Ausblick auf "Villa Baviera" (Bavaria Village), das ehemalige Siedlungsgebiet der Colonia Dignidad.

Sektenterror: Das Martyrium einer Österreicherin in der "Colonia Dignidad"

44 Jahre wurde eine Österreicherin in der „Colonia Dignidad“ festgehalten: jenem berüchtigten Lager im Süden Chiles, wo der deutsche Prediger Paul Schäfer gemeinsame Sache mit den Folterern des Pinochet-Regimes machte

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44 Jahre wurde eine Österreicherin in der „Colonia Dignidad“ festgehalten: jenem berüchtigten Lager im Süden Chiles, wo der deutsche Prediger Paul Schäfer gemeinsame Sache mit den Folterern des Pinochet-Regimes machte.

Hier also endet eine Reise durch die Unfreiheit, an der eine Familie und ein halbes Dutzend Menschen zerbrochen sind, die mehr als 40 Jahre dauerte und um die halbe Welt führte. Hier: in einer kargen Wohnung am Rand von Graz, deren zwei Zimmer viel zu klein sind für all die Erinnerungen, die aus der Dämmerung kriechen, wenn es Abend wird.

Da ist der Ozeandampfer, Kurs Süd. An Bord junge Menschen, sie singen und beten. Annemarie Frantz (Name von der Redaktion geändert) sieht das Schiff, als wäre es gestern gewesen.

Da ist das Landgut in der Einöde von Chile. Da sind die Stacheldrahtzäune und die Männer mit den Hunden. Die erzwungenen Beichtgespräche.

Der stechende Geruch des Desinfektionsmittels, die Injektionsnadel im Arm, die tödliche Müdigkeit nach den Elektroschocks.

Der Geliebte, als Strafe für einen Fluchtversuch blutig geschlagen. Die Nachricht aus Österreich: der Vater gestorben und begraben, ohne seine Tochter noch einmal gesprochen zu haben.

Zwei Drittel Leben

Annemarie Frantz ist eine Frau mit dem scheuen Lächeln eines jungen Mädchens und der Porzellanhaut einer Klosterschwester. Geboren in Kärnten, aufgewachsen in der Steiermark, mit 16 aus Europa nach Südamerika ausgewandert, auf dem Pilgerweg in ein gelobtes Land. Ins vermeintliche Paradies.

Sie ist jetzt 61 Jahre alt. 44 davon hat sie in der Colonia Dignidad verbracht, einem Sektenlager in Chile, dessen Führer Paul Schäfer gemeinsame Sache mit dem Pinochet-Regime machte. In der Colonia Dignidad wurden mehr als 300 evangelikale Heilssucher aus Europa als Sklaven gehalten und dutzende Gegner der Militärjunta abgeschlachtet wie Vieh. Es wurden medizinische Experimente durchgeführt und Menschen verstümmelt, Kinder missbraucht und Waffen versteckt.

Im Jahr 1962 kam Annemarie Frantz in Südamerika an. Erst heuer, im Jahr 2006, schaffte sie es, sich aus der Sekte zu befreien und gemeinsam mit ihrem Mann Johann (Name geändert) nach Österreich zurückzukehren.

44 Jahre: Das sind mehr als 500 Monate Angst, Schrecken und Ausweglosigkeit; fast 2300 Wochen, in denen sich der Irrsinn, der kaum merklich begonnen hatte, nach und nach zum Exzess steigerte; 16.000 Tage, an denen es letztlich nur noch darum ging, selbst bei Verstand zu bleiben. Zwei Drittel ihres Lebens, die nicht ihr selbst gehört haben, sondern jemand anderem: Schäfer.

Paul Schäfer, geboren 1921 in Nordrhein-Westfalen. Fotos, die nach seiner Verhaftung im Jahr 2005 aufgenommen wurden, zeigen ihn als Greis mit mildem Gesicht, das so gar nicht aussieht, als gehöre es zu einem verrückten Sektenführer.

Selbst seine Opfer suchen bis heute nach einer vernünftigen Erklärung dafür, wie dieser Mann über so lange Zeit so viel Macht über so viele Menschen ausüben konnte. Eine gedrungene Gestalt, gerade einmal 1,68 Meter groß. Seit früher Kindheit fehlte ihm ein Auge, es heißt, er habe es sich in einem Wutanfall selbst ausgestochen. Kein Schulabschluss, im Zweiten Weltkrieg Sanitäter der Wehrmacht, danach Gehilfe eines Jahrmarktgauklers.

Er suchte nach Möglichkeiten, seine pädophilen Neigungen auszuleben. Er fand sie als Jugendbetreuer, Erzieher und Heimleiter. Wenn er ertappt und gekündigt wurde, zog er weiter.

Vor den Anhängern, die er im Laufe der fünfziger Jahre nach und nach um sich scharte, konnte er seine Abgründe verstecken. Denn Schäfer verstand es, zu predigen und die Bibel zu seinen Zwecken auszulegen, in süßen Worten. Auf seine Anhänger übte er eine nahezu hypnotische Wirkung aus.

Mitte der fünfziger Jahre kaufte er ein eigenes Anwesen in der Nähe von Bonn, das "Haus Heide", und gründete die "Private Sociale Mission".

1955 reiste Schäfer auf Einladung steirischer Protestanten, die ihn in Deutschland kennen gelernt hatten, nach Graz. Dort lernten ihn die Eltern von Annemarie Frantz, eine Familie gläubiger Freikirchler mit insgesamt sieben Kindern, kennen.

Ausgeliefert

Wie es dazu kam, dass sie von ihrer Familie der Sekte ausgeliefert wurde, konnte Annemarie Frantz erst Jahrzehnte später rekonstruieren. Das "Haus Heide" der "Privaten Socialen Mission" diente nach außen hin ganz wohltätigen Zwecken: der Fürsorge für Kriegswaisen und schwer erziehbare Kinder.

Derlei Aktivitäten, getragen von christlicher Nächstenliebe, fanden im evangelikalen Milieu der fünfziger Jahre Gefallen. Die drei ältesten Töchter der Familie Frantz reisten nach Deutschland, um mitzuhelfen. Annemarie, ihre Zwillingsschwester und der Vater, Gärtner von Beruf, folgten.

Schäfer nahm ihnen regelmäßig die Beichte ab, wie allen anderen. Niemand, sagte er, dürfe ein Geheimnis haben: "Alles muss ans Licht. Denn Jesus ist das Licht." Nichts sollte ihm verborgen bleiben - vor allem keine Seelenregung, die Schäfer später zur Erpressung benutzen konnte.

"Keine Mädchen!", predigte er. "Kein Kino! Keine Selbstbefriedigung! Alles das ist vom Teufel!"

1960 besuchten Annemaries Mutter und ihr jüngerer Bruder das "Haus Heide", sie wollte ihren Mann wieder nach Hause holen. Schäfer machte Druck: Das erlaube er nur, wenn der Bub bleibe. In Südamerika warte eine große Zukunft, er würde vorerst einmal die Kinder mitnehmen, die Eltern seien herzlich eingeladen, möglichst bald nachzukommen.

Vater und Mutter Frantz fuhren in die Steiermark zurück, um das Haus zu verkaufen, das sie erst kurz zuvor gebaut hatten. Sechs ihrer Kinder waren jetzt in der Obhut Schäfers. Dieser wurde inzwischen wegen Missbrauchs per Haftbefehl gesucht.

Er erzählte seinen Anhängern von einem Traum: ein russischer Stiefel, der Europa zertrete. Es bleibe nur die Flucht über das Meer. Dort werde man glücklich leben und soziale Werke tun. Wenig später setzte er sich nach Chile ab.

Mit einem der ersten Transporte überquerten Annemaries ältere Schwestern und ihr Bruder den Atlantik. Im Jänner 1962 standen auch sie selbst und ihre Zwillingsschwester im Hafen von Genua an Deck des Passagierdampfers Marco Polo, fünf Stockwerke hoch, mit elegant geschwungenem, weißen Kiel und rot gestrichenem Schornstein. Annemarie blickte auf den Pier hinunter und sah zu, wie Europa langsam entschwand.

Hinüber, hinunter

Es war eine ruhige Atlantikpassage. Die Straße von Gibraltar, Teneriffa, die Karibik. Dann durch den Panamakanal in den Pazifik, die Küste Südamerikas entlang. Unter den 300 Passagieren der Marco Polo befanden sich 72 Gläubige aus der "Privaten Socialen Mission". Die jungen Mädchen, darunter Annemarie, halfen den Familien mit Kindern und machten sich an Bord nützlich.

Jeden Abend mussten sie ihre Verfehlungen in "Vorkommnis-Hefte" eintragen. Schäfers Leute würden die Kladden einsammeln. Später hatte man sich für die Untaten zu verantworten, öffentlich, vor der Gemeinde.

"Schuhe nicht geputzt", schrieb Annemarie zum Beispiel hinein. Oder: "Zu gierig gewesen beim Essenfassen." Wer sich keiner Sünde bewusst war, tat gut daran, eine zu erfinden. Einen Tag ohne Schuldbekenntnis hätte Schäfer nicht akzeptiert.

Äquatortaufe vor Ecuador, Landgang in Lima. Dann der Hafen von Valparaiso, Chile. Es ging mit dem Bus weiter Richtung Süden, die Panamericana hinunter. Die Häuser wurden ärmlicher, die Siedlungen seltener. Die letzte Stadt, die Annemarie Frantz für die nächsten 44 Jahre sehen sollte, hieß Parral, Provinz Linares, 300 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt. Der Dichter Pablo Neruda war hier geboren worden, er würde 1971 den Literaturnobelpreis erhalten, aber das hat sich in der Colonia Dignidad nie herumgesprochen.

Vierzig Kilometer weiter lag das Maquinatal, der Blick zerniert von Bergen mit tödlich weißen Flanken. Die erste, provisorische Unterkunft für die deutschen Siedler: eine Baracke aus roh zusammengezimmertem Rundholz. Ein Raum für alle, Frauen und Männer gemeinsam. Noch.

Zeit des Aufbaus

Felder mussten urbar gemacht, Wälder gerodet, Häuser gebaut, ein Spital errichtet werden, "Totalaufbau", nannte es die Sekte. "Leute, ich sag es euch, es ist ein neues Zeitalter angebrochen", schrieb eine Siedlerin in einem Brief begeistert nach Deutschland.

Dieses neue Zeitalter kam mit neuen Regeln: keine Geburtstagsfeiern mehr, keine kirchlichen Feste, den Weihnachtsmann ließ Schäfer symbolisch im Fluss ertränken. Uhren gab es nur für wenige Privilegierte. Frische Unterwäsche einmal die Woche. Strikte Trennung von Eltern und Kindern, Männern und Frauen, neue Formierung nach Geschlecht und Alter.

Gruppeneinteilung der Männer: Edelweiser, Keile, Heilsarmee, Askaris, Mittlere Knappen, Große Knappen, Herren.

Einteilung der Frauen: Spechte, Falken, Vögel, Halalis, Dragoner, Frauengruppe, Omagruppe.

Beichtzwang für alle. Absolutes Verbot von Sexualität. Heirat nur mit Ausnahmegenehmigung. Die Ehe, predigte Schäfer, sei "Fleischespest" und daher abzulehnen. Lieber ließ er bedürftige chilenische Familien dazu überreden, der Sekte ihre Kinder zur Adoption freizugeben.

Die Erwachsenen waren als "Tante" oder "Onkel" anzusprechen, er selbst als "tio permanente", also immerwährender Onkel, später auch als "Professor", "Pius" und "Heiliger Vater".

Ein Klüngel von rund zehn Getreuen wachte über die Gemeinde. Wer sich den Regeln widersetzte, wurde bestraft, anfangs mit Schlägen, später auch durch Psychopharmaka und Elektroschocks.

Gearbeitet wurde rund um die Uhr, in der Landwirtschaft, in der Mühle, der Bäckerei, der Steinbrechanlage. Annemarie war als Schwester im Spital der Colonia Dignidad tätig, wo Bedürftige aus der Umgebung kostenlos behandelt wurden. "Wenn etwas Gutes aus all den Jahren bleibt, dann das", sagt sie heute, "dass im Krankenhaus tatsächlich tausenden armen Menschen geholfen wurde."

Vor den wenigen Stunden Nachtruhe, die er seinen Anhängern gönnte, hielt ihnen Schäfer stundenlange Predigten, Teilnahme war Pflicht. Wenn er, was vorkam, selbst dabei einnickte, blieb die Gemeinde still sitzen und wartete, dass er wieder aufwachen und weitersprechen möge. "Wer bin ich für euch?", fragte er, und die Antwort hatte zu lauten: "Führer, Helfer, Wundertäter."

Den - seltenen - Besuchern führte Schäfer eine rustikale Idylle vor: kernige Männer, Frauen mit Dutt. Blasmusik und Schuhplatteln. Eine heile Welt.

Er selbst ließ sich ständig von zwei jungen Knaben begleiten, den so genannten "Sprintern". In seinem privaten Badehaus verging er sich an ihnen.

In der Falle

Es wurde Sommer, Herbst und Winter, es wurde 1963 und 1964, aber die Eltern von Annemarie Frantz waren noch immer nicht in Chile angekommen. Schäfer hatte dafür gesorgt, dass sie auch nicht mehr kommen würden. Vater Frantz, ein einfacher Mann, soll dem Prediger bei einer Beichte in Deutschland sexuelle Verfehlungen gestanden haben. Die Sekte erstattete in Österreich Anzeige gegen ihn und löste damit ein Verfahren zum Entzug des Sorgerechts aus.

Da sei nie etwas gewesen, beteuert Annemarie heute, ihr Vater sei unschuldig unter Verdacht geraten. Dass er schließlich sogar drei Jahre ins Gefängnis musste, sollte sie erst Jahre später erfahren.

Der Mann verurteilt, das Haus zu einem schlechten Preis verkauft, der Weg nach Südamerika versperrt: Mithilfe eines Rechtsanwalts versuchten die Eltern, wenigstens die Rückgabe der drei Minderjährigen zu erzwingen. Die Zeitungen titelten: "Grazer Kinder in Chiles ,KZ'".

Schäfer konterte mit Einsprüchen, Eingaben und falschen Behauptungen. Die Geschwister würden sich verzweifelt dagegen wehren, zurückkehren zu müssen. Die Zeitungen titelten: "Chilekinder unter Druck: Sie drohen nun mit Selbstmord".

Am Ende siegten die Eltern. Und verloren. Als die Polizei zur Colonia Dignidad kam, um die Kinder abzuholen und nach Österreich zu bringen, gaukelten Schäfers Leute den Minderjährigen vor, die Beamten seien gekommen, um sie zu verhaften und ins Gefängnis zu werfen. Sie müssten sich rasch verstecken.

Nach erfolgloser Suche ging die Polizei wieder. Bald darauf waren die "Chilekinder" in Österreich vergessen.

Der Zaun. Sie bauten den Zaun 2,80 Meter hoch, rammten 8000 Betonpfeiler in den Boden, die Krone nach innen geneigt, dazwischen spannten sie Stacheldraht. Offiziell diente die Barriere dazu, streunende Tiere von der Siedlung fernzuhalten. Errichtet wurde er aber, nachdem ein erster Bewohner der Siedlung, Wolfgang Müller, geflüchtet war und der Öffentlichkeit sowie der deutschen Botschaft von den Zuständen in der Colonia Dignidad berichtet hatte.

"Die Kinder werden furchtbar geschlagen ... Die Mama war auch schon ein Jahr und zehn Monate eingesperrt ... Sie ist auch fast nur noch Haut und Knochen", heißt es auch in einem Brief aus der Siedlung, der es irgendwie durch die Zensur der Sekte geschafft hat.

Das war 1966.

Vier Jahre später wurde der Sozialist Salvador Allende Präsident von Chile, unter den Landbesitzern ging die Angst vor der Enteignung um. Rechte Militärs gründeten den "Frente Nacionalista Patria y Libertad" ("Nationalistische Front Vaterland und Freiheit"), um die Linksregierung zu stürzen. Die Colonia Dignidad bewaffnete sich. Die Interessen beider ergänzten einander. Schäfers Leute und die Offiziere begannen zu kooperieren. Am Zaun patrouillierten jetzt Männer mit Hunden und Gewehren.

Als Allende im Jahr 1973 von Augusto Pinochet weggeputscht wurde, waren die Sektenführer und die Militärjunta längst eng verbunden. Es ging gegen die Gefahr des Kommunismus, gegen linke Unterwanderung, gegen die Gottlosigkeit. Und da war jedes Mittel recht.

Man profitierte voneinander. Der Geheimdienst Dina (Dirección de Inteligencia Nacionál) schaffte Oppositionelle in die Abgelegenheit der Colonia Dignidad, die inzwischen über mehr als 15.000 Hektar Grund verfügte. Dort entstanden geheime unterirdische Verhörzellen und Verliese, von denen anfangs nur die vertrauenswürdigsten Siedler erfuhren.

"Die Colonia Dignidad diente der Dina als örtliches Haftzentrum, als Folterschule, als Vernichtungslager, als Kommunikationskanal zum Ausland, als Schmuggelzentrum und als Platz für Schießübungen", schreibt Friedrich Paul Heller in seinem Buch "Lederhosen, Dutt und Giftgas".

Pinochet revanchierte sich mit der Erteilung von Privilegien: Steuer-und Zollfreiheit, Befreiung vom Wehrdienst und von den Arbeitsgesetzen, Erteilung von Schürfrechten.

Schäfer lernte: Mithilfe der Militärs konnte er die Überwachung und Gängelung seiner Anhänger, die längst zu Gefangenen geworden waren, perfektionieren. Er bekam Mikrofone, um ihre Gespräche zu belauschen. Kameras, um den Zaun zu überwachen. Waffen, um Flüchtige zu jagen. Das interne Spitzelwesen tat sein Übriges. "Mit niemandem konnte man über etwas reden. Immer musste man Angst haben, verraten zu werden", sagt Annemarie Frantz heute.

Dafür wurde viel gesungen: "Du mein liebes Maquinatal / wo der Perqui so heimisch rinnt / wo wir abends im Zippelhaussaal / in froher Runde beisammen sind." Es war unabdingbar, die Chöre gut bei Stimme zu halten: Ihre Lieder mussten es übertönen, wenn sündig gewordene Sektenmitglieder unter der Strafe vor Schmerz brüllten.

Teufel der Lust

Als man sie auf der Krankenstation unterhakte und Doktor Seewald die Injektion fertig machte, wusste Annemarie Frantz, was nun kommen würde. Ihr war nach einem Tanz eine verbotene Affäre mit einem Mann nachgesagt worden.

Seewald würde sie narkotisieren und ihr dann Elektroschocks in den Kopf jagen, um ihr den Teufel der Lust auszutreiben. Annemarie hatte gesehen, wie diese Behandlung an anderen praktiziert wurde.

Denken, sobald ich wieder aufwache, schwor sie sich. Nicht vergessen. Sofort zu denken beginnen.

Als es wieder hell um sie wurde, glaubte sie, ihr Schädel sei aus Brei und sie müsse sterben vor Müdigkeit. Aber sie hatte ihre Erinnerung behalten.

Danach habe sie Schäfer "ordentlich die Meinung gesagt", erzählt Annemarie Frantz heute: Angeschrien habe sie ihn sogar, dass er so etwas mit ihr kein zweites Mal machen dürfe. Aber Schäfer habe sich bloß umgedreht und sei wortlos weggegangen.

Ende vergangenen Jahres legte Dr. med. Gisela Seewald, Leiterin des Krankenhauses der Colonia Dignidad, inzwischen 75 Jahre alt, dem chilenischen Untersuchungsrichter Jorge Zepeda gegenüber ein Geständnis ab: Ja, sie habe in den siebziger Jahren dutzende Menschen mit Beruhigungsmitteln und Elektroschocks traktiert, wenn sie sich den Anordnungen der Sektenführung widersetzten. Darunter seien auch Kinder gewesen, die sich den sexuellen Bedürfnissen Schäfers gegenüber widerspenstig gezeigt hatten. Frau Dr. Seewald wurde daraufhin in Haft genommen.

Fluchtversuche

Dachte Annemarie Frantz an Flucht? Doch, jeden Tag. Aber der Zaun war hoch, die Bewachung scharf, der Weg in die nächste Siedlung weit. Das Geld hatte Schäfer in der Colonia Dignidad abgeschafft, das Spanischlernen verboten. Und diejenigen, die ausbrechen wollten, wurden bald eingefangen und zurückgebracht. Dann musste der Chor wieder lauthals singen.

Ihr jetziger Mann, Johann, hat es einmal fast geschafft. Er kam 150 Kilometer weit, bis auf das deutsche Konsulat in der Stadt Concepción. Dort aber stöberten ihn die Leute der Sekte rasch auf. Sie versprachen ihm Geld für die Rückreise nach Deutschland und lockten ihn mit diesem Trick zurück in die Siedlung. Er blieb. Erst geschah ihm nichts, als Elektriker war er zu wertvoll. Aber ein paar Monate nach dem Fluchtversuch fielen Schäfer und seine Männer über ihn her und zerschlugen ihm das Gesicht.

Es schien aussichtslos zu entkommen. So wurden für Annemarie Frantz aus Jahren Jahrzehnte, die Erinnerung an die Welt draußen begann zu verblassen. Arbeiten, singen, beichten. Angst haben: vor Schäfers Leuten, vor Verrat, vor Bestrafung.

1982 lag der Leichnam von Annemaries Vater tagelang in Österreich in der Aufbahrungshalle. Der alte Mann war auf der Straße zusammengebrochen und gestorben, "aus Gram", wie die Tochter heute sagt. Die Mutter hatte den Kindern in Chile ein Telegramm geschickt und wartete darauf, dass sich jemand melden würde. Sie wartete vergeblich. Die Nachricht wurde von Schäfers Leuten zwei Wochen zurückgehalten - so lange, bis sie sicher sein konnten, dass das Begräbnis vorbei war. Annemarie Frantz war jetzt Ende dreißig. Sie hat ihren Vater nie mehr gesehen.

Das Ende der Macht

Obwohl immer mehr über den Wahnwitz in der Colonia Dignidad bekannt wurde, obwohl Amnesty International die Sekte international anprangerte und auch die deutschen Behörden zu intervenieren begannen, bekam Schäfers Macht erst Anfang der neunziger Jahre Risse. Die Pinochet-Diktatur endete, die Colonia Dignidad verlor ihre Privilegien, eine Wahrheitskommission begann, sich für die Rolle der Sekte zu Zeiten der Militärjunta zu interessieren, Folterungen und Hinrichtungen kamen ans Licht.

Annemarie Frantz sagt, sie habe erst nach und nach erfahren, was während der Pinochet-Diktatur am Areal der Sekte geschehen sei: "Nichts, nichts, nichts habe ich gewusst, und als ich davon gehört habe, konnte ich nur noch weinen."

1997 setzte sich Schäfer nach Argentinien ab, ein alter Mann, der nur mehr eine Hand voll Getreue auf seiner Seite hatte. Erst jetzt lockerte sich der eiserne Griff der Sektenführung ein wenig.

2003 kam Annemaries Mutter auf Besuch nach Chile. Der alten Frau gefiel es in der Siedlung. Sie blieb vorerst dort. Es kamen auch Polizisten und Psychologen. Das Tor zur Welt öffnete sich wieder.

2004 wagten es Annemarie Frantz und Johann zu heiraten. "Zuvor waren wir nicht auf dem Niveau gewesen zu dürfen", sagt sie heute.

2005 wurde Paul Schäfer in Argentinien verhaftet und nach Chile gebracht. Die jahrelange Vorarbeit dafür war von Wolfgang Müller - dem ersten Flüchtling der Colonia Dignidad, heute heißt er Kneese - und dem Verein "Flügelschlag" geleistet worden.

2006 kehrten Annemarie Frantz, ihr Mann, ihre Mutter und eine ihrer Schwestern nach Österreich zurück.

Zwei freundliche, ältere Menschen in einer kleinen Wohnung bei Graz: Sie wirken ein bisschen, als gehörten sie nicht ganz in die Gegenwart. Und sie tun sich schwer mit der modernen Welt. Neulich war ein Vertreter da, der ihnen fast Computerkurse um 2000 Euro aufgeschwatzt hätte, wo sie doch von ein paar hundert Euro Sozialhilfe im Monat leben. Es kommen Briefe, in denen es um die Umstellung auf Digitalfernsehen geht. Lotterien versprechen Millionengewinne. Vieles ist rätselhaft, wenn man so viele Jahre in einer Zeitblase verbracht hat.

Und dann ist da immer noch Angst: Vor dem langen Arm der Sekte, vor jenen Familienmitgliedern, die immer noch mit der Colonia Dignidad sympathisieren. So quälen sich Annemarie und Johann Frantz durch die Erinnerungen an ein geraubtes Leben.

Als Paul Schäfer nach seiner Auslieferung an Chile zum ersten Mal von Polizeibeamten vernommen wurde, lächelte er.

Und er sprach zu ihnen: "Ich habe alles vergessen."