Lebensmittelblockade in Gaza: „Werden wir etwas zu essen haben?“

Von Robert Treichler
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Wenn Riham Adwan, 29 und Mutter von Hanan (7), Tawfiq (5) und Ayan (2), das karge Essen für ihre Familie zubereitet, steigt ihr der Rauch des kleinen offenen Feuers in die Augen, das sie mit ein wenig Holz und Karton am Flackern hält. Gas zum Kochen gibt es keines mehr. Reis und Nudeln sind auch zur Neige gegangen, und bald werden die Dosenbohnen, das Öl und das wenige frische Gemüse aufgebraucht sein. All das haben Riham und ihr Ehemann Mahmoud gehortet, als Mitte März der zweimonatige Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel endete. Sie ahnten, dass schlechte Zeiten anbrechen würden. Doch dass ihre Lage so aussichtslos werden könnte, wie sie jetzt ist, das war nicht abzusehen.
profil hält mit Riham Adwan seit mehr als einem Jahr so gut es geht über WhatsApp Kontakt. Die palästinensische Familie aus Gaza-Stadt ist seit Ausbruch des Krieges innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht. Die Adwans folgten den jeweiligen Anweisungen der Israelischen Streitkräfte (IDF) und zogen erst nach Khan Yunis, später nach Rafah, dann wieder nach Khan Yunis. Jetzt sind sie in Deir al-Balah, einer Stadt im Zentrum des Gazastreifens, die nach den Dattelpalmen benannt wurde, die für sie typisch sind. Jetzt herrscht hier wie überall im Gazastreifen Hunger.
Die Blockade wird verhängt
Die 29-Jährige schrieb in den vergangenen Monaten fast immer, dass es ihr und ihrer Familie den Umständen entsprechend gut gehe – „I and the family are fine“. Doch jetzt sind ihre Nachrichten voller Sorge. „Was machen wir, wenn die Vorräte zu Ende sind? Werden wir etwas zu essen haben?“, schreibt sie am Mittwoch der abgelaufenen Woche.
Dass gerade jetzt, mehr als 550 Tage nach Kriegsbeginn, die Lebensmittelversorgung des Gazastreifens zusammenbricht, hat einen einfachen Grund: Seit mehr als einen Monat blockieren die IDF alle humanitären Lieferungen in den Gazastreifen. Damals war die erste Phase des Waffenstillstands ausgelaufen, und die israelische Regierung und die palästinensische Terrororganisation Hamas konnten sich nicht einigen, wie weiter vorzugehen sei. Zudem provozierte die Hamas die israelische Regierung auf besonders perfide Weise. Sie veröffentlichte etwa ein Video, das zwei Geiseln zeigte, die bei der Freilassung von anderen Geiseln zusehen mussten und flehten, selbst freikommen zu dürfen. Insgesamt hatte die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 251 Menschen entführt. 59 befinden sich noch in ihrer Gewalt, 34 von ihnen sollen laut IDF bereits tot sein. Freigekommene Geiseln berichten über unmenschliche Haftbedingungen, Hunger und Folter.
„Premierminister Netanjahu hat entschieden, dass seit heute Morgen die Lieferung von Waren und Vorräten nach Gaza gestoppt wird“, verlautbarte die israelische Regierung am 2. März. Die Blockade hatte zunächst keine unmittelbaren Folgen, denn während des Waffenstillstands waren große Mengen an Gütern von Hilfsorganisationen in den Gazastreifen transportiert worden. Doch allen war klar, dass ein längerer Lieferstopp in eine Katastrophe münden würde. Am 1. April gab das Welternährungsprogramm (WFP), eine UN-Organisation, bekannt, dass alle 25 Bäckereien, die es im Gazastreifen unterstützte, geschlossen werden mussten. Gas und Mehl waren aus. Die letzten Lebensmittelpakete würden „in den kommenden zwei Tagen“ ausgegeben. Die Verteilung von warmen Mahlzeiten werde immerhin noch „maximal zwei Wochen“ möglich sein.
Am Mittwoch, eine Woche später, erklärte Martin Frick, Direktor des Berliner WFP-Büros, gegenüber profil, dass „die wenigen Vorräte in Gaza nur noch wenige Tage für den Betrieb von mobilen Küchen“ reichen würden. „Dann bleiben lediglich angereicherte Kekse und Dattelriegel, die wir an die notleidende Bevölkerung verteilen können.“
Was sagt die Justiz?
Riham Adwan schreibt, sie hält sich von Essensverteilungen fern. Das Gedränge vor den Ausgabestellen sei enorm, die Chance, etwas zu bekommen, gering. Außerdem fürchtet sie, beim Warten Opfer eines israelischen Angriffs zu werden. Tatsächlich kamen am Montag sieben Menschen, darunter ein kleines Mädchen, in unmittelbarer Nähe einer Suppenküche bei einem Luftschlag ums Leben.
Auch die Märkte sind so gut wie leer. Wenn es doch noch etwas zu kaufen gibt, sind die Preise astronomisch. Der Preis von Weizenmehl ist innerhalb weniger Wochen um 450 Prozent gestiegen. Auch die Wasserversorgung ist zusammengebrochen, sodass laut Erhebungen von humanitären Organisationen 36 Prozent der Haushalte nicht über die tägliche Minimalration verfügen.
Was will die israelische Regierung mit dieser Blockade erreichen?
Erstens soll die Lebensmittelknappheit den Druck auf die Hamas erhöhen, damit diese eher einwilligt, weitere Geiseln freizulassen und einem entsprechenden Plan des US-Sondergesandten Steve Witkoff zuzustimmen. Dieser Versuch blieb bisher erfolglos. Vielmehr verlangen laut einer aktuellen Umfrage 69 Prozent der israelischen Bevölkerung von Netanjahu einen Deal, der die Freilassung aller Geiseln im Abtausch für ein Kriegsende beinhaltet.
Zweitens beschuldigt Premier Benjamin Netanjahu die Hamas, „alle Güter, die in den Gazastreifen geschickt werden, zu kontrollieren und die humanitäre Hilfe in ein Kapital für Terrorismus zu verwandeln“. Es ist richtig, dass die Hamas Hilfsgüter raubt und zu ihrer eigenen Versorgung verwendet. Aber rechtfertigt das die Einstellung jeglicher Lebensmittellieferungen für mehr als zwei Millionen Menschen?
Diese Frage sollte eigentlich den Obersten Gerichtshof des Staates Israel beschäftigen, denn bereits im März 2024 brachten fünf israelische Menschenrechtsorganisationen einen Antrag auf einen Gerichtsbeschluss ein, der die Lieferungen humanitärer Hilfe nach Gaza erlauben und den Umfang der Unterstützung erhöhen sollte.
Doch die israelische Regierung argumentiert, sie sei überhaupt nicht zu Hilfslieferungen verpflichtet, da das internationale Recht lediglich Besatzungsmächten vorschreibe, die Versorgung der Zivilbevölkerung sicherzustellen. Gaza sei jedoch nicht von Israel besetzt. Dem widerspricht eine nicht-bindende Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag aus dem Juli 2024, wonach das Besatzungsrecht auf Gaza anzuwenden sei.
Die israelische Regierung geht noch einen Schritt weiter. Nachdem sie die Lebensmittelblockade in Gaza verhängt hatte, teilte sie dem Obersten Gericht mit, dass ein solcher Beschluss „außerhalb der Kompetenz des Rechts“ liege. Die Entscheidung betreffe die Außen- und Sicherheitsbeziehungen des Staates Israel, und nur die Regierung allein sei dafür zuständig.
Das Gericht folgte in wesentlichen Punkten der Meinung der Regierung. Gaza sei nicht unter „tatsächlicher Kontrolle“ Israels, die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung also nicht Aufgabe des Staates Israel. Explizit enthielt sich das Gericht einer Bewertung, ob die totale Lebensmittelblockade rechtmäßig sei.
Internationaler Druck
Aber selbst wenn die israelische Justiz der Regierung in der Frage der Blockade freie Hand lässt, bleibt immer noch der internationale Druck auf Netanjahu. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron forderte bei einem Treffen mit seinem ägyptischen Amtskollegen Abdel Fattah al-Sisi am Montag auf der Halbinsel Sinai die Wiedereröffnung der Grenzübergänge zum Gazastreifen für Hilfsgüter. Der Internationale Gerichtshof verfügte bereits in einer vorläufigen Entscheidung in der sogenannten Genozid-Klage Südafrikas gegen Israel, dass die israelische Regierung humanitäre Hilfe in Gaza ermöglichen müsse.
Netanjahu hat oft genug bewiesen, dass er internationalen Druck ignorieren kann – egal ob er illegale Siedlungen im Westjordanland für rechtmäßig erklärt, gegen alle Widerstände den Krieg in Gaza fortführt oder sich den Aufforderungen widersetzt, einen Plan für ein Nachkriegs-Gaza vorzulegen. Doch für eine Hungersnot im Kriegsgebiet will er wohl nicht verantwortlich sein. Die israelische Nachrichten-Website „Ynet“ berichtete am Montag, dass die IDF der Regierung klar gemacht hätten, dass sie bald keine andere Wahl haben werde, als Lebensmittel, Treibstoff und medizinische Güter nach Gaza hineinzulassen. Auch die militärische Führung hat kein Interesse daran, internationale Strafverfolgung zu riskieren. Die „Times of Israel“ zitierte eine anonyme Quelle, die bestätigte, dass die IDF „in den kommenden Wochen“ Lieferungen ermöglichen werden.
Wenn dann die Lastwagen mit den Lebensmitteln und anderen Gütern wieder nach Gaza rollen, was hat die Blockade eigentlich gebracht? Keine einzige befreite Geisel, kein Zugeständnis der Hamas bei den Verhandlungen. Nichts, außer dass zwei Millionen Menschen wochenlang noch mehr Schwierigkeiten hatten, sich zu ernähren, als es in der Kriegssituation ohnehin der Fall ist? Und dass es an Impfstoffen, Narkosemitteln und Inkubatoren mangelt?
profil richtete mehrere Fragen an die zuständige Stelle der IDF, bekam jedoch nur eine lapidare Antwort: Die IDF würden „gemäß den Anordnungen der politischen Führung agieren“. Und: „Israel liefert keine Hilfsgüter und wird auch weiterhin keine Hilfsgüter in die Hände terroristischer Organisationen liefern.“
Das klingt wie eine Ankündigung, die Blockade unbefristet aufrechtzuerhalten. Tatsächlich aber verbirgt sich hinter diesem Satz ein Plan, über den die „Times of Israel“ berichtete: Die Idee sei, Hilfslieferungen nur noch in eigens eingerichtete, abgesperrte Gebiete zuzulassen, die von privaten Sicherheitsfirmen bewacht werden. So soll der Hamas Zugriff auf die Güter verwehrt werden. Details, wie auf diese Weise zwei Millionen Menschen versorgt werden sollen, die über den gesamten Küstenstreifen verteilt leben, gibt es bisher nicht.
Familien wie die von Riham Adwan wären schon froh, wenn sie sicher sein könnten, dass es bald wieder Lebensmittel zu kaufen gibt. Aber in welche Zukunft blickt die Bevölkerung von Gaza?
„Freiwillige Abwanderung“
Die Tatsache, dass die israelische Regierung bereit ist, Mangelernährung und Hunger – jedenfalls aber die Angst davor, bald hungern zu müssen und seine Kinder nicht mehr ernähren zu können – als Maßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung einzusetzen, erhärtet einen Verdacht, der seit Langem kursiert: Immer lebensfeindlichere Umstände im Gazastreifen könnten dazu dienen, die „freiwillige Abwanderung“, die Netanjahu den Palästinensern in Gaza nahelegt, zu forcieren.
Am Montag beantworteten Netanjahu und US-Präsident Donald Trump im Oval Office des Weißen Hauses Fragen von Reportern, und dabei brachte Israels Premier erneut seine Idee vor. Er wolle die Palästinenser in die Lage versetzen, „frei zu wählen, dorthin zu gehen, wohin sie wollen“. Donald Trump hatte im Februar verkündet, er wolle Gaza zu einer „Riviera“ machen, nachdem die Bevölkerung nach Ägypten und Jordanien abgesiedelt sei. Die Regierungen beider Länder lehnen dies ab. Aber schon im Oktober 2024 berieten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Konferenz zur Wiedererrichtung von jüdischen Siedlungen im Gazastreifen, was zu tun sei: „Wir müssen hierbleiben. Wir müssen jüdische Siedlungen bauen. Wir müssen den Gazastreifen besetzen“, sagte damals Bezalel Smotrich, Finanzminister in Netanjahus Koalitionsregierung. „Wir können Netzarim wieder aufbauen, wir können nach Hause zurückkehren!“, sagte Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir. Netzarim war eine jüdische Siedlung im Gazastreifen, die beim Abzug Israels im Jahr 2005 geräumt wurde. Ben-Gvir war es auch, der im März, zu Beginn der Lebensmittelblockade, vorschlug, die israelischen Streitkräfte sollten auch gleich die vorhandenen Depots mit Hilfsgütern in Gaza bombardieren.
Lange schien es, als sei die Wiederbesiedlung des Gazastreifens durch Juden ein abwegiger Traum der Rechtsextremen in der Netanjahu-Regierung. Im März hat Verteidigungsminister Israel Katz eine eigene Abteilung in seinem Ministerium eingerichtet, die Vorbereitungen zur „freiwilligen Migration“ der Palästinenser aus Gaza trifft – drei Wochen nach Beginn der Hilfsgüterblockade.
Das Szenario, wonach Israel die palästinensische Bevölkerung so lange in Not und Verzweiflung versetzt, bis immer mehr Menschen bereit sind zu emigrieren, wird realistischer. Nicht zufällig wiesen auch Macron und al-Sisi bei ihrem Treffen einmal mehr darauf hin, dass sie „nachdrücklich gegen eine Vertreibung von Bevölkerungen und gegen jegliche Annexion von Gaza und des Westjordanlandes“ seien.
Israels Verteidigungsminister Katz sagte im März, Erhebungen seines Ministeriums hätten ergeben, dass „mindestens 40 Prozent der Bewohner von Gaza Interesse daran haben, anderswohin zu gehen“. Es ist ein wenig paradox, dass der Minister den angeblichen Ausreisewünschen der Bevölkerung von Gaza so viel Aufmerksamkeit schenkt, während er gleichzeitig für die Blockade ihrer Lebensmitteltransporte sorgt. Haben die beiden Dinge etwas miteinander zu tun? Yossi Klein, ein Kommentator der israelischen Zeitung „Haaretz“, formuliert es so: „Wir wissen, dass sie (die Palästinenser, Anm.) aus Gaza fliehen, aber wir bestehen darauf, nicht zu erfahren, wieso.“

Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur