Nahost-Konflikt

Krieg in Gaza: Achtung, explosiv!

Der Krieg Israels gegen die Hamas bringt alle gegeneinander auf. Den globalen Süden gegen die reichen Länder im Norden. Die Muslime gegen den Westen, in Europa flammt der Antisemitismus hoch. Dreht die Welt jetzt völlig durch? Gibt es einen Ausweg?

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Über zehn Millionen Menschen haben das Video gesehen. Darin zeigt Robert Habeck in dunklem Sakko und schwarzer Krawatte klare Kante. Fast zehn Minuten spricht Deutschlands Wirtschaftsminister und Vizekanzler über die Auswirkungen des Krieges von Israel gegen die Hamas. Habeck stellt sich klar auf die Seite Israels. Und er macht deutlich, was erlaubt ist – das Eintreten für die Rechte der Palästinenser – , und was nicht: Hass säen, gegen Menschen hetzen, zu Gewalt aufrufen und Antisemitismus.

Seit dem brutalen Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel mit rund 1400 Toten sind die Emotionen am Anschlag. Mitten in der peitschenden Welle an antisemitischen Protesten, die über halb Europa schwappt, mitten in der kaum mehr zu ertragenden Flut an Bildern grässlich zugerichteter Leichen und zerstörter Häuser und Straßen wirkt seine Botschaft wie ein Refugium der kühlen Vernunft.
Das braucht es offenbar mehr denn je. Im Nahen Osten droht ein Flächenbrand. Die USA entsenden Flugzeugträger ins Mittelmeer, ein Signal an den Iran, die Lage nicht weiter zu eskalieren. Die Frage, wie weit Israels Recht, sich zu verteidigen, reicht, und wie der Terror der Hamas einzuordnen ist, entzweit Gesellschaften, Kontinente, ja, die Welt, in nie da gewesener Schärfe. Die Unterstützer Israels stellen auf den brutalen Terrorangriff der Hamas scharf, der das kollektive Trauma des Holocaust entzündet, während die propalästinensische Seite die historische Vertreibung der Palästinenser, die Nakba, und die israelische Repression in den besetzten Gebieten in den Fokus nimmt.

In arabischen und muslimisch geprägten Ländern, vom Irak über Tunesien und Marokko bis zu Indonesien, Malaysia und der Türkei, gehen Menschen für Gaza und Palästinenser auf die Straße. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ein notorischer Zündler, der Israel schon einmal einen „Terrorstaat“ nannte, geriert sich als Schutzherr der Muslime „gegen den Westen“. Kündet all das einer neuen globalen Ordnung? Die Frage ist von erheblicher Wucht: Ist die westliche Vorherrschaft am Ende?

Noch sind die Folgen der extremen Polarisierung nicht absehbar. Europa sucht inmitten der zutagetretenden Bruchlinien nach seiner Rolle. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, nun der gefährliche Konflikt im Nahen Osten, die entzündliche Stimmung am Balkan, die irreguläre Migration über das Mittelmeer, im Inneren eine wachsende Terrorgefahr und der aufflammende Antisemitismus – in Wien schändeten an Allerheiligen bis dato unbekannte Täter den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs. An Krisen herrscht in der Welt derzeit kein Mangel. Und mit dem Krieg in Nahost werden die Fliehkräfte, die die Welt auseinandertreiben, noch einmal verstärkt.

Die neue Weltunordnung

Beginnen wir mit der Welt. Im Krieg Israels gegen die Hamas stehen etliche Länder des Globalen Südens aufseiten der Palästinenser. Das hat historische und ideologische Gründe, viele ehemalige Kolonialstaaten verstehen das Streben der Palästinenser nach einem eigenen Staat als antiimperialistischen Kampf gegen Israel als übermächtigen Besatzer. In Afrika verurteilte nur eine Handvoll Staaten die Angriffe der Hamas auf Israel ausdrücklich. Von den BRICS-Staaten rangen sich nur Indien und Brasilien zu einer Verurteilung durch; die restlichen – Russland, China und Südafrika – halten sich auffallend zurück.

Das ist ein ideologischer Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen. Es geht um Allianzen und Partner, um wirtschaftliche und politische Vorherrschaft.

Velina Tchakarova

Politologin

Die Gräben verlaufen ähnlich wie beim Angriffskrieg auf die Ukraine, sagt die Politologin Velina Tchakarova. Sie ist Gründerin des geopolitischen Beratungsunternehmens „FACE“ und Visiting Fellow beim Observer Research Foundation in Indien. Die Politologin sieht die Welt in einem neuen Kalten Krieg. Auf der einen Seite stehen die USA und ihre Verbündeten, auf der anderen Russland, China und ein guter Teil des Globalen Südens. Der Konflikt zwischen Gaza und Israel treibe die Blöcke weiter auseinander.

Moskau unterstütze über den Iran indirekt auch die Hamas, so Tchakarova. Der Grund: Für Russland sei der Krieg in Nahost eine willkommene Ablenkung von den Schlachtfeldern in der Ukraine; China wiederum ergreife die Chance, die Glaubwürdigkeit der USA als moralische Instanz anzugreifen. „In vielen Ländern des Globalen Südens kommt das gut an“, sagt Tchakarova. Um eine direkte militärische Auseinandersetzung geht es aus ihrer Sicht nicht. „Das ist ein ideologischer Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen. Es geht um Allianzen und Partner, um wirtschaftliche und politische Vorherrschaft.“

Gezündelt wird an vielen Orten gleichzeitig

Ein Flughafen in Dagestan: Die Meute sucht nach Juden. Vor dem Terminal B in Machatschkala, Hauptstadt der russischen Teilrepublik Dagestan, versammeln sich am Sonntag rund 1000 Leute. Es sind vor allem junge Männer, einige schwenken Palästina-Fahnen. Dann dringen sie in das Gebäude ein, reißen verschlossene Türen auf und gelangen aufs Flugfeld. Sie umstellen den Flieger, der kurz zuvor aus Tel Aviv angekommen ist. Auf Videos, die um die Welt gehen, sieht man, wie verängstigte Passagiere schwören, sie seien keine Juden. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchen Sondereinsatzkommandos aus Polizei und Militär auf. Mit schweren Waffen im Anschlag vertreiben sie den Mob. Geheimdienste gehen davon aus, dass der Mob aufgestachelt wurde, unklar ist noch, von wem. Die Lage ist unübersichtlich. Ein Sprecher von Wladimir Putin beschuldigte gleich einmal westliche Geheimdienste.

Ein Flughafen in Istanbul: Auch im 2000 Kilometer entfernten Istanbul versammeln sich vergangene Woche Menschen auf dem Rollfeld eines Flughafens. Geladen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Tausende Anhänger folgen – fast alle mit Türkei-Fahnen, viele auch mit jener Palästinas. Eine Dreiviertelstunde dauert die Rede Erdoğans, sie hat es in sich: Die Hamas sei keine Terror-, sondern eine Befreiungsorganisation, die Israelis wären Eindringlinge in der Region und das Blutvergießen in Gaza ausschließlich die Schuld des Westens. Es sind gezielte Provokationen, wie sie der 69-Jährige in der Vergangenheit immer wieder gestreut hat.

„Erdoğan will aus dem Krieg politisches Kapital schlagen“, sagt Cengiz Güney, der das „Österreichische Institut für Internationale Politik“ leitet und regelmäßig zur Türkei publiziert. Er verweist auf die Regionalwahlen im kommenden Frühling, bei der Erdoğans AKP Istanbul von der sozialdemokratischen CHP zurückerobern möchte. Denn Stimmungsmache gegen den Westen komme nicht nur bei den Hardlinern, sondern bei der breiten Mehrheit an.

„Die Leute wissen, dass Muslime dort diskriminiert werden. Und sie wissen, wie schwer es geworden ist, in der Türkei ein Visum für Europa oder die USA zu bekommen“, sagt Güney, „das emotionalisiert“. Dass aus Erdoğans Pose als „Schutzherr gegen den Westen“ ein militärisches Eingreifen der Türkei in den Konflikt folgt, glaubt der Politologe nicht. Das Land sei immerhin NATO-Partner und aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise vom Geld der EU abhängig. „Aber Erdoğan ist ein rücksichtsloser Populist, der mit dem Feuer spielt. Das ist immer gefährlich.“

Der Riss in der Welt

Bis dato ist es fast unmöglich, unschuldige, zivile Opfer auf beiden Seiten öffentlich zu beklagen. Tote und Gräueltaten werden aufgerechnet, Fahnen geschwungen, öffentliche Bekenntnisse eingefordert. Fake News in den sozialen Medien munitionieren die Seiten gegeneinander auf. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari und der Schriftsteller David Grossman werfen europäischen und amerikanischen Progressiven vor, die Verantwortung für den Hamas-Angriff ausschließlich Israel zuzuschreiben, ohne die Morde der Terroristen zu verurteilen; mitunter würden sie geradezu legitimiert. Dass viele Intellektuelle und Wissenschafter den Schritt in die aufgeheizte Öffentlichkeit scheuen, macht die Debatte nicht besser. Dazu kommt, dass die Europäer im Nahen Osten weniger Einfluss haben als die Amerikaner, aber auch als die Türkei, Ägypten oder Katar. Bei den Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln oder einen allfälligen Waffenstillstand spielt die EU keine Rolle.

Verletzt Israel mit seiner Militäroffensive im Gazastreifen das humanitäre Völkerrecht?

Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober war einzigartig in seiner Brutalität. Die Terrororganisation ermordete rund 1400 Menschen und entführte mehr als 230 Zivilisten und Soldaten in den Gazastreifen. Israel hat der Hamas den Krieg erklärt und eine Militäroffensive gestartet. Aufseiten der Palästinenser soll es nach eigenen Angaben mehr als 8000 Tote gegeben haben, viele davon Kinder. Das kann nicht unabhängig geprüft werden.
Israel bezieht sich auf sein Recht auf Selbstverteidigung, doch ist das Vorgehen des israelischen Militärs völkerrechtlich gedeckt?
„Das ist von außen sehr schwierig zu beantworten“, sagt der Völkerrechtsexperte Andreas Müller von der Uni Basel. Das humanitäre Völkerrecht schreibt eine sogenannte Verhältnismäßigkeitsprüfung vor: Der „Schaden“, also das Leid der Zivilbevölkerung, muss in einem „akzeptablen Verhältnis“ zum Ziel stehen – die Auslöschung der Terroristen. Dabei geht es nicht um abstrakt bestimmbare Opferzahlen, denn überprüft werden kann die Verhältnismäßigkeit nur anhand konkreter Militäraktionen, also Luftschläge auf bestimmte Ziele. So müsse etwa geprüft werden, ob Opfer verhindert werden könnten, wenn man zuwartet. „Israel muss tätig werden und die Hamas zurückdrängen“, sagt Müller, „doch der Zweifel daran, ob die Regeln eingehalten werden, wächst mit jedem Tag“.
Der Jurist weist auch darauf hin, dass Kriegsverbrechen, wie sie die Hamas verübt hat, nicht als Rechtfertigung für die andere Seite herhalten können, sich ihrerseits nicht an die Regeln zu halten.   
Israel wurde auch dafür kritisiert, nicht ausreichend Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu lassen. Das Kriegskabinett argumentiert damit, dass Konvois durchsucht werden müssen, damit keine Waffen in den Gazastreifen gelangen. „Das ist legitim“, sagt Müller, „doch das Aushungern der Bevölkerung ist jedenfalls verboten“. Das humanitäre Völkerrecht verbietet auch das flächendeckende Kappen von Strom und Benzin, wie es Israel – mit Verweis darauf, dass auch die Hamas diese Ressourcen nutzt – getan hat.
Die Behinderung von Hilfslieferungen könnte ein Verbrechen laut Genfer Konventionen darstellen, warnte auch der Internationale Strafgerichtshof vergangene Woche. Das Gericht in Den Haag ermittelt bereits seit einigen Jahren wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in den Palästinensergebieten gegen Israel. Künftig könnte es auch die Entscheidungen des Kriegskabinetts auf mögliche Kriegsverbrechen durchleuchten.

Die Zerrissenheit der Welt spiegelt sich auch in den höchsten globalen Gremien wider. UN-Generalsekretär Guterres verurteilte die „beispiellosen Terroranschläge“ der Hamas am 7. Oktober. Doch er forderte auch, anzuerkennen, dass diese „nicht im luftleeren Raum“ geschehen seien. Damit meinte er, wie er weiter ausführte, die „erdrückende Besatzung“, der die Palästinenser ausgeliefert sind. Israels Außenminister Eli Cohen geriet darob in Rage, verwies auf die Werte, die in der UN-Charta festgeschrieben sind, der israelische UN-Botschafter verlangte den Rücktritt des Generalsekretärs. Der Vertreter Libyens wiederum eröffnete seine Wortmeldungen „Im Namen Gottes, des Barmherzigen“ und überging die israelischen Opfer der Hamas-Terroristen.

Für unsere Zustimmung zur UN-Resolution hätte es die Verurteilung der Hamas und das Selbstverteidigungsrecht Israels gebraucht.

ein österreichischer Diplomat

Guterres rief dazu auf, die Waffen niederzulegen, damit die notleidende Bevölkerung mit Hilfsgütern versorgt werden kann. Anfang vergangener Woche stimmte Österreich in der Generalversammlung der Vereinten Nationen als eines von lediglich 14 Ländern gegen die Resolution zu einer „dauerhaften Feuerpause“. Es war ein symbolischer Akt: Die von Jordanien eingebrachte Resolution ging mit 120 Stimmen durch, 45 Länder enthielten sich, darunter beispielsweise Deutschland. „Für unsere Zustimmung hätte es die Verurteilung der Hamas und das Selbstverteidigungsrecht Israels gebraucht“, erklärt ein österreichischer Diplomat auf Anfrage von profil. Die Resolution verurteilt zwar Gewalt gegen Zivilisten. Doch die Hamas, die den Krieg mit ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober ausgelöst hatte, wird nicht namentlich erwähnt.

Bindend ist die Resolution nicht. Doch sie zeigt, wie wenig die Welt noch auf alte Mächte wie die USA hört. Selbst in Ländern mit historisch guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und Europa schwindet der Einfluss des Westens. Sichtbar war das auch beim Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Dem Westen gelang es nicht, den Globalen Süden gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu mobilisieren. Staaten in Südamerika, darunter Brasilien und Argentinien, aber auch afrikanische Länder, verfolgen eine neutrale Linie, um es sich nicht mit Russland und China zu verscherzen. Geostrategische und ökonomische Interessen halten diese Länder davon ab, klar Stellung zu beziehen.

Während ein Teil der Welt die Gräuel der Hamas herunterspielt und dabei einigermaßen geschlossen auftritt, ist der Westen mit sich im Zwiespalt. Daraus ziehen die strategischen Verbündeten Iran und Russland Gewinn. Putins Sprecher Dmitri Peskow erwartete im Nahen Osten bereits recht unverhohlen „eine Eskalation unter Beteiligung dritter Mächte“. Hinter Israel stehen die USA, jährlich fließen 3,8 Milliarden Dollar Militärhilfe aus Amerika. Hinter Iran und der islamischen Welt baut sich Russland auf. Die längste Zeit schrieb sich Wladimir Putin den Kampf gegen Islamisten im In- und Ausland auf die Fahnen, heute lädt er Vertreter der Hamas in den Kreml ein. Der Iran liefert Russland Drohnen und Raketen für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Cui bono?

Im Krieg in Nahost mischt die islamische Republik aufseiten der Islamisten mit. Der Iran stattet Terrorgruppen aus, darunter die schiitische Miliz Hisbollah im Libanon und die palästinensische Hamas, könnte jedoch auch selbst Ziele in Israel bombardieren – mit dem Risiko ernster Vergeltungsschläge. Laut dem israelischen Militär ist eine iranische Miliz den Hisbollah-Truppen im Südlibanon vergangene Woche im Kampf gegen Israel zur Hilfe geeilt. Unterstützung könnten die Islamisten nun auch vonseiten Moskaus bekommen. Laut dem „Wall Street Journal“ will die russische Wagner-Gruppe der Hisbollah im Südlibanon ein Luftabwehrsystem zur Verfügung stellen.

In der Region bleibt die Islamische Republik Iran mit seinen 200.000 Mann starken Revolutionsgarden eine gefährliche Unbekannte. Die vom früheren US-Präsidenten Donald Trump gestarteten Bemühungen um eine arabisch-israelische Annäherung, von Nachfolger Joe Biden weiter betrieben, torpedieren sowohl der Iran als auch die radikalislamische Hamas. Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu boykottierte bereits vor dem Krieg alle Anstrengungen in diese Richtung. Die aktuell amtierende Koalition umfasst rechtsextreme Parteien, die offen für eine Annexion der palästinensischen Gebiete eintreten. Das verdeckt freilich den Blick darauf, dass Israel in Wirklichkeit selbst gespalten ist. Die Zeitung „Ma’ariv“ veröffentlichte sechs Tage nach dem Massaker eine Umfrage, derzufolge 48 Prozent der Befragten gerne den besonnenen Armeegeneral und Mitte-Politiker Benny Gantz als Regierungschef hätten; nur 29 Prozent sprechen sich für Netanjahu aus.

Europa schwächelt

Als am 24. Februar 2022 Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine begann, nahm die EU Millionen ukrainische Flüchtlinge auf, gewährte humanitäre und militärische Hilfe und verabschiedete insgesamt elf Sanktionspakete gegen Russland. Die Einigkeit der Mitgliedstaaten wird in die Geschichtsbücher eingehen.

Geht es jedoch um Israel und Palästina, zogen die Europäer noch nie an einem Strang. Deutschland verknüpft seine Schuld am Holocaust mit der Verpflichtung, sich um Israels Sicherheit zu sorgen. In Irland sieht man allerdings im palästinensischen Kampf um einen eigenen Staat Parallelen zum eigenen Widerstand gegen die britische Besatzung. Spaniens Verbindungen zu den Palästinensern reichen in die Franco-Ära zurück. Ungarns Premier Viktor Orbán wiederum fühlt sich seinem israelischen Amtskollegen ideologisch nahe.

Entsprechend zäh rangen die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer um eine gemeinsame Erklärung, die den Terror der Hamas verurteilt, Israels Recht auf Selbstverteidigung betont und den Schutz von Zivilisten einmahnt.

Was das in der Praxis alles konkret bedeutet, darüber gehen die Ansichten auseinander. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellt sich bedingungslos auf die Seite Israels, während der belgische Ratspräsident Charles Michel Israel den Angriff auf ein Spital in Gaza vorwirft, bevor überhaupt klar ist, ob Israel dafür verantwortlich zu machen ist. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, ein gebürtiger Spanier, zeigt Verständnis für die Palästinenser. Spanien, Portugal, Irland, Belgien und Luxemburg fordern ein Ende der israelischen Bombardements und teilen die Kritik von UN-Generalsekretär António Guterres an Israel.

Die EU ist wieder dort, wo sie schon oft war: ohne eine gemeinsame außenpolitische Position, gespalten in 27 Mitgliedstaaten und in diesen Tagen und Wochen noch dazu mit einer politischen Spitze, die in aller Öffentlichkeit über den richtigen Umgang mit dem Krieg in Nahost streitet. Das beginnt zwei Wochen nach dem Angriff der Hamas. Beim Treffen der Außenminister in Luxemburg stehen Staaten wie Deutschland, Ungarn und Österreich, die in der Militäroffensive Israels im Gazastreifen einen legitimen Akt der Selbstverteidigung sehen, auf der einen Seite des Grabens. Und gegenüber: Länder wie Frankreich, Irland, Spanien und Belgien, die sich der Forderung von Guterres nach einem sofortigen Waffenstillstand anschließen, damit Hilfsgüter zu den im Gazastreifen eingeschlossenen Menschen gelangen können. Eine Feuerpause würde nur der Hamas helfen, die nach wie vor Raketen Richtung Israel schießt und Zivilisten als Geiseln gefangen hält, warnt wiederum die Gegenseite.

Die Erwartung, die EU-Mitglieder könnten sich vereint hinter Israel stellen und gleichzeitig betonen, dass der brutale Angriff der Hamas die Auslöschung der Bevölkerung in Gaza oder die Annektierung weiterer Gebiete nicht rechtfertigt, wurde enttäuscht. Mehr noch: Wenn eine fehlende geschlossene Außenpolitik in dem komplexen, territorialen und politischen Konflikt im Nahen Osten theoretisch auch eine Chance sein könnte, ist die EU-Spitze gerade dabei, sie zu verspielen. Die Hamas muss für ihre Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, der Gazastreifen von Terroristen befreit werden. Und für danach braucht es allerdings eine langfristige Perspektive. „Es darf keine Rückkehr zu Aug um Aug, Zahn um Zahn geben, nirgends auf der Welt, Vergeltung gebiert weitere Gewalt“, sagt die Diplomatin und ehemalige ÖVP-Außenministerin Ursula Plassnik: „Langfristig wird es ohne Sicherheit für die Palästinenser auch für Israel keine dauerhafte Sicherheit geben. Den Hamas-Terroristen darf es nicht gelingen, diese Gewissheit auch noch zu zerstören“.

Wie geht es weiter?

Vier Wochen nach dem grauenhaften Hamas-Anschlag rückt allmählich die Frage auf die Agenda, wie die Zukunft der Region aussehen könnte. Israels Premier steht unter Druck – auch vonseiten der USA. Präsident Joe Biden und Außenminister Antony Blinken halten an ihrem alten Ziel, der Zweistaatenlösung, fest. Beim Treffen Blinkens mit Netanjahu Ende vergangener Woche ging es laut dem US-Chefdiplomaten einmal mehr darum, „wie wir die Voraussetzungen für einen dauerhaften, nachhaltigen Frieden schaffen können: dauerhafte, nachhaltige Sicherheit für Israelis und Palästinenser gleichermaßen“. Laut der Tageszeitung „Haaretz“ überlegt die Regierung in Washington, den Gazastreifen nach dem Krieg mithilfe der arabischen Länder unter Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde zu stellen, die bereits Teile des Westjordanlandes verwaltet. Mit der aktuellen, ultrarechten Regierung von Benjamin Netanjahu wird das kaum zu machen sein. Allerdings werden in Israel die Rufe nach seinem Rücktritt von Tag zu Tag lauter.

Frieden ist nicht aus der Welt; man muss an seine Möglichkeit freilich auch glauben – so wie beispielsweise die erfahrene Diplomatin Plassnik. Sie sagt: „Geschichte und Gegenwart des Nahen Ostens zeigen, dass Juden und Araber und Perser durchaus friedlich miteinander leben können.“ Zu den Voraussetzungen dafür gehöre auch eine Befriedung der Debatte: Die Menschen dürften nicht politisch und durch Missbrauch ihrer jeweiligen Religionen gegeneinander aufgebracht werden.

Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

war von 1998 bis 2024 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges.