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Lieferausfall bei AstraZeneca: Hat Brüssel die ganze Sache vermasselt?

Während Israel und das Vereinigte Königreich munter vor sich hin impfen, ist die Europäische Union mit einem gigantischen Lieferausfall des Herstellers AstraZeneca konfrontiert. Hat Brüssel die ganze Sache vermasselt? Nein, argumentieren Joseph Gepp und Robert Treichler.

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Die EU steht plötzlich mit viel weniger Impfstoff da. Was ist passiert?
Vorvergangenen Freitag lief die Schocknachricht über die Nachrichtenagenturen: Das Pharma-Unternehmen AstraZeneca gab bekannt, dass es entgegen den Erwartungen bis Ende März lediglich 31 Millionen anstelle der versprochenen 80 Millionen Impfdosen liefern könne. Es gebe Probleme in der Lieferkette, und zwar bei einem Produktionsstandort in Belgien. Die EU-Kommission reagierte empört und verwies auf einen gültigen Vertrag mit AstraZeneca. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides forderte den britisch-schwedischen Pharma-Konzern auf, die vereinbarte Menge an Corona-Impfstoff „fristgerecht“ an die EU-Staaten zu liefern. AstraZeneca-Chef Pascal Soriot gab seine Antwort in Form eines Zeitungsinterviews, das in mehreren Medien erschien, darunter in der deutschen Tageszeitung „Die Welt“: Sein Unternehmen habe keine exakte Menge garantiert, sondern lediglich seine „bestmöglichen Bemühungen“ (best effort) beteuert, die EU mit Millionen von Impfdosen zu beliefern. Außerdem verwies der AstraZeneca-Konzern, der auch das Vereinigte Königreich beliefert, darauf, dass der Vertrag mit der EU um drei Monate später geschlossen worden sei als der mit London. Deshalb beträfen die Lieferschwierigkeiten die EU, nicht aber das Vereinigte Königreich.

Warum lief der gesamte Prozess in der EU langsamer ab als in anderen Staaten?
Weil die EU kein Staat ist, sondern ein Gebilde von 27 Staaten. Erst musste Konsens darüber hergestellt werden, dass die EU sich um den Kauf des Impfstoffs im Namen aller kümmert – und nicht etwa die einzelnen Mitgliedstaaten. Das hat mehrere Vorteile: Durch die große Menge kann ein niedriger Preis ausverhandelt werden, und die einzelnen Staaten treten nicht in Wettbewerb miteinander, was Preis und Lieferungsdatum betrifft. Wäre dies anders gelaufen, kann man davon ausgehen, dass große und wirtschaftlich potente Staaten wie Deutschland ärmere und kleinere am Käufermarkt verdrängt hätten.

Hat die EU die Kaufverträge zu spät geschlossen?
Der endgültige Vertrag mit AstraZeneca wurde am 27. August 2020 unterzeichnet. Andere Staaten wie etwa die USA und das Vereinigte Königreich waren früher dran: Die US-Regierung von Donald Trump gab am 22. Juli den Abschluss eines Kaufvertrags mit Pfizer und BioNTech bekannt, die britische Regierung unter Boris Johnson soll laut AstraZeneca im Juni handelseins geworden sein. Doch als all diese Verträge geschlossen wurden, gab es die Produkte noch nicht. Immense Vorauszahlungen der Staaten an die Pharma-Unternehmen dienten dazu, den Impfstoff möglichst rasch zu entwickeln und danach zu produzieren. Die EU etwa hielt für AstraZeneca ein Budget von 336 Millionen Euro bereit, das der Pharma-Konzern abrufen konnte, wenn er nach und nach Schritte zur Impfstoff-Herstellung setzte. Der Zeitpunkt der Unterzeichnung des Kaufvertrags ist für dessen Einhaltung irrelevant. Wenn sich AstraZeneca verpflichtet hat, im ersten Quartal 2021 80 Millionen Impfdosen zu liefern, so gilt dies unabhängig davon, was das Unternehmen mit anderen Vertragspartnern – früher oder später – vereinbart hat.

Aber hat sich AstraZeneca zu einer bestimmten Menge verpflichtet oder nicht?
Das behauptet die EU steif und fest. Am Freitag der ablaufenden Woche veröffentlichte die Kommission schließlich den Vertrag mit AstraZeneca. Allerdings war darin ausgerechnet die für das erste Quartal vereinbarte Liefermenge geschwärzt. Ob AstraZeneca also zur Lieferung verpflichtet war, ist wahrscheinlich richtig – ganz sicher wissen wir es jedoch nicht.

Warum darf die Bevölkerung nicht erfahren, was in den Verträgen steht?
Das haben sich die Pharma-Konzerne in den Verhandlungen mit der EU ausbedungen. Auch zur aktuellen Veröffentlichung des Vertrags mit AstraZeneca kam es erst, nachdem der Konzern zugestimmt hatte.

Reagierte die EU nicht ein wenig schroff auf AstraZenecas Warnung, dass es Probleme in einer belgischen Produktionsstätte gebe?
Zu Recht. Eine Woche vor der Zulassung des Impfstoffs bemerkt AstraZeneca, dass es weniger als die Hälfte der Menge liefern kann? Die EU hat seit einem halben Jahr die Produktion des Impfstoffs finanziert – mit dem Geld der europäischen Steuerzahler. Überdies hat die Union eine Abnahmegarantie gegeben, selbst wenn der Impfstoff nicht zugelassen worden wäre. Damit hat AstraZeneca einen Großteil des wirtschaftlichen Risikos auf den Käufer abgewälzt. Die Gegenleistung für all das war, dass das Unternehmen längst auf Halde produzieren hätte sollen. Nun fragt sich die EU zu Recht: Wo ist all der Impfstoff? Außerdem ist es seltsam, dass Großbritannien von dem Engpass überhaupt nicht betroffen ist. Der Regierung von Boris Johnson wurden von AstraZeneca keinerlei Lieferprobleme gemeldet.

Welche Probleme sind es eigentlich, die AstraZenecas Produktion behindern?
Gute Frage. Dazu lieferte der Konzern weder gegenüber der EU noch in öffentlichen Statements befriedigende Antworten. Auch auf profil-Anfrage fiel die Antwort der österreichischen Niederlassung des Konzerns ziemlich allgemein aus: Impfstoffproduktion sei eben „ein hochkomplexer Prozess, besonders unter den außergewöhnlichen Bedingungen und dem enormen weltweiten Bedarf während dieser schweren globalen Pandemie“. Präzisere Angaben waren nicht zu bekommen.

Hätten sich die EU-Mitgliedstaaten doch besser jeder für sich um die Beschaffung des Corona-Impfstoffs kümmern sollen?
Keinesfalls. Abgesehen davon, dass es die Kosten in die Höhe getrieben hätte, wäre ein innereuropäischer Wettbewerb in Gang gesetzt worden. Manche Staaten hätten andere beim Kauf abgehängt, die Bekämpfung der Pandemie in Europa hätte dies nicht genützt. Das hätte unter anderem auch bedeutet, dass Grenzen länger geschlossen bleiben müssen, weil die Pandemie in einigen Staaten bereits weiter eingedämmt ist als in anderen.

Ist nicht Israel ein gutes Beispiel, wie man es machen soll?
Laut israelischen Medien zahlt die Regierung im Vergleich zu der EU etwa den doppelten Preis. Sie sichert sich damit den raschesten Zugang zum Impfstoff. Doch diese Methode ist – wie bei jedem Wettrennen um das höchste Gebot – nicht auf alle anderen Staaten anwendbar. Einer muss der Meistbietende sein. Dass Israel den gekauften Impfstoff dank seiner digitalen Gesundheitsinfrastruktur am effizientesten einsetzt, ist unbestritten.

Warum hinkt die EU bei den Zulassungen der Impfstoffe hinterher?
Es gibt zwei Möglichkeiten, einen Impfstoff auf den Markt zu bringen: eine normale Zulassung mit allen üblichen Erfordernissen – und eine Notzulassung. Das Vereinigte Königreich entschied sich für die zweite Variante, die EU für die erste. Der Vorteil einer Notzulassung ist, dass sie schneller geht, allerdings übernimmt der Staat damit die Haftung für Impfschäden. Außerdem ergeben die höheren Anforderungen eines regulären Zulassungsverfahrens entsprechend mehr Sicherheit für die zu impfende Bevölkerung. Die Dauer der Verfahren in der EU wurde zudem verkürzt, und wie das Beispiel AstraZeneca zeigt,
liegen die Probleme nicht in der Dauer des Zulassungsverfahrens, sondern bei der Herstellung der Impfstoffmengen.

Ist der Hohn über die Performance der EU bei der Beschaffung des Impfstoffs also gerechtfertigt?
Nein. Die EU hat bei den Zulassungsverfahren das Gesundheitsrisiko für die Bürger minimiert, bei den Kaufverträgen einen niedrigen Preis erzielt, gleichzeitig auf Solidarität unter den Mitgliedstaaten geachtet. Zudem hat sie das Risiko gestreut, indem bei insgesamt sechs Pharma-Unternehmen Impfstoff bestellt wurde. Einige davon haben – noch – kein Produkt zur Zulassungsreife gebracht. Doch der Sinn der Streuung besteht ja gerade darin, möglichst viele Eisen im Feuer zu haben. Dass ausgerechnet AstraZeneca zum Zeitpunkt der Zulassung Lieferprobleme hat, dafür ist nicht die EU verantwortlich – ob es sich nun tatsächlich um eine Panne in der Lieferkette des Unternehmens oder um andere Gründe handelt. Das Einzige, was man der EU vorwerfen muss, ist Geheimniskrämerei und Intransparenz beim Ankauf der Impfstoffe.

Und woher kriegen wir nun den fehlenden Impfstoff?
Die EU setzt AstraZeneca so gut es geht unter Druck, den Vertrag einzuhalten. Im Raum stehen Notfallverordnungen, denen gemäß andere Unternehmen die Herstellung des AstraZeneca-Impfstoffs übernehmen könnten. Auch eine Meldepflicht für Exporte von Impfstoff wird diskutiert. Damit hätte die EU einen Beleg dafür, wie viel Impfstoff AstraZeneca liefert – und an wen. Langwierige Vertragsstreitigkeiten sind so ziemlich das Letzte, was man in einer Pandemie braucht. Deshalb werden die Vertragspartner wohl das größte Interesse haben, sich zu einigen, denn für beide – die EU und AstraZeneca – steht in dieser Sache die Reputation auf dem Spiel. Daneben wird die EU die Kooperation mit den anderen Pharma-Unternehmen vorantreiben. Je mehr Produkte auf den Markt kommen, umso weniger wird Europa auf ein bestimmtes Unternehmen angewiesen sein.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur