Lars Castellucci: "Wir selbst sind die Einzigen, die uns jetzt helfen können"
Interview und Fotos: Edith Meinhart
profil: Die Sozialdemokratie kämpft gegen ihren Bedeutungsverlust und ist hauptsächlich mit sich beschäftigt. Kommt sie da wieder heraus? Castellucci: Wir sehen verheerende Wahlergebnisse und mehr Beweglichkeit im Wahlverhalten, die es mit sich bringt, dass es auch wieder in unsere Richtung gehen kann. Wir müssen uns aber anstrengen, und wir selbst sind auch die Einzigen, die uns jetzt helfen können.
profil: Im Moment scheint sich die SPD nur aussuchen zu können, in welche Richtung sie verliert: Die Bildungsschicht wandert zu den Grünen ab, die Abgehängten zur AfD. Castellucci: Es geht jetzt gerade nicht um links oder rechts und welche Seite wir aufgeben. Nach jeder verlorenen Wahl hieß es beispielsweise in der Vergangenheit, wir müssten uns stärker um bestimmte Gruppen, etwa die "hart arbeitende Mitte", kümmern. Dann klingeln bei mir die Telefone, und die Rentner beschweren sich: Ach, für uns seid ihr nicht mehr da? Ich finde: Als Volkspartei brauchen wir eine Idee von einer Gesellschaft, in der Platz für alle ist und niemand zurückgelassen wird - ein Angebot, das sich an alle richtet.
profil: Ihr Loblied wirkt ein bisschen retro, die Volksparteien befinden sich seit Jahrzehnten im Niedergang. Glauben Sie wirklich an dieses Konzept? Castellucci: Ich bin überzeugt, dass es diese Integrationsanstrengung mehr denn je braucht, weil wir im Zuge der Individualisierung zwar viel Wissen und Selbstbewusstsein angesammelt und Freiheit gewonnen haben, die sozialen Kompetenzen und Empathie aber nicht mitgehalten haben. Nun sind lauter Könige unterwegs, die von der Politik verlangen: Mach, was ich für richtig halte! Und übersehen, ob der Nachbar das auch für richtig hält.
profil: Wenn Sie für alle da sein wollen, passt aber nicht ganz dazu, dass Sie für Rot-Rot-Grün eintreten. Castellucci: Die Wähler können sich nicht den ganzen Tag mit Politik beschäftigen und müssen schnell einen Eindruck gewinnen können, wofür die Parteien stehen. Das ist das Elend Großer Koalitionen, dass die Unterschiede verschwimmen. Also dürfen wir so nicht weitermachen, sonst geht am Ende die Demokratie kaputt. Wir brauchen Alternativen. Wo sollen wir die suchen? Es gibt auch Schnittmengen mit der FDP, beispielsweise was Bürgerrechte angeht. In der Steuer- oder Sozialpolitik würde es mit denen dagegen schwer werden.
profil: Würden Sie die Revisionsklausel gerne nützen, um die ungeliebte Große Koalition jetzt zu sprengen? Castellucci: Die Menschen haben verdient, dass ihre Regierung auf der Höhe der Zeit an den wichtigen Themen arbeitet, die uns alle beschäftigen. Die Revisionsklausel nutzen wir am besten, um einen Zukunftsentwurf für unser Land zu diskutieren, der dann die Messlatte wird, mit der Union zu beraten, ob sie mit uns Schritte in diese Richtung gehen will oder eben nicht. Bis dahin hat man verlässlich zu regieren und nicht andauernd öffentlich zu überlegen, ob man die Große Koalition beenden sollte.
Ich habe keine Angst. Ängstliche Leute landen vielleicht bei 12,5 Prozent, denn sie haben in der Regierung auch nichts verloren.
profil: Falls ja, gäbe es Neuwählen. Hätten Sie Angst, bei dem prognostizierten SPD-Ergebnis von 12,5 Prozent zu landen? Castellucci: Ich habe keine Angst. Ängstliche Leute landen vielleicht bei 12,5 Prozent, denn sie haben in der Regierung auch nichts verloren. Wir leisten anständige Arbeit und stellen uns mit allem, auch was heute noch unzureichend oder offen ist, selbstbewusst zur Wahl, und dann entscheiden die Wählerinnen und Wähler.
Kevin Kühnert ist ein feinsinniger junger Mann und hochtalentiert.
profil: Die SPD sucht derzeit nicht nur ihren Kurs sondern auch einen Chef, eine Chefin. Wer kann das besser: ein Junger wie Juso-Chef Kevin Kühnert oder jemand mit Erfahrung? Castellucci: Die Partei braucht einen Neuanfang, der auch personell deutlich werden muss. Es reicht nicht, jemanden, den man seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Zusammenhängen kennt, zu präsentieren. Das sage ich mit dem höchsten Respekt vor allen, die heute Verantwortung tragen. Kevin Kühnert ist ein feinsinniger junger Mann und hochtalentiert. Dass er das Fingerspitzengefühl hatte, jetzt nicht ins Europäische Parlament zu gehen, hat in weiten Teilen der Partei das Vertrauen gefestigt, dass es ihm um Inhalte und nicht um Positionen geht. Den SPD-Vorsitz würde ich ihm nicht zumuten.
profil: In Österreich kommt die Sozialdemokratie trotz eines Wechsels an der Spitze nicht vom Fleck. Castellucci: Die Vorstellung, dass ein Heilsbringer oder eine Heilsbringerin allein alles richten wird, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es ist eine gemeinsame Kraftanstrengung nötig. Und wir müssen die Leute einladen, gemeinsam mit uns für tolle Ziele einzutreten, und dabei Zwischenerfolge organisieren, die Lust machen, dabei zu bleiben. Denn nur die Erfahrung, dass man etwas erreichen kann, führt dazu, dass man das auch anderen zutraut.
Die Kanzlerin hat dann gesagt: "Wir schaffen das." Aber niemand hat den Menschen erklärt, wie wir das schaffen und wer da etwas zu schaffen hat.
profil: SPD-Legende Willy Brandt beschrieb die Sozialdemokratie als Partei des "donnernden Sowohl-als-auch". Vor allem das Thema Migration erweist sich als Zerreißprobe. Weicht man ihm besser großräumig aus? Castellucci: Brandt meinte nicht Unklarheit oder Beliebigkeit, sondern Differenzierung. Die große Anzahl von Geflüchteten hat uns 2015 - wie alle anderen auch - unvorbereitet erwischt. Die Kanzlerin hat dann gesagt: "Wir schaffen das." Aber niemand hat den Menschen erklärt, wie wir das schaffen und wer da etwas zu schaffen hat. Diese Lücke klafft bis heute. Gleichzeitig haben wir auch sehr viel schon geschafft und müssen die fehlenden Klärungen und Erklärungen nun eben auf der Strecke nachliefern. Dafür arbeite ich als Sprecher für Migration und Integration unserer Bundestagsfraktion.
profil: Ex-Parteichef Sigmar Gabriel fordert eine robuste Asylpolitik, die sich letztlich auch die AfD auf die Fahnen schreibt. Ist das der Weg? Castellucci: Wir machen diese robuste Politik doch längst. Wir wollen Steuerung, Ordnung und Begrenzung, gleichzeitig haben wir nicht nur eine humanitäre Verantwortung, sondern als wohlhabendes Land auch die Kraft, humanitär zu sein. Es gibt nun einmal die Gnade der Geburt in einer Weltgegend, wo es einem wie bei uns gut geht. In einer anderen wächst man unter einem Diktator oder neben einem Vulkan auf. Wir müssen versuchen, das, was von Natur aus ungerecht ist, gerechter zu machen. Das heißt aber nicht, dass Leute unkontrolliert über die Grenze laufen. Das Asylrecht muss unangetastet bleiben. Und wenn jemand nicht schutzbedürftig ist, muss er das Land verlassen. Zumindest theoretisch ist das nicht allzu kompliziert.
profil: Dieses Abschieben um jeden Preis steht im Widerspruch zum neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz, mit dem man nun Zehntausende Leute ins Land holen will. Castellucci: Es werden erst einmal wenige kommen, weil wir die Hürden hoch gelegt haben. Ich bin froh, wenn wir vierstellig werden. Das ist aber kein Nachteil. Wenn wir es behutsam angehen, können wir besser planen und steuern und nehmen die Leute mit. Mit der nötigen Akzeptanz in der Bevölkerung werden wir dann weiter nachsteuern.
profil: Mehr Einwanderung macht Druck auf die Löhne, vor allem im unteren Segment. Ist die Gewerkschaft mit im Boot? Castellucci: Noch einmal: Die Zahlen werden sehr klein sein. Wir haben zudem vereinbart, dass wir keine Ungelernten ins Land holen. Die Gewerkschaft weiß aber auch, dass die Verdichtung der Arbeit zunimmt, und zwar nicht nur durch Ausbeutung, sondern auch, weil kein Personal zu finden ist. Es ist eine riesige Aufgabe, für ein prognostiziertes Drittel des Erwerbspersonals, das in den nächsten 20, 30 Jahren allein aufgrund der demografischen Entwicklung wegfallen wird, Ersatz zu beschaffen. Zuwanderung ist gut für alle, wenn wir sie gut organisieren. Auch meine Generation braucht Leute, die in die Sozialversicherungen einzahlen und unsere Pflege übernehmen.
profil: Das Terrain scheint für die Sozialdemokratie schon fast verloren. In Sachsen könnte die AfD bei der nächsten Wahl im Herbst stärkste Kraft werden. Castellucci: Wenn jemand ein verkappter oder offener Nazi ist, muss man ihn mit allen Mitteln bekämpfen. Aber gleichzeitig muss ich um die Wählerinnen und Wähler der AfD kämpfen, von denen wir ja wissen, dass sie zum überwiegenden Teil nur einen Denkzettel geben wollen. Manchmal schreibt mir jemand, was alles schiefläuft, inklusive Verschwörungstheorien und dem Zusatz: Bei uns denken alle so. Dann schreibe ich zurück: Laden Sie mal alle ein, ich komme dazu. Bei diesen Wohnzimmergesprächen, wo angeblich alle einer Meinung sind, meldet sich dann plötzlich ein Berufsschullehrer und sagt, motiviertere Jugendliche als in der Flüchtlingsvorbereitungsklasse habe er noch nicht vor sich sitzen gehabt, oder eine Frau, die in den 1990er-Jahren selbst als Flüchtling in einem Lager war und nun Angst hat, wegen einzelner Krimineller pauschal mitverurteilt zu werden. Wir dürfen nicht aufgeben, miteinander zu reden und vor allem einander zuzuhören.
profil: Sie erleben die AfD seit zwei Jahren im Bundestag. Welchen persönlichen Umgang pflegen Sie mit der stärksten Oppositionskraft? Castellucci: Am liebsten keinen. Aber meine Erfahrung bisher lehrt mich auch, dass die AfD zu beschimpfen nur dazu führt, dass ihre Wähler sich mitangegriffen fühlen, einbunkern und so für uns noch weniger erreichbar werden. Also lieber darauf konzentrieren, selbst gute Politik zu machen.
LARS CASTELLUCCI, 45, ist seit 2013 Abgeordneter der SPD im Bundestag und derzeit Sprecher seiner Fraktion für Migration und Integration. Er zählt zudem zur "rot-rot-grünen" Gesprächsrunde, einem Kreis von Abgeordneten, die eine Annäherung von SPD, Die Linke und den Grünen befürworten.