Krisenjahr 2020: Der Versuch einer Versöhnung
Pandemie, Populismus, Klimakatastrophe. Terror, Hunger, Bürgerkriege. Eine Schreckensnachricht jagte die nächste. Bang gefragt: Ist das Ende nah? Und was kommt danach?
Johannes sitzt auf der Insel Patmos, als er plötzlich eine Stimme hinter sich hört, "laut wie eine Posaune". Als er sich umdreht, sieht er eine Gestalt, ganz in Weiß, umrandet von sieben goldenen Lichtern. Das lange Haar wie Wolle, um die Hüfte ein goldener Gürtel. In den Händen hält Gott ein Buch mit sieben Siegeln, seinen Plan für die Menschheit: alles, was noch geschehen wird. Gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus hat Johannes, auf eine einsame Insel am Rande des Römischen Reichs verbannt, eine göttliche Eingebung. Er wird sie aufschreiben. Die Apocalypsis ist das letzte Buch des Neuen Testaments -und wohl das gruseligste. Die Bilder, die Johannes vorhergesagt werden, sind wahrlich angsteinflößend. Von einem gewaltigen Meteoritenschauer ist da die Rede, vom Meer, das zu Blut wird, von einer Plage gigantischer Heuschrecken mit menschlichen Gesichtern und Zähnen wie von Löwen. Ein roter Drache mit sieben Köpfen und zehn Hörnern, der Teufel selbst, versucht, einer Frau ihr neugeborenes Kind zu entreißen, um es zu verschlingen, wird jedoch von Engeln hinabgetrieben auf die Erde.
Vier Reiter kommen daher, der erste bringt Unterdrückung durch Tyrannen auf die Erde, der zweite Krieg, der dritte Hunger und Inflation. Der vierte Reiter schließlich bringt den Tod, herbeigeführt von wilden Tieren - und tödlichen Seuchen.
Der vierte Reiter - das klingt wie 2020. In kürzester Zeit hat sich das Coronavirus über den Globus verbreitet und die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Die Pandemie hat die Welt zwar nicht untergehen lassen. Doch sie hat mehr als 1,6 Millionen Menschenleben gefordert. Und sie hat uns schlagartig verändert.
Die Krise hat uns die Schwächen unseres Systems vor Augen geführt und die Ungleichheiten unserer Gesellschaft verschärft. Was vorher schon schlecht war, darauf wirkte die Pandemie wie ein Brand-beschleuniger: kaputtgesparte Gesundheitssysteme, unterfinanzierte Bildungseinrichtungen, häusliche Gewalt. Vor dem Virus sind alle gleich - selten war ein Satz so falsch und zugleich so zynisch.
Covid-19 hat uns die Schattenseiten der Globalisierung vor Augen geführt und gezeigt, wie krass die Unterschiede in unseren Systemen sind: zwischen Mann und Frau, Arm und Reich, Jung und Alt, zwischen Menschen mit und ohne Zugang zu Privilegien, zu ausreichend Wohnraum, optimaler Gesundheitsversorgung.
Ein Virus, das die Welt heimsucht und alles durcheinanderwirbelt, weckt Urängste. Mythen und Geschichten vom Ende der Zeiten sind so alt wie der Mensch selbst. Apokalyptische Erzählungen tauchen schon in den Schöpfungsmythen Assyriens und Babyloniens auf. Im Zoroastrismus Persiens findet ein Endkampf zwischen Gut und Böse statt, in der Mythologie des vorchristlichen Skandinavien ziehen Götter und Riesen in eine Schlacht, die die Welt in den Abgrund treibt.
Der theologische Rahmen für eine sinnstiftende Einordnung der Angst vor dem Ende fehlt den meisten Menschen heute. Der (vielleicht auch lustvollen) Beschäftigung mit dem Untergang hat das keinen Abbruch getan. Filme, Serien und Bücher, die sich mit Horror-und Endzeitthemen befassen, haben in Krisenzeiten Hochkonjunktur. Steven Soderberghs Thriller "Contagion" über die Pandemie eines tödlichen Virus gehörte in diesem Jahr zu den meistgestreamten Filmen.
Die Konfrontation mit dem Grauen, mit Katastrophen biblischen Ausmaßes dient auch der Verarbeitung realer Ängste. In einer globalen Studie zeigte sich 2012 einer von sieben Befragten überzeugt, das Ende der Welt noch selbst zu erleben. Weltuntergangsszenarien gibt es genug: Klimawandel, Meteoritenschauer, Dritter Weltkrieg, Blackout, der Kollaps der Weltwirtschaft -oder eben eine globale Pandemie. Allein im vergangenen Jahrhundert gab es eine ganze Reihe von Krisen - durchaus auch solche mit dem Potenzial, die letzte zu sein.
Zum Beispiel die Kubakrise von 1962. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die USA und die Sowjetunion ein vernichtendes atomares Waffenarsenal angehäuft. Ein Atomkrieg zwischen den Weltmächten war durch die Stationierung amerikanischer Jupiter-Raketen in der Türkei und die darauffolgende Entscheidung Moskaus, Mittelstreckenraketen nach Kuba zu bringen, zur realen Gefahr geworden. Im Oktober 1962 hätten US-Soldaten in Japan beinahe irrtümlich ihre Atomwaffen abgefeuert, wie sich 50 Jahre später herausstellen sollte. Ein Major in den USA hatte falsche Codes nach Okinawa geschickt und damit beinahe einen tödlichen Fehler begangen. Doch seine Kollegen in Japan zweifelten - und drückten nicht auf den Knopf.
Auch die sowjetische Seite bewahrte, als es darauf ankam, die Nerven. Mehr als 20 Jahre später, Ende September 1983, schrillten nachts in einer geheimen Kommandozentrale südlich von Moskau plötzlich die Sirenen. Das System meldete den Start mehrerer nuklearer Interkontinentalraketen von einer US-Militärbasis. Der diensthabende Oberstleutnant Stanislaw Petrow hätte eigentlich den atomaren Gegenschlag einleiten müssen - doch der Systemanalytiker wurde stutzig, weil auf den Satellitenbildern nichts zu sehen war. Also meldete Petrow einen Fehlalarm an die übergeordneten Instanzen -und sollte damit natürlich recht behalten: Ein Satellit des sowjetischen Frühwarnsystems hatte Spiegelungen von Sonnenstrahlen fälschlicherweise als Raketenstart interpretiert. Petrow zögerte -und verhinderte damit wohl den Dritten Weltkrieg.
In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Weltuntergangsängste verschoben, die Furcht vor einem nuklearen Erstschlag ist mit dem Ende des Kalten Krieges anderen Sorgen gewichen: ein Kollaps des globalen Finanzwesens, die Erhitzung der Erde um zwei Grad oder mehr oder eben eine globale Pandemie - Horrorszenarien gibt es nach wie vor genug.
Weltuntergangspotenzial hatten die Krisen des neuen Jahrtausends kaum, das Ende wurde dennoch oft genug heraufbeschworen: Vom Ende des Euro war die Rede oder vom Niedergang der westlichen Werte. Freunde des Untergangs sahen im Brexit-Referendum vom Juni 2016 das Ende der EU und kurz darauf, ausgelöst durch die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, das Ende der Demokratie in den USA.
Aus Angst davor, was Trump rund um die Wahlen in den USA anrichten könnte, kamen im Sommer 2020 in Washington Dutzende Experten und Journalisten, ehemalige Politiker und pensionierte Militärs zusammen. In unzähligen Planspielen gingen sie alle möglichen Worst-Case-Szenarien durch. Das Ergebnis war besorgniserregend. Selbst einen Bürgerkrieg, angezettelt von schwerbewaffneten Trump-Anhängern, wollten die Experten nicht ausschließen.
Einige ihrer Szenarien sind tatsächlich eingetreten: Trump hat sich vorzeitig zum Wahlsieger erklärt. Er hat die demokratischen Säulen des Staates missachtet, die Justiz geschmäht und versucht, die Wahlen zu manipulieren. Doch der schlimmstmögliche Fall ist nicht eingetroffen. Weder ist es Trump gelungen, die Auszählung von Stimmen zu verhindern, noch ist das Land in Chaos und Gewalt abgeglitten. Die demokratischen Säulen haben gehalten.
Nationalismus, das hat sich rasch erwiesen, hilft in der Krise nicht weiter. Italien, Anfang des Jahres als erstes Land in der EU besonders schwer getroffen, wurde zu Beginn von der Union im Stich gelassen. Grenzen wurden kurzerhand geschlossen, Frankreich und Deutschland verordneten einen Exportstopp von Schutzausrüstung und medizinischen Geräten. Am Ende war es China, das Tonnen an Hilfsgütern und Hunderte Ärzte nach Italien fliegen ließ.
Es dauerte, bis die Mitgliedsländer verstanden hatten, dass einzelne Staaten die Pandemie nicht alleine bezwingen können. Was dann geschah, wird in die Geschichtsbücher eingehen. Im Sommer schnürte die EU das größte Hilfspaket aller Zeiten, um den Folgen der Pandemie zu begegnen. Erstmals wird dafür von den Staaten gemeinsam Geld auf den Finanzmärkten aufgenommen -von dem ein Großteil als Zuschüsse ausgeschüttet wird, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Am Ende haben sich Staaten wie Deutschland und Frankreich gegen die "Sparsamen Vier" durchgesetzt: Österreich, Schweden, die Niederlande und Dänemark wollten überhaupt kein Geld verschenken. Nun werden es zwei Drittel des gesamten 750-Milliarden-Pakets sein.
Das lange Undenkbare, gemeinsame Schulden, ist damit wahr geworden, ein altes Dogma gefallen. Für schwer von der Pandemie getroffene Länder wie Italien und Spanien, die ohnehin schon hoch verschuldet sind, sind diese Hilfen lebensnotwendig.
Am 31. Dezember 2019 gab es die ersten Meldungen über das neuartige Coronavirus: In Zentralchina sei eine "mysteriöse Lungenkrankheit" ausgebrochen. Keine zwölf Monate später wurden nun die ersten Impfstoffe zugelassen. In Großbritannien hat die Durchimpfung der Bevölkerung Mitte Dezember begonnen, in der EU soll es Ende Dezember losgehen. Dass es so rasch einen Impfstoff geben würde, hätte fast niemand erwartet. Beim Masern-Vakzin dauerte es neun Jahre, bei Polio mehr als zwei Jahrzehnte. Dass es rascher ging als gedacht, liegt auch an einer einzigartigen Kooperation. Noch nie wurde innerhalb so kurzer Zeit dermaßen viel Wissen zusammengetragen. Nicht einmal über Influenza liegen so viele Informationen vor wie über Sars-CoV-2. Chinesische Forscher veröffentlichten dessen Gensequenz bereits im Jänner, auch danach teilten Wissenschafter laufend ihre Daten und Forschungsergebnisse. Das Material nutzte auch den Unternehmen, die nun Impfstoffe auf den Markt bringen.
Als globales Phänomen hat Covid-19 - im Gegensatz zu anderen weltweiten Krisen wie Kriegen, Naturkatastrophen und Migrationsströmen -nach Kooperation verlangt. Die Vorstellung vom Weltuntergang und die Angst vor globalen Katastrophen mobilisiert Kräfte, die Schlimmeres verhindern.
Zum Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion kam es bekanntlich nicht. Im Oktober 1962 einigten sich die Sowjetunion und die USA auf einen Abzug der Raketen aus Kuba und der Türkei.
Ende 1987 unterzeichneten die UdSSR und die USA schließlich das INF-Abkommen zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen. Es war ein Meilenstein auf dem Weg zum Ende des Kalten Krieges.
Für seine Bemühungen bei der Abrüstung und der Wiedervereinigung Deutschlands erhielt der damalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow 1990 den Friedensnobelpreis. Im Krisenjahr 2020 ergriff er das erste Mal seit Langem das Wort. Im amerikanischen Nachrichtenmagazin "Time" rief er zu einer Vereinigung der Weltgemeinschaft auf, einem gemeinsamen Endkampf sozusagen, ausgelöst durch die schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Gorbatschow will nicht weniger als eine "Neue Zivilisation". Seine Ideen, darunter globale Abrüstung und ein neues, von Waffen losgelöstes Sicherheitsdenken, sind durchaus edel. Dass wir als vom Egoismus geheilte globale Gemeinschaft aus der Asche dieser Krise aufstehen, wie Gorbatschow sich das vorstellt, mag unrealistisch sein. Aber viele wollen auch nicht zurück zum Status quo vor der Krise.
Es besteht die Hoffnung, dass sich die Erkenntnisse aus der aktuellen Krise mitnehmen lassen für den Umgang mit der drängendsten Bedrohung - dem Klimawandel. Umweltökonomen sehen eine Chance für die Energie-und Mobilitätswende. In der Pandemie haben Unternehmen erkannt, dass nicht jeder Kurzstreckenflug sinnvoll ist und sich viele Besprechungen per Video erledigen lassen.
Für den Kampf gegen den Klimawandel war das Jahr 2020 kein schlechtes. Ohne die Amerikaner ist globaler Klimaschutz kaum möglich, nun hat er wieder eine Chance: Joe Biden will sein Land bis 2050 klimaneutral machen und dem Pariser Klimaabkommen wieder beitreten.
Auch die EU hat eine Reduktion der Treibhausgase bis 2030 um 55 Prozent beschlossen -und ihre Klimaziele damit verschärft. Klimaaktivisten mag das nicht weit genug gehen. Doch die beispiellose Zusammenarbeit im Krisenjahr 2020 könnte sich positiv auf den Kampf gegen die Erhitzung der Erde auswirken. Immerhin ist nun klar: Wenn es sein muss, ist Zusammenarbeit im Sinne rationaler Lösungen möglich.
Experten und Politiker auf der linken Seite des politischen Spektrums sehen die Krise als Chance für nachhaltige Veränderungen auch im sozialen Bereich. Sogenannte Systemerhalter wie Kranken-und Altenpfleger, Supermarktkassiererinnen und Pädagoginnen haben heuer besonders viel gestemmt. Zu wenig verdient und teils unter unmöglichen Bedingungen gearbeitet haben sie aber schon davor. Das soll sich nun ändern. So sieht etwa der Zukunftsforscher und notorische Optimist Matthias Horx bereits eine bessere Welt kommen: Die tief greifenden Veränderungen im persönlichen Verhalten während der Corona-Krise hätten gezeigt, dass man etwas bewegen kann. Es sei nun an der Zeit, diese Erkenntnis zu nutzen, um im Sozialbereich und im Kampf gegen den Klimawandel grundlegende Fortschritte zu machen.
In dieser Vorstellung schafft die Konfrontation mit der Krise etwas Neues. Horx zieht eine Parallele zwischen der Pandemie und einer Erzählung aus dem Alten Testament und vergleicht die Bewältigung der Corona-Krise mit der Überwindung der zehn Plagen.
Auch in der Offenbarung des Johannes siegt am Ende das Gute über das Böse. Den frühen Christen gab die Apocalypsis Hoffnung. Sie war ein Trost während der Christenverfolgung im Römischen Reich. Am Ende der Offenbarung kommen die Toten in den Himmel und werden von Gott gerichtet. Wer gut war, darf bleiben, die anderen kommen in die Hölle.
Schon jetzt hat die Corona-Krise viel verändert. Die Folgen werden noch lange spürbar sein. Horx beschreibt eine schöne neue Welt, verschweigt aber, wie weit der Weg dorthin noch ist und wie schmerzhaft er für viele sein wird. Nachhaltige Veränderungen geschehen nie ohne grobe wirtschaftliche Umwälzungen und gesellschaftspolitische Verwerfungen.
Schlussendlich aber kann das Ende der Welt, wie wir sie kennen, eine gute Nachricht sein. Es ist nicht das Ende der Zivilisation - sondern der Beginn von etwas Neuem.