Le Pen, Orbán, Meloni: Auch Rechtspopulisten haben Gefühle
Dieser Artikel erschien im profil Nr. 47/2021 vom 21.11.2021.
Manchmal behalten Rechtsextreme recht. Im März 2011 traf profil Marine Le Pen, die Vorsitzende der französischen Rechts-Partei Rassemblement National (zu diesem Zeitpunkt noch Front National) zum Interview. Le Pen, damals 43 Jahre alt, war eben ihrem für antisemitische Aussprüche berüchtigten-und rechtskräftig verurteilten-Vater als Parteivorsitzende nachgefolgt und hatte große Pläne.
Zunächst jedoch musste sie erst einmal den Schuldenberg abbauen, den der Front National angehäuft hatte, weil die Ausgaben für Wahlkämpfe wegen des geringen Erfolgs vom Staat nicht refundiert worden waren. Marine Le Pen hatte deshalb das Hauptquartier der Partei in ein ziemlich unschickes Bürogebäude im Pariser Vorort Nanterre verlegen lassen. Ein dreigeschoßiges Haus, auf dem Parkplatz eine Statue von Jeanne d'Arc.
Doch die Peripherie schien ihr zu behagen, geografisch wie politisch. Le Pens neue Zielgruppe war die Masse der Durchschnittsfranzosen. Sie wollte das Image ihrer Partei von jeglichem Extremismus befreien und auf diese Weise für eine Mehrheit der Bevölkerung wählbar werden. Le Pen, damals im Interview: "Ich bin nicht so leicht zu verteufeln wie mein Vater."
profil war naturgemäß skeptisch. Doch bald schon zeigte sich, dass ihre Strategie erfolgreich war. Marine Le Pen galt 2017 als Fixstarterin für die Stichwahl bei den Präsidentschaftswahlen-am Ende setzte es eine Niederlage gegen Emmanuel Macron-und auch bei den Wahlen im kommenden Jahr ist mit ihr zu rechnen.
Berichterstattung über den Rechtspopulismus und seine Vertreter schwankt oft zwischen der Versuchung, ihn totzusagen, und der Angstlust, seinen unaufhaltsamen Aufstieg zu prognostizieren. Belege finden sich meist für beide Theorien. 2011 war jedoch ein ganz besonderes Jahr, nicht nur für Marine Le Pen, sondern für die rechtspopulistische Bewegung insgesamt.
In Deutschland hatten sich Wirtschaftsprofessoren zusammengefunden, die heftige Kritik an der Euro-Rettungspolitik übten. Aus diesem "Plenum der Ökonomen" sollte bald die rechtspopulistische-und schließlich rechtsextreme-Alternative für Deutschland (AfD) werden.
In Großbritannien traf Premier David Cameron im Dezember 2011 - ohne dies gleich publik zu machen - die Entscheidung, ein Austrittsreferendum abhalten zu lassen, also die Bevölkerung zu fragen, ob das Vereinigte Königreich die EU verlassen solle.
Und in den USA machte sich Präsident Barack Obama im April beim jährlichen "Korrespondenten-Dinner" des Weißen Hauses in seiner Rede mit beißendem Spott über einen der anwesenden Gäste lustig: einen gewissen Donald Trump, damals TV-Star. Trump hatte eine Kampagne geführt um - vergeblich - nachzuweisen, dass Obama nicht in den USA geboren sei. Die Demütigung, die Trump bei diesem Dinner erfuhr, soll eine der Motivationen für ihn gewesen sein, 2016 als Präsidentschaftskandidat anzutreten, schrieb das Magazin "The New Yorker".
Es braute sich also einiges zusammen, und tatsächlich wurde die westliche Welt spätestens ab der Flüchtlingskrise 2015 von einer rechtspopulistischen Welle erfasst, die den Anhängern der liberalen Demokratie einen Schock versetzte.
Doch wie jede Welle verebbte auch diese. Zwar wurde der Brexit Realität, doch Trump wurde abgewählt, die AfD von einer ernst zu nehmenden politischen Gefahr zu einem Fall für den Verfassungsschutz herabgestuft, und Marine Le Pen zog gegen Emmanuel Macron deutlich den Kürzeren.
Was lernen wir aus diesem Auf und Ab? Folgt daraus bloß die sehr banale Erkenntnis, dass auch Rechtspopulisten abwechselnd Erfolge und Misserfolge erleben?
Nein, hinter der verwirrend vielfältigen jüngeren Geschichte des Rechtspopulismus verbirgt sich eine unangenehme Wahrheit, die erst zutage tritt, wenn man die einzelnen Karrieren der Politiker und Politikerinnen der Parteien des rechten Randes ein wenig außer Acht lässt: Der Rechtspopulismus ist die Antwort auf ein Lebensgefühl oder auch eine Weltsicht, geteilt von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung. Wer dieses Gefühl zu bedienen versteht, kann jederzeit politisch erfolgreich sein.
Oder anders gesagt: So verwerflich oft die Inhalte dieser Parteien sein mögen, so normal ist deren Existenz im politischen Spiel der Kräfte geworden.
Das ist kein Aufruf zur Resignation, im Gegenteil. Je besser wir rechte Tendenzen verstehen, umso besser können die Kräfte der liberalen Demokratie darauf reagieren. Und tatsächlich haben wir sehr viel über die Rechten gelernt.
Anfangs glaubte man, rechtsextreme Parteien auf historische Phänomene begrenzen zu können. Die Existenz der FPÖ galt als österreichischer Sonderfall der unbewältigten Geschichte des Zweiten Weltkrieges; der französische Front National unter Jean-Marie Le Pen hatte seine Wurzeln im national-kolonialistischen Denken des Algerienkrieges; der Vlaams Belang in Belgien gründete auf dem Separatismus der Flamen. Nichts davon war auf andere Länder übertragbar, also bestand keine Gefahr der Ausbreitung.
Als sich neue rechtspopulistische Parteien bildeten, erklärte man das mit den ökonomischen Folgen der Globalisierung: Die "Abgehängten",die ihre Jobs in der Industrie verloren hatten, waren den neuen Rechtsparteien in Scharen zugelaufen. Daraus folgte, was zu tun war: Neue Jobs schaffen und so die Leute, die sich von den Rechten hatten "verführen" lassen, wieder heim zu den etablierten Parteien holen.
Doch alle Versuche, den Rechtspopulisten das Wasser abzugraben, scheiterten, und stattdessen vergrößerte sich deren ideologischer Radius und auch ihre Wählerschaft.
Plötzlich wurde klar, dass nicht bloß prototypische Globalisierungsverlierer die Rechtspopulisten wählten, sondern Leute aus allen sozialen Schichten und Altersgruppen. Marine Le Pen liegt etwa bei der Gruppe der 25-34-Jährigen auf Platz eins. Und auch die Meinung, rechtspopulistische Parteien seien nur etwas für Männer, ist längst widerlegt. Unter weiblicher Führung hat das Rassemblement National eine nach Geschlechtern ausgeglichene Wählerstruktur. In Italien spricht Giorgia Meloni, Shootingstar der Neuen Rechten, ausgerechnet alleinerziehende Mütter an.
Was kann das für ein Lebensgefühl sein, das Anhänger der Rechtspopulisten-Euro-Gegner, Islamhasser, Impfgegner, Ausländerfeinde-verbindet? Der französische Historiker und Intellektuelle Pierre Rosanvallon hat kürzlich eine ebenso einfache wie verblüffend schlüssige Erklärung dargelegt: In seinem Buch "Les Épreuves de la Vie" (etwa: Die Plagen des Lebens) analysiert er, worauf die Bewegungen der jüngeren Zeit gründen, die so gar nicht entlang althergebrachter Parteilinien entstanden sind; etwa die #MeToo-Bewegung oder die "Gelbwesten".
Er führt sie auf jeweils eine Widrigkeit zurück, die den Anhängerinnen und Anhängern widerfahren ist - ob real oder subjektiv, ist dabei unerheblich. Es sind dies die Verachtung, die Ungerechtigkeit, die Diskriminierung und die Unsicherheit. Für den Populismus ist vor allem das Gefühl wesentlich, verachtet zu werden. Sie haben den Eindruck, niemand schütze sie vor der Konkurrenz aus dem Ausland, vor wirtschaftlichen Benachteiligungen; zudem würden ihre - traditionellen - Werte gering geschätzt, während andere, neue Ideen, wie etwa die multikulturelle Gesellschaft oder die Relativierung der Geschlechter, überbetont würden. Leute, in denen dieses Gefühl kocht, finden einen politischen Ausdruck für ihren Unmut: Ressentiments. Diese seien "eine der Hauptachsen der politischen Kultur des Populismus",schreibt Rosanvallon. Als Ziele der Ressentiments wird die Elite - Regierung, staatliche Institutionen, Medien - identifiziert, von der sie sich verachtet fühlen, beziehungsweise auch alles Fremde, das sie als bedrohlich empfinden.
Interessant dabei ist, dass zunächst der schiere Ausdruck der Abneigung wichtiger ist als konkrete politische Forderungen. Die Gelbwesten besetzten ab 2018 eineinhalb Jahre lang Kreisverkehre im ganzen Land, weil sie sich von der französischen Regierung schlecht behandelt fühlen. Auslöser war eine geplante Erhöhung der Treibstoffsteuer gewesen. Doch auch als diese ausgesetzt war, gingen die Proteste weiter. Rosanvallon schreibt, die Besetzung der Kreisverkehre sei für die Demonstranten eine Art Selbstbehauptung gewesen. Politischer Existenzialismus mit der simplen Botschaft: "Wir sind da!"
Vielleicht kann man so besser verstehen, woher die Nachfrage nach Parteien kommt, die oftmals in den entscheidenden Fragen nichts erreichen. Es ist meist zwecklos, Anhängern von Rechtspopulisten vorzuhalten, dass deren Idole ihre Versprechungen nicht umsetzen. Donald Trump ließ die Mauer an der Grenze zu Mexiko nie bauen, dennoch bekam er 2020 noch mehr Stimmen als 2016 (und verlor dennoch gegen Joe Biden).Trump gab denen, die sich verachtet fühlten, eine Stimme, und zwar nicht irgendeine: eine trotzige, aggressive, beleidigende, eine, die den Zorn ausdrückte, den seine Wählerinnen und Wähler in sich tragen. Trump befriedigte das Bedürfnis nach Widerspruch, Widerständigkeit und Aufbegehren.
Auch der Wahlkampf zu den französischen Präsidentschaftswahlen 2022 zeigt erstaunliche Entwicklungen. Man versteht sie besser, wenn man die Theorie im Auge behält, wonach dem Rechtspopulismus eher ein Lebensgefühl und eine-verbitterte-Sicht auf die Welt zugrunde liegen als ein traditionelles politisches Programm: Marine Le Pen hat plötzlich Konkurrenz bekommen. Ein Jahrzehnt lang arbeitete sie daran, für immer größere Kreise wählbar zu sein und nicht länger "verteufelt" zu werden. Sie warf Antisemiten aus der Partei, verabschiedete sich von illusorischen Forderungen-etwa dem Austritt aus dem Euro-und milderte ihre Rhetorik. Ihre Anhänger sahen zufrieden dabei zu, wie sehr Le Pens Erfolg die etablierten Parteien beunruhigte.
Plötzlich jedoch wenden sie sich einem anderen Rechten zu. Er heißt Éric Zemmour, ist ein Intellektueller mit jüdisch-algerischen Wurzeln und repräsentiert die Antithese zu Le Pens Anstrengungen um ein moderates politisches Erscheinungsbild. Zemmour spielt mit Antisemitismus, ist wegen Verhetzung und rassistischer Diskriminierung verurteilt und steht derzeit erneut vor Gericht, weil er über unbegleitete Einwanderer gesagt hat, sie seien "Diebe, Vergewaltiger und Mörder".Eine überwältigende Mehrheit spricht Zemmour ab, über die Statur eines Präsidenten zu verfügen - und dennoch ist er drauf und dran, Marine Le Pen den Rang als rechter Herausforderer von Präsident Macron abzulaufen.
Le Pen hat es verabsäumt, dem Wunsch des rechtspopulistischen, rechtsextremen Lagers (die Grenze zwischen den beiden ist fließend) nach Provokationen und Tabubrüchen ausreichend nachzukommen.
So funktioniert eine Bewegung, deren Antrieb eine Emotion, und nicht so sehr eine politische Absicht ist.
Das macht den Rechtspopulismus allerdings um nichts weniger gefährlich. Nicht immer sabotieren dessen Protagonisten einander gegenseitig. Sind sie tatsächlich lange genug an der Regierung, machen sie sich auch daran, ihre Ideen umzusetzen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ist dafür ein Paradebeispiel.
Am Ende sind jedoch die Anforderungen, die Rechtspopulisten an ihre Anführer stellen, ein reales Hindernis. Marine Le Pen behielt recht, als sie 2011 gegenüber profil behauptete, sie sei nicht so leicht zu verteufeln wie ihr Vater. Doch genau das wird ihr jetzt möglicherweise zum Verhängnis.