Kriegstagebuch: „Das ist jetzt unser Leben“
Donnerstag, 24. Februar
Der Krieg beginnt.
5.30 Uhr. Wir hören zum ersten Mal Bomben und Schüsse in der Stadt. Gegen sieben Uhr haben wir, mein zwölfjähriger Sohn Ilia, seine Mutter Lena und ich – mein Name ist Dmitriy Sedov –, unsere Sachen gepackt, nur das Notwendigste, da ich davon ausgehe, dass wir ein paar Tage später wieder nach Kiew in unsere Wohnung zurückkehren können, und sind weg aus der Stadt Richtung Westen zu meinem Studienkollegen in der Nähe von Kiew.
Tolik, mit dem ich an der Uni Bauingenieurswesen studiert habe, wohnt mit seiner Frau etwa 40 Kilometer von Kiew entfernt in einem Dorf namens Pylypovich. Sein Haus ist zwar nicht besonders groß, aber es reicht für uns. Es hat zwei Keller, was für uns von großer Bedeutung ist, damit wir vor den Bomben Schutz suchen können. An diesem Morgen denkt aber noch keiner darüber nach, wie wichtig dies in den kommenden Tagen sein wird.
Anstatt der geplanten Stunde brauchen wir über vier Stunden nach Pylypovich. Auf den Straßen herrscht Chaos. Es ist sehr viel Verkehr, an den Tankstellen haben sich lange Schlangen gebildet. Jeder will sein Auto volltanken, da die Angst groß ist, dass dies bald nicht mehr möglich sein wird. Gegen Mittag kann man in Kiew fast nirgendwo noch tanken. Am Weg besorgen wir zudem noch Lebensmittel. Gegen zehn Uhr kommen wir in Pylypovich an und werden herzlich von unseren Freunden aufgenommen. Tolik und seine Frau haben erwachsene Kinder, die in einer anderen Stadt wohnen, daher freuen sie sich in so schweren Zeiten, nicht allein bleiben zu müssen. Wir können alle immer noch nicht glauben, dass das alles kein schlimmer Alptraum ist, sondern Realität. Das ist jetzt unser Leben.
Um uns zu beschäftigen und nicht darüber nachdenken zu müssen, was gerade passiert, gehen Tolik, Ilia und ich raus und erledigen kleine Gartenarbeiten.
Freitag, 25. Februar
Die Bomben kommen näher.
In der Früh ist es ruhig, man hört nur weit entfernt Schüsse und Bombardements. Hier im Ort passiert aber nichts. Dennoch wird die Stimmung unter uns und im Dorf immer angespannter. Jeder realisiert nun, dass der Krieg tatsächlich begonnen hat. Die nahe Hauptstadt Kiew, die für alle Ukrainer ein Zeichen des souveränen demokratischen ukrainischen Staates ist, ist das Ziel Nummer 1. Da wir für fünf Personen doch nicht so viele Lebensmittel haben, gehen die Frauen einkaufen. In dem kleinen Ort gibt es nur zwei kleine Supermärkte. Nachdem sie eine Stunde in der Schlange stehen mussten, kommen unsere Frauen nach Hause. Immerhin konnten sie die notwendigen Vorräte wie Mehl, Reis, Konserven und Milch aufstocken.
Am Telefon versuche ich immer wieder, meine zwei Töchter, die beide im Ausland leben, zu beruhigen. Ich sage ihnen, dass sie sich keine Sorgen um uns machen sollen und dass alles in Ordnung sei.
Im Lauf des Tages kommen die Schüsse näher. Auch Explosionen sind zu hören. Ab dem Nachmittag können wir das Haus nicht mehr verlassen. Gegen sechs Uhr abends ist der Bombenlärm so nahe gerückt, dass wir den ganzen Abend und die Nacht im Keller verbringen. Es ist kalt, und es gibt keinen Strom, aber wenigstens ist es halbwegs sicher.
Samstag, 26.Februar
Ein Tag im Keller.
Die ganze Nacht sowie den ganzen Morgen fallen in der Nähe Bomben, und es wird geschossen. Das Ziel ist der Flugplatz Borodyanka, der nur fünf Kilometer von dem Haus unserer Freunde entfernt ist. Wir sitzen die ganze Zeit im Keller, es ist sehr laut. Wir alle haben Angst und zittern am ganzen Körper.
Die Erde wackelt bei jedem Bombeneinschlag. Gegen fünf Uhr Nachmittag ist der Flughafen völlig zerstört. Auch alle umliegenden Häuser, Kindergärten und Schulen sind von russischen Luftstreitkräften getroffen worden. Wir sind sehr hungrig und emotional am Ende. Am Abend wird es wieder ruhiger, und wir schlafen im Haus.
Sonntag, 27. Februar
Wir gewöhnen uns an den Kriegslärm.
Es wird bombardiert, aber nicht in unmittelbarer Nähe. Mit der Zeit gewöhnen wir uns an den ohrenbetäubenden Krach und laufen nicht mehr bei jeder Erschütterung panisch in den Keller. Wir bleiben den ganzen Vormittag im Haus, sehen Nachrichten im Fernsehen und rufen unsere Familie und Freunde an, um ihnen zu sagen, dass wir die Nacht überstanden haben.
Die Frauen kochen für die nächsten Tage vor, da wir nicht wissen, wie lange wir noch im Haus bleiben können. Mein Sohn Ilia und ich bereiten Holz für den Kamin vor und kümmern uns um den Haushalt. Gott sei Dank sorgt man am Land immer gut vor und legt Gemüse ein. So sind wir mit eingelegten Gurken und Tomaten sicher noch ein paar Monate versorgt, und ein paar Liter Wodka gibt es im Notfall auch. Am Nachmittag und Abend können wir alle gemeinsam fernsehen. Aus dem Haus traut sich keiner mehr. Es ist laut und unsicher. Kiew wird immer stärker bombardiert.
Montag, 28. Februar
Der Strom fällt aus.
Die Nacht war halbwegs ruhig. Das Schlimmste war weit weg von uns. So konnten wir ein paar Stunden schlafen. Ab fünf Uhr früh ist wieder Kriegslärm zu hören. Unser Tag beginnt im Keller und endet auch dort, da jetzt unser Ort getroffen wird.
Am Nachmittag fällt der Strom aus. Da die russischen Streitkräfte die gesamte Infrastruktur angreifen, funktioniert auch das Internet nicht mehr, der Handyempfang wird zusehends schlechter. Nach mehreren Versuchen können wir aber unsere Verwandten erreichen. Die Verbindung ist schlecht, aber wir sagen ihnen, dass wir einen weiteren Tag im Krieg überstanden haben.
Dienstag, 1. März
Endlich ist es einmal ruhig.
In der Nacht hat der Wahnsinn aufgehört. Ich bin seit fünf Uhr wach und kann als Erster ins Haus raufgehen. Es ist ungewohnt ruhig. Hoffentlich wird es heute auch so bleiben. Ilia kann endlich einmal ausschlafen.
Ab dem Vormittag hören wir wieder Explosionen aus der Richtung von Kiew. Den Tag verbringen wir daher ausschließlich im Haus. Wir haben kein Gebäck mehr, und inzwischen sind alle Geschäfte im Ort entweder zerstört oder sie haben keine Lebensmittel mehr. Glücklicherweise haben wir noch genug Mehl, um selbst Brot zu backen.
Tagsüber wird immer wieder geschossen. Strom haben wir weiterhin keinen.
Am Abend wird die Erdölraffinerie zwei Kilometer von uns entfernt bombardiert. Man sieht eine große, schwarze Rauchsäule. Niemand kann das Feuer löschen, weil rund um den Ort überall russische Panzer fahren.
Mittwoch, 2. März
Ein Telefonat mit der Tochter.
In der Früh ist es etwas ruhiger. Man hört nur in etwa zehn Kilometern Entfernung Detonationen. Ich gehe ins Haus und versuche, meine Tochter anzurufen. Nach einer Stunde klappt es endlich. Ich sage ihr, dass die Lage sehr schlimm ist, wir aber zumindest immer noch etwas zu essen haben und außerdem Powerbanks, um unsere Handys zu laden. So können wir wenigstens erreichbar bleiben.
Tagsüber nutzen wir die kurze Ruhe, um Essen vorzubereiten und unsere Kleidung zu waschen. Zwischendurch sehen wir fern. Da es kein Internet mehr gibt, ist dies die einzige Quelle, um Informationen zu bekommen, was rund um uns passiert. Die Nacht können wir sogar im Haus schlafen.
Donnerstag, 3. März
Humanitäre Hilfe trifft ein.
Unsere Essensvorräte werden knapp. Zum Glück hält heute ein Auto mit humanitärer Hilfe in unserem Dorf. Wir bekommen Fleisch, Reis, Mehl, und das alles umsonst, obwohl ich anbiete, dafür zu zahlen. Am Nachmittag setzt wieder Kriegslärm ein.
Aufgezeichnet von Ellina Sauerschnig, der in Österreich lebenden Tochter der Familie.