Liz Truss folgt auf Boris Johnson: Die Eiserne Lady 2.0
Die britische Außenministerin Liz Truss wird die Nachfolgerin von Boris Johnson und neue britische Premierministerin. Das wurde am Montag bekanntgegeben. Sie setzt sich gegen Rishi Sunak bei der parteiinternen Wahl der britischen Konservativen durch.
Dieses Porträt ist am 20. August 2022 erstmals erschienen.
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Im Jahr 2015 klang sie noch so: „Die EU ist und bleibt ein sehr wichtiger Markt für unsere Bauern. Ich möchte das Vereinigte Königreich als Teil einer reformierten EU sehen, in der wir von den Vorteilen des Binnenmarktes profitieren können.“
2022 würde Liz Truss diese Stellungnahme als Häresie ansehen. Die britische Außenministerin ist mit der Zeit gegangen. Sie konvertierte von einer EU-kritischen Remainerin (für den Verbleib in der EU) zu einer ultraharten Brexiteerin.
Das nicht ohne Grund – und auch nicht ohne Erfolg. Denn ihre Metamorphose hat sie von einer Umweltministerin unter Premier David Cameron 2014 zur Justizministerin von Premier Theresa Mays Gnaden 2016 und danach zur Außenministerin unter Premier Boris Johnson aufsteigen lassen.
Jetzt steht die 47-jährige Konservative knapp vor Erreichen des Top-Jobs: Nach allen Umfragen und Analysen wird sie in diesen Tagen von den Mitgliedern der Tory-Partei zur neuen Parteichefin und Nachfolgerin von Boris Johnson gewählt. Gewinnt sie in der Stichwahl gegen Rishi Sunak, den früheren Finanzminister, dann übernimmt sie gleichzeitig Partei und Regierung. Ohne weitere Wahlen zöge sie am 6. September in Downing Street Nummer 10 ein, dem Sitz des Premierministers oder der Premierministerin. Liz Truss wäre nach Margaret Thatcher und Theresa May bereits die dritte Regierungschefin Großbritanniens. Alle drei übrigens Konservative.
Die glücklose Theresa May, die sich von 2016 bis 2019 am Brexitprozess abarbeitete, erwähnt Liz Truss nie. Margaret Thatcher dagegen ist ihr Vorbild. Die legendäre „Iron Lady“, die von 1979 bis 1990 lustvoll gegen Gewerkschaften kämpfte und Britannien privatisierte, wird in konservativen Kreisen nach wie vor verehrt. Ob aus tief empfundener Liebe oder politischem Kalkül – Liz Truss inszeniert sich als Eiserne Lady 2.0 und kleidet sich sogar wie ihr Vorbild.
Zu einer Leadership-Debatte mit den anderen Kandidaten Mitte Juli erschien sie wie einst Margaret Thatcher 1979 in einem Wahlkampf-Clip in weißer Seidenbluse mit großer Seitenschleife und schwarzem Blazer. Ein gewagter Schritt, sich ohne Rücksicht auf Verluste über vier Jahrzehnte in die – konservative – Modegeschichte zurückzukatapultieren.
Doch was tut man nicht alles für eine gelungene Karriere. Truss greift ohne Scheu zu Kälbern, Panzern oder Pelzmützen am Roten Platz in Moskau, wenn sie damit Nähe zu ihrem Vorbild Maggie signalisieren kann.
Der Thatcherismus passt ihr auch inhaltlich. 1982 schickte Margaret Thatcher britische Kriegsschiffe ans andere Ende der Welt. Auf den Falkland-Inseln, die vom britischen Empire übrig geblieben waren, drohte die Übernahme durch Argentinien. Der kleine Krieg außerhalb des Landes half, ihre innenpolitischen Querelen aus den Schlagzeilen zu verdrängen. Thatcher siegte. In ihren Memoiren „Downing Street Years“ schrieb sie ein paar Jahre später: „Wenn man im Krieg ist, kann man sein Denken nicht von Schwierigkeiten dominieren lassen. Da brauchst du einen eisernen Willen.“
Härte im Kriegsfall – an diesen Rat der Iron Lady hält sich Liz Truss gerne. Wenn sie als Außenministerin eines der mächtigen NATO-Verbündeten eindeutig für die Ukraine und gegen Russland Stellung bezieht, dann weiß sie das gesamte Vereinigte Königreich hinter sich. Bis auf Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn natürlich. Auch der bisherige Regierungschef Boris Johnson stand dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vom ersten Invasionstag am 24. Februar 2022 an mit militärischer und diplomatischer Hilfe zur Seite.
Boris who?, fragen sich die Briten derzeit. Seit er am 7. Juli wegen Charakterschwäche und größeren und kleineren Skandalen rund um Covid-Partys und Korruptionsaffären zurücktreten musste, scheint der ehemalige Volksliebling verschwunden zu sein. Er weigerte sich zwar, seine Dienstwohnung vor dem 5. September zu verlassen, wenn die Nachfolgerin gekürt wird, große Entscheidungen aber trifft er nicht mehr. Er urlaubt lieber. Diese Woche ertappte ihn das Boulevardblatt „The Sun“ dabei, wie er in einem griechischen Supermarkt Lebensmittel in einen Einkaufskorb schlichtete.
Truss dagegen vermittelt Tatkraft: „Ich werde von der ersten Minute an eine Premierministerin für alle sein.“ Und im Fall der Ukraine verspricht sie: „Wir bleiben auf lange Sicht dabei.“ Denn: „Es wird in Europa keinen Frieden und keine Sicherheit geben, wenn wir die Ukraine nicht unterstützen.“
Die britische Regierung gibt an, dass sie bisher 4,5 Milliarden Euro für ökonomische und militärische Hilfe für die Ukraine ausgegeben hat.
Das klare Bekenntnis zum westlichen Militärbündnis wird britischen Politikern – und nicht nur den Konservativen – mit dem ersten Pint im Pub mitgegeben. Liz Truss ist da keine Ausnahme. Die Sanktionen, die Waffenlieferungen, die harte Linie gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin – all das trägt die Frau, die Britanniens neue Eiserne Lady werden will, ganz selbstverständlich mit.
„Es wird in Europa keinen Frieden und keine Sicherheit geben, wenn wir die Ukraine nicht unterstützen.“
Schon bevor Putin über die Ukraine herfiel, ließ sie ihm bei einem Besuch in Moskau Anfang Februar durch ihren Amtskollegen Sergej Lawrow ausrichten: „Bei einem Einmarsch in der Ukraine werden die Konsequenzen schwerwiegend sein.“
Der frauenfeindliche Machismo, mit dem Lawrow und Putin Frauen gerne behandeln und mit dem sie sich in Moskau konfrontiert sah, schien sie dabei nicht weiter zu kümmern. Obwohl Lawrow sie aufs Glatteis führte und absichtlich in irreführende territoriale Diskussionen verwickelte, zeigte sie sich anschließend recht locker: „Sergej Lawrow und ich hatten ein sehr angenehmes Gespräch, er war sehr höflich“, sagte sie direkt nach ihrer Rückkehr aus Moskau zu profil. Gefühlspegel, zumindest nach außen hin: null.
Obwohl sie eine anstrengende Reise ohne nennenswerten Erfolg hinter sich hatte, wirkte sie bei einem Treffen mit EU-Medien erstaunlich gelassen. Anders als in ihren offiziell einstudierten Reden, in denen sie oft unsicher und kantig wirkt, muss sie sich in kleinem Rahmen nicht bemühen, aus dem großen Schatten der Vorgänger und Vorgängerinnen zu treten. Vielleicht sieht sie die internationale Bühne letztlich auch nicht als entscheidend an. Wer Downing Street im Blick hat, muss schließlich zu Hause in Mittelengland – dem Wählerreservoir der Mittelschicht – punkten.
Was ihr zu fehlen scheint, ist eine weitverbreitete Eigenschaft in der britischen Politelite, die sich vielleicht aus einem Minderwertigkeitskomplex speist: Arroganz. Diese hinterhältige Idee, etwas Besseres zu sein, tragen viele Briten noch in sich. Großbritannien war schließlich bis zum Ende des britischen Empires in den 1950er-Jahren Weltmacht. Seit dem Brexit ist es nicht mal mehr eines der großen, einflussreichen Mitglieder der EU.
Die traurige Realität einer mittleren Macht in Europa kann man schon mit Arroganz (und Ignoranz) zu kompensieren versuchen. Bei Boris Johnson hat man das in donnernden Referenzen an einstige Größe während seiner Brexit-Kampagne und später als Premier oft zelebriert.
Liz Truss dagegen gibt es eine Nummer kleiner. Sie ist Mrs. Middle Class. Sie hat zwei Töchter, ist verheiratet. Auch das eine Parallele zu Thatcher, die Topkarriere machte, obwohl sie Mann und Kinder hatte. Wobei es 1979 noch eine aufregende Neuigkeit war, als zum ersten Mal ein First Husband in Downing Street einzog.
Diese bürgerliche Normalität ist ein Schlüssel zu ihrem Erfolg. Liz Truss strahlt aus, was auch Margaret Thatcher ins politische Geschäft mitbrachte und was später zum Titel einer ihrer Biografien wurde: Beide sind für ihre Wähler und Wählerinnen „One of Us“ – Eine von uns.
Der Vater von Liz Truss war Mathematikprofessor an der Universität von Leeds, die Mutter Krankenschwester und Aktivistin für die Abschaffung von Atomwaffen. Die Tochter entwickelte in dem sehr politischen Elternhaus zwar Sinn für Politik, allerdings positionierte sie sich rechts ihrer progressiven Eltern. Zuerst ging Mary Liz, die schon früh ihren Mittelnamen dem Vornamen vorzog, zu den Liberaldemokraten und später zu den Konservativen. Den Vater grämte das. Die Mutter aber trat sogar als Wahlhelferin auf.
Liz Truss hat damit bisher eine vorbildliche Politikerinnenkarriere hingelegt. Ihr unter Umständen größter Trumpf: Bis vor Kurzem galt sie nicht als Fixstarterin für das wichtigste politische Amt im Vereinigten Königreich. Auch das – so hofft Liz Truss – könnte sich als eine Parallele zu Margaret Thatcher herausstellen.
Zu Thatchers Zeiten wurden junge Frauen nicht einmal in Wetten für höhere Positionen gesetzt. Thatcher änderte die britische Geschichte mit ihrem Einzug in Downing Street. Ihre männlichen Konkurrenten räumte sie aus dem Weg, indem sie sie mit ihrer Handtasche erschlug – so zumindest sahen das die Karikaturisten gerne. Sie blieb länger im Amt als alle anderen vor und nach ihr.
Die ikonische eckige Handtasche der Iron Lady kopiert Liz Truss übrigens nicht. Vielleicht ist ihr dieses Symbol des Frauseins einfach zu altbacken. Die Eiserne Dame 2.0 tritt lieber mit weichen, roten Handtaschen in Erscheinung, die sich im 21. Jahrhundert besser verwenden lassen: Sie haben Platz für einen Laptop.
Dass Truss noch vor Kurzem nicht gerade als durchschlagendes politisches Talent galt, wird ihr jetzt zum Vorteil. Erstens, weil nach Boris Johnsons Chaosregime der Partei eine etwas weniger schillernde Persönlichkeit mit mehr Sinn für Disziplin offenbar zusagt.
Zweitens verglüht der Stern der Favoriten oft schnell. Rishi Sunak, Schatzkanzler in Zeiten der Covid-Pandemie, erfreute sich eine Zeit lang an erstaunlicher Beliebtheit, die parallel mit der Höhe der Hilfsgelder anstieg. Doch Sunak liegt jetzt in den Umfragen unter den Parteimitgliedern laut der Website „Conservative Home“ mit 28 Prozent weit abgeschlagen hinter Liz Truss mit 60 Prozent. Sunak dürfte einfach zu reich sein. Seine Frau Akshata Murty ist die Tochter des indischen Multimilliardärs Narayana Murty, der den indischen Technologiekonzern Infosys gegründet hat.
Um das Image als reicher Schnösel auszugleichen, hat auch Sunak Margaret Thatcher für sich entdeckt. Auch er wolle sie als Vorbild nutzen, meinte er bei einem der „Hustings“, bei denen sich die beiden Spitzenkandidaten den Parteimitgliedern landauf, landab präsentieren. Es gäbe schließlich Parallelen zwischen ihm und Maggie, wie ihre Fans sie bis heute liebevoll nennen. Auch er sei wie sie in der Wohnung über dem Shop der Eltern groß geworden. Sie half im Lebensmittelgeschäft des Vaters mit, er in der Apotheke der Mutter.
Doch das Parteivolk nimmt, wie es scheint, die Maggie-Vergleiche eher Liz Truss ab. Woran sie wirklich glaubt, ist dank ihres politischen Schlenkerkurses schwer zu sagen – außer man nimmt ihre Worte von heute ernst. Im Juli 2022 schwor sie, dass sie als Regierungschefin bis zum Ende des Jahres 2023 Tausende Gesetze, die Britannien aus der EU-Ära geerbt hat, aus den britischen Gesetzbüchern streichen lassen werde, sollten sie wachstumsfeindlich sein.
Ob dieses „Bonfire of red tape“ – frei übersetzt etwa „Lagerfeuer aus bürokratischem Mist“ – der britischen Wirtschaft zuträglich wäre? Auf solch komplexe Fragen lässt sie sich nicht ein. Immerhin erschwert sich der Handel zwischen der Brexitinsel mit dem bisher größten Handelspartner erheblich, je weiter sich die Briten von EU-Regeln und Standards entfernen.
Doch in der Hitze des Gefechts um Downing Street scheint jedes Mittel recht zu sein. Wie ihr Vorbild Magie entwickelte sich Liz Truss in EU-Fragen von einer Befürworterin zur harten Kritikerin. Thatcher stimmte 1975 für den Beitritt und die Errichtung des Binnenmarktes – dann aber gegen die Pläne für die gemeinsame Währung und weitere politische Integration. Liz Truss findet sich in einer ähnlichen Position, wenn es um die EU geht.
Doch Margaret Thatcher im Sommer 2022 als Vorbild heranzuziehen – mit ihrem Sparprogramm, unter dem die britischen Arbeiter in den 1980er Jahren stöhnten –, ist ein gefährliches politisches Manöver. Die Briten kämpfen auch ohne eine neue Eiserne Lady bereits mit gestiegenen Lebenskosten. Die Energiepreise explodieren, die Gehälter schrumpfen in der Inflation, Millionen Menschen, darunter 500.000 Kindern, droht im Winter nicht nur Kälte, sondern Hunger.
Doch weitere Austerität scheint das Gebot der Stunde. Truss verspricht ein Wachstum von 2,5 Prozent und will dieses mit einem Sechspunkteprogramm erreichen, das im Kern auf Steuersenkungen beruht. Ein schlanker Staat, weniger Regulierungen und keine direkten Hilfen für Stromrechnungen an Haushalte, die ihre Rechnung nicht zahlen können: „Ich senke lieber vorher die Steuern, als den Leuten erst Geldgeschenke zu machen, die ich ihnen nachher über die Steuern wieder wegnehme“, sagt Liz Truss in Interviews.
Was sie nicht sagt: Von den Steuersenkungen profitieren die reicheren Briten – und damit ihre Wähler. Beihilfen interessieren sie weniger. Denn die gehen an die Ärmeren im Land – und die werden bei den nächsten regulären Wahlen 2024 eher Keir Starmer von der Labour-Partei wählen.
Anders als Margaret Thatcher aber ist Liz Truss äußerst anfällig für verbale Fehltritte. Ob sie schlecht beraten oder einfach überfordert ist mit ihrem ambitiösen Plan, Regierungschefin zu werden? Die Liste ihrer Fauxpas hat jedenfalls schon Twitterberühmtheit erlangt.
Sie verteidigte die außerhalb des rechten Flügels der Tory-Partei weltweit zur tragischen Lachnummer verkommene Idee der britischen Regierung, Asylwerber nach Ruanda auszufliegen und sie von dort Ansuchen stellen zu lassen, mit den Worten: „Ruanda ist ein sicherer Ort mit einer positiven Zukunft.“ Laut Human Rights Watch sind willkürliche Verhaftungen und Folter im zentralafrikanischen Staat allerdings noch immer an der Tagesordnung.
Ihre Kritiker werden nicht müde, ihre oft holprigen Medienauftritte auf Trussismen abzuklopfen. Dass sie den irischen Ausdruck für Regierungschef nicht richtig aussprechen konnte und den irischen Taoiseach Micheál Martin als „Teasock“ – als Teesocke – bezeichnete, kann als heitere Lappalie abgetan werden.
Bedenklicher ist, dass sich Liz Truss bei ihren politischen Bekenntnissen in jüngerer Zeit immer mehr den ultrakonservativen Positionen annähert: „Ich will Getreide und Vieh auf unseren Feldern sehen“, rief sie bei einem Auftritt, „und nicht Solarpanels.“
In einem Audiomitschnitt aus ihrer Zeit im Finanzministerium bezeichnete sie die britischen Arbeiter als „faul“ und meinte, das wäre zwar keine sehr populäre Position, aber: „Die müssen sich mehr schinden.“
Sollten sie die Parteimitglieder trotz dieser unverblümten Worte wählen, holt sie sich nach ihrer Kür am 5. September den Segen der Queen. Dann wird ein anderes Video aus dem Jahr 1994 auf Twitter die Runde machen. Liz Truss, da noch bei den Liberaldemokraten, erklärte damals beim Parteitag mit Verve: „Es kann nicht sein, dass nur eine Familie zum Regieren geboren wird.“ Die Monarchie, so forderte sie damals, gehöre endlich abgeschafft.