russische Invasion im Februar 2022 begann, war Alexandra schwanger. In den ersten Kriegstagen herrschte in der ukrainischen Hauptstadt Chaos. Benzin und Geld waren nicht erhältlich, die meisten Apotheken waren geschlossen, und niemand wusste, was passieren würde. Die russischen Invasoren marschierten in Richtung Kyiv. Alexandras Mann meldete sich sofort freiwillig zur Armee. „Natürlich hatte ich Angst und wollte nicht, dass er sich meldet. Aber er hat gesagt, er müsse es tun, um uns zu beschützen, damit die russischen Truppen nicht in die Stadt kommen“, erzählt sie. Zunächst habe er allerdings eine Absage bekommen – sie hatten genug Soldaten. Im Mai 2022 wurde er dann doch einberufen. Alexandra flüchtete in die Westukraine nach Lemberg, kehrte aber bald in ihre Wohnung in Kyiv zurück.
Alle sechs Monate kommt ihr Mann zu ihr und der inzwischen zweieinhalbjährigen Tochter nach Hause. „In den ersten Tagen ist es komisch. Er braucht Zeit, um sich zu akklimatisieren“, sagt Alexandra. „Für ihn ist es seltsam, dass hier alles in geordneten Bahnen verläuft, dass er zum Beispiel einfach in ein Café gehen kann.“ Jedes Mal, wenn ihr Mann nach Hause kommt, müsse er sich aufs Neue mit seiner Tochter bekannt machen. In den 15 Tagen, in denen er bei ihnen ist, versuchen sie, so viel wie möglich nachzuholen – gemeinsam Zeit verbringen, Freunde und Verwandte besuchen, Gesundheitschecks. „Es ist immer wieder hart, wenn ich ihn gehen lassen muss. Nie weiß ich, ob er noch einmal zurückkommt.“ Seit Kriegsbeginn sind laut ukrainischen Angaben rund 46.000 ukrainische Kämpfer gefallen. Aus einem Bericht des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR) der Vereinten Nationen geht hervor, dass bis Ende Jänner 2024 mehr als 12.600 Zivilistinnen und Zivilisten getötet und rund 29.200 verletzt wurden. Es sei schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn ständig Raketen vom Himmel fallen, sagt Alexandra. „Unsere Kinder verstecken sich in Bunkern, das ist jetzt unsere Realität. Wir träumen alle davon, dass sie bald ohne Angst auf die Straße gehen können.“ Und Ehefrauen wie sie selbst träumen davon, dass ihre Männer lebend nach Hause kommen.