Trumps Ex-Sonderbeauftragter Volker: „Die Ukraine ist nur innerhalb der NATO sicher“
Von Siobhán Geets
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Die Regierung von US-Präsident Joe Biden erlaubt der Ukraine den Einsatz von US-Waffensystemen mit großer Reichweite. Damit kann Kiew den „Krieg nach Russland tragen“, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj schon in seinem „Plan für den Sieg“ forderte. Können die Langstreckenraketen den Unterschied machen?
Kurt Volker
Ja, doch sie sind nicht kriegsentscheidend. Die Langstreckenraketen ermöglichen es den Ukrainern, Munitions- und Treibstoffdepots sowie Flugplätze zu treffen und schränken so die Angriffsmöglichkeiten Russlands ein. Bidens Entscheidung ist die 180-Grad-Wende einer Politik, die es nie hätte geben dürfen. Es ergibt keinen Sinn, die Feuerkraft der Ukrainer auf bestimmte Kilometerzahlen zu begrenzen. Die von Biden angestoßene Debatte über die Reichweite der Waffensysteme ermöglicht es Russlands Präsident Wladimir Putin, von einer gefährlichen Eskalation zu sprechen und sich als Opfer zu inszenieren.
War es ein Fehler, dass Biden gleich zu Beginn des Angriffskrieges ausgeschlossen hat, US-Truppen in die Ukraine zu schicken?
Volker
Ja. Verrate niemals, was du nicht tun wirst. Halte alle Optionen offen. Die Gegenseite soll sich den Kopf darüber zerbrechen, wozu wir bereit sind – und nicht andersherum!
Trump hat angekündigt, den Krieg innerhalb von 24 Stunden zu beenden. Kann es wirklich so einfach sein?
Volker
Trump wird Putin wie angekündigt anrufen und ihm sagen, dass er den Krieg beenden soll. Dann wird Putin dieses und jenes fordern. Wir werden abwarten müssen. Putin könnte durchaus Interesse haben, den Krieg zu beenden. Die Wirtschaft schwächelt, die Teuerung liegt bei bis zu 25 Prozent. Die Russen verlieren massenhaft Soldaten, die Bevölkerung steht nicht mehr hinter diesem Krieg. Bei der Artillerie sind sie auf Nordkorea angewiesen, bei den Drohnen auf den Iran, und jetzt helfen ihnen auch noch Soldaten aus Nordkorea. Es läuft nicht gut für Putin. Gut möglich, dass er Zeit gewinnen will. Es liegt dann am Westen, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschehen kann.
Laut Medienberichten gibt es in Trumps Umfeld Pläne für eine demilitarisierte Zone entlang der Front in der Ukraine. Russland soll garantiert werden, dass die Ukraine der NATO für mindestens 20 Jahre nicht beitreten wird. Dem Kreml würde das gefallen – aus Moskau hieß es, das seien „positive Signale“.
Volker
Wir sollten nicht zu viel darauf geben, was der Kreml sagt, sondern uns fragen, wieso sie das sagen. In diesem Fall will Putin die USA dazu ermutigen, diesen Weg auch tatsächlich zu gehen. Der Vorschlag kommt nicht von Trump oder von seinen Leuten.
Ich glaube nicht, dass Trump einen Plan hat.
Was ist Trumps Plan?
Volker
Ich glaube nicht, dass er einen hat. Trump wird wohl spontan entscheiden, doch davor soll Putin die Möglichkeit eingeräumt werden, den Krieg zu beenden. Sollte er das nicht tun, hat Trump angekündigt, der Ukraine zu liefern, was sie braucht.
Können wir Putin trauen?
Volker
Nein.
Können wir Trump trauen …
Volker
Nein.
… wenn er sagt, er würde die Ukraine weiter unterstützen?
Volker
Putin reagiert auf Gewalt und auf Fakten. Es ist wichtig, die Realität so zu gestalten, dass er auf eine bestimmte Weise reagieren muss. Putin wird den Krieg beenden, wenn die Situation in der Ukraine droht, Russland in den Bankrott zu führen. Er wird nur noch etwa ein Jahr lang mit seinen Währungsdevisen auskommen, dann muss es eine Art Pause geben. Wir müssen diese Zeit nutzen, um die Ukraine zu demokratisieren und zum Mitglied unserer Sicherheitsgemeinschaft zu machen. Es muss für Putin unmöglich werden, diesen Krieg weiter voranzutreiben.
Welche Sicherheitsgarantien braucht die Ukraine?
Volker
Wir müssen die Ukraine so schnell wie möglich in EU und NATO holen. Die NATO-Mitgliedschaft ist das Einzige, was Putin abschreckt. Sehen Sie sich die europäischen Länder an, die er überfallen hat: Georgien, Moldau, die Ukraine – allesamt keine NATO-Staaten. Wollen wir nachhaltigen Frieden in Europa, dann müssen wir die Ukraine in die NATO holen.
Das müsste sehr rasch geschehen.
Volker
Ja. Wir werden wohl damit leben müssen, dass Russland Teile der Ukraine besetzt. Doch gleichzeitig gäbe es mit der NATO-Mitgliedschaft kein Sicherheitsvakuum mehr für den Rest – den Großteil – des Landes.
Und Russland dürfte die bereits eroberten Gebiete behalten?
Volker
In der Praxis würden diese Gebiete unter russischer Besatzung bleiben – auch wenn wir sie nicht als russisches Territorium anerkennen. Es würde wohl einen Tauschhandel geben – die Ukraine könnte die im August eroberte russische Stadt Kursk zurückgeben, Russland einen Teil Saporischschjas oder Cherson. Je näher man an die Grenzen von 2014 herankommt, desto nachhaltiger wäre die Lösung. Putin muss eine Art von Sieg verkünden können, und Selenskyj braucht Sicherheitsgarantien.
Eine Niederlage der Ukraine wäre Trumps Niederlage, es wäre sein Afghanistan.
Sie kennen Selenskyj, haben viel Zeit mit ihm verbracht. Würde er einer solchen Lösung zustimmen?
Volker
Die Menschen in der Ukraine sind psychisch und körperlich erschöpft, und Kiew hat ein Rekrutierungsproblem. Selenskyj weiß, dass er eine realistische Lösung braucht. Das Szenario, das Sie vorhin beschrieben haben – Waffenstillstand, keine NATO-Mitgliedschaft für 20 Jahre –, ist keines, das wir anstreben sollten. Es fehlen darin die Sicherheitsgarantien für die Ukraine, und Russland könnte sich sammeln und erneut angreifen, wie es das zuvor schon getan hat.
Was würden die Menschen in der Ostukraine dazu sagen?
Volker
Es gibt dort nur noch sehr wenige ukrainische Patrioten. Aber ja, ihnen könnte man dieses Angebot nicht verkaufen. Doch Selenskyj muss an das gesamte Land denken.
Das Interview fand gemeinsam mit der "Kronen Zeitung" statt. Im Bild: US-Diplomat Kurt Volker (links vorne) mit Forum-Alpbach-Chef Thomas Mayr-Hating (hinten), profil-Journalistin Siobhán Geets und Krone-Redakteur Clemens Zavarsky.
Wer würde in Ihrem Szenario für den Wiederaufbau in der Ukraine bezahlen?
Volker
In jedem Szenario Trumps wärt das ihr, die Europäer! Das ist auch nachvollziehbar, denn es geht um die Stabilisierung Europas und um Europas Interessen. Die USA sind der Schlüssel zu den Militärhilfen, doch ihr müsst für die wirtschaftliche Unterstützung aufkommen.
Es gibt die Forderung, dass Russland für den Wiederaufbau in der Ukraine aufkommen soll.
Volker
Die EU sollte endlich die 300 Milliarden an eingefrorenen russischen Vermögen beschlagnahmen. Doch sie tut es nicht. Das Argument, dass dann auch andere Staaten abgeschreckt würden, ihr Geld nach Europa zu bringen, lasse ich nicht gelten. Fürchten muss sich nur, wer andere Länder überfällt. Was Russland in der Ukraine getan hat, lässt sich nicht wiederholen.
Die baltischen Staaten machen sich durchaus Sorgen, als Nächste überfallen zu werden. Ist die Angst unbegründet?
Volker
Es gibt einen Unterschied zwischen Intention und Fähigkeit. Erstere hat Putin, und darauf muss man sich vorbereiten. Doch er wird in den kommenden zehn Jahren nicht die Fähigkeiten dazu haben. Putin kann Desinformationskampagnen fahren, er kann Politiker bestechen und Gegner ausschalten. Aber es wird nicht zu einer Invasion Litauens kommen. Vorstellbar ist aber, dass er eine Landbrücke zwischen Russland und Kaliningrad schaffen will. Litauen würde sich wehren, und Putin könnte Länder wie die USA und Deutschland herausfordern: Wollt ihr wirklich einen Krieg beginnen wegen dieses 20 Kilometer breiten Landstreifens?
Ist das nicht das größte Problem der NATO: dass sie sich nicht sicher sein kann, ob die Mitglieder ihren Bündnispartnern überhaupt zu Hilfe eilen würden?
Volker
Das ist schon lange ein Problem. Können wir uns darauf verlassen, dass Frankreich oder Deutschland das Risiko einer nuklearen Auseinandersetzung eingehen, um ein anderes Land zu verteidigen?
Wird diese Sorge mit einem US-Präsidenten Trump größer? Er ist kein Freund der NATO.
Volker
Ja, damit hat er gespielt. Im Jänner sagte er zu europäischen Staatschefs: Ich würde Putin machen lassen, was auch immer er möchte. Er erzählt diese Geschichte, um aufzuzeigen, wie er europäische Staaten dazu gebracht hat, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. In seinem Narrativ hat er damit die NATO gestärkt.
Das klingt schrecklich clever.
Volker
Schrecklich clever trifft es gut, denn eigentlich sollten wir keine Zweifel säen. Doch genau das tut Trump.
Die Gegner eines NATO-Beitritts der Ukraine führen an, dass dann etwa deutsche Soldaten in der Ukraine gegen Russland kämpfen müssten.
Volker
Ja, und amerikanische Soldaten würden im Fall des Falles in Deutschland kämpfen. Der Sinn eines ukrainischen NATO-Beitritts wäre es, künftige Kriege zu verhindern. Seit der Gründung der NATO wurde in keinem europäischen Mitgliedsland mehr Krieg geführt. Die Ukraine ist nur innerhalb der NATO sicher.
Trump behauptet, unter seiner Präsidentschaft hätte es keinen Einmarsch in die Ukraine gegeben. Glauben Sie das?
Volker
Er denkt, er hätte eine persönliche Beziehung zu Putin und dass er ihm das nicht angetan hätte. Er denkt, er wäre in einer militärisch stärkeren Position gewesen. Vergessen Sie nicht, dass er das Waffenembargo des früheren US-Präsidenten Barack Obamas aufgehoben und der Ukraine erstmals Waffen geliefert hat – gegen den Willen Deutschlands und Frankreichs. Trump ist auch nicht aus Afghanistan abgezogen. Das war unter Biden eine Katastrophe und hat ein Signal an Putin gesendet. Er dachte, er könne sich die Ukraine holen, und es würde keinen Widerstand geben.
Der Abzug aus Afghanistan wurde doch unter Trump beschlossen.
Volker
Unter Trump wurde mit den Taliban verhandelt, die US-Truppen wurden auf 2500 reduziert. Doch die Taliban hielten sich nicht an die Vereinbarungen, und Trump hat dem Abzug nicht zugestimmt, weil klar war, dass es zum Chaos kommt.
Wird Trump die Ukraine aus demselben Grund weiter unterstützen – weil er nicht für deren Niederlage verantwortlich sein will?
Volker
Ja, denn es wäre seine Niederlage, es wäre sein Afghanistan. Ich sehe kein Ende der US-Hilfen für Kiew.
Verstehen Sie die österreichische Neutralität?
Volker
Ich habe lange in Schweden gelebt, das 200 Jahre lang neutral war – viel länger als Österreich. Doch sie sind nach der Invasion Russlands in die Ukraine zu der Einsicht gekommen, dass die Neutralität keine Sicherheit mehr bringt. In Finnland war es ähnlich, und beide Länder sind der NATO beigetreten. Österreich ist anders. Es ist umgeben von NATO-Staaten – ihr seid „Freerider“ (Trittbrettfahrer, Anm.), ihr müsst nichts tun, denn die NATO wird sich selbst verteidigen, bevor auch nur ein einziger feindlicher Soldat nach Österreich gelangt. Ein NATO-Beitritt Österreichs würde das Land relevanter machen, und er wäre gut für das österreichische Bundesheer.
In der österreichischen politischen Debatte trennt man gern zwischen der NATO und einer Verteidigung durch europäische Truppen.
Volker
Es gibt keine europäische Verteidigung. Jede große europäische Verteidigungsmacht ist auch Mitglied der NATO. Sie führt alle Ressourcen zusammen und sorgt auch für die Sicherheit Europas. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU existiert nur auf dem Papier. Sie wird hauptsächlich für Auslandseinsätze genutzt, taugt aber nicht zur Verteidigung Europas. Das tut die NATO und das wird sich auch nicht ändern, im Gegenteil. Die NATO wurde durch die Beitritte Finnlands und Schwedens gestärkt, und sie wird weiter an Stärke gewinnen – auch in Europa.
Kurt Volker, 59,
ist ein US-amerikanischer Diplomat. Der damalige Präsident Donald Trump machte ihn 2017 zum Sondergesandten für die Beziehungen zur Ukraine. Im Zuge der Ukraine-Affäre und des Amtsenthebungsverfahrens gegen Trump trat Volker 2019 zurück. Zuvor war er unter anderem Ständiger Vertreter der Vereinigten Staaten bei der NATO (2008–2009).
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.