Ein Jahr im Amt: Macrons Kampf um die öffentliche Meinung
Wie überaus aufmerksam! Anfang Mai ist Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron genau ein Jahr im Amt, und gerade rechtzeitig, am 5. Mai, werden in Paris und zahlreichen Städten der Provinz Feiern organisiert. Artisten! Attraktionen! Es klingt nach einem Volksfest für die ganze Familie. Allerdings verrät das Motto der Partys, dass sich Macron, wenn es nach den Organisatoren geht, nicht allzu sehr darüber freuen sollte: Die Sause steht nämlich nicht etwa unter dem Motto "Une fête pour Macron" (Ein Fest für Macron), sondern "La fête à Macron". Und die Redewendung "faire la fête à Macron" bedeutet "sich Macron vorknöpfen". Keine Spur von Jubel also. Der junge Präsident solle nicht den Lufthauch beim Ausblasen der Kerzen auf seiner Festtagstorte spüren, sondern "den Wind der Kanonenkugeln", die ihm um die Ohren pfeifen, so der ein wenig revolutionär geratene Einladungstext.
Wie der Jubilar sein erstes Jahr im Amt begehen wird, sollte dennoch keinen besonders großen Anlass zur Sorge geben. Der Mann lebt in einem Palast, und wenn ihm der Krach der Aufständischen zu viel werden sollte, steht ihm als Staatspräsident das Jagdschloss La Lanterne in Versailles zur Verfügung, um etwas Ruhe zu finden. Interessant ist, wer Macron jetzt schon, nach nur einem Jahr, am liebsten stürzen würde. Die radikale Linke? Die gesamte Linke? Die Konservativen? Die Rechtspopulisten? Alle?
Aktuell stehen die -linken - Gewerkschafter an vorderster Front. Dieser Konflikt war programmiert. Macron gründete seine Bewegung "En Marche!", die später zur Regierungspartei "La République en marche" wurde, als dynamische Reformkraft. Die versprochene Politik sei weder links noch rechts, hieß es, doch dieser Interpretation wollen die Betroffenen nicht widerspruchslos folgen. Derzeit streiken (neben anderen) die Eisenbahner, und ihr Arbeitskampf gilt als erster großer Test für Macrons Fähigkeit, sein angekündigtes Programm auch tatsächlich zu verwirklichen.
Kampf um die öffentliche Meinung
Die Auseinandersetzung jeder Regierung mit den Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes gehört gewissermaßen zur politischen Kultur Frankreichs. Das Ritual funktioniert so: Zunächst schlägt die Regierung in irgendeinem Bereich des Öffentlichen Dienstes eine Liberalisierung, Privatisierung, Ausgabenkürzung oder Ähnliches vor. Daraufhin protestieren die betroffenen Gewerkschaften wütend und interpretieren die angedachte Neuerung als Anschlag auf das Funktionieren des gesamten öffentlichen Apparates. Lehrer, Verwaltungsbeamte, Eisenbahner, Zöllner, Mitarbeiter der Staatsbetriebe etc. gehen auf die Straße. Ein Streik wird ausgerufen. Dann beginnt der Kampf um die öffentliche Meinung.
Die großen und erfolgreichen Streikbewegungen gehen in die Alltagsmythologie ein und strukturieren die politische Geschichte der Republik: die Streikserie des Sommers 1953, als die Angestellten der Eisenbahn und der staatlichen Stromund Gasbetriebe zwölf Tage im Ausstand waren, jene der Post 14; der legendäre wilde Generalstreik im Mai 1968, der einer Generation ihren Namen gab; das Streikjahr 1995, als die Proteste gegen die Reform der Sozialversicherung die enorme Zahl von insgesamt sechs Millionen Streiktagen ergab; die aufeinanderfolgenden Widerstandsbewegungen von 2003, 2006,2009,2010 sowie der Kampf gegen ein neues Arbeitsgesetz im Jahr 2016.
Das wesentliche Ergebnis der Streiks der vergangenen drei Jahrzehnte: Die Regierungen gingen meist so weit in die Knie, dass die geplanten Reformen gar nicht oder arg verwässert beschlossen wurden. Jeder neue Staatspräsident schwor zu Beginn Durchsetzungsvermögen und scheiterte in der Folge: Chirac, Sarkozy, Hollande.
Tiefgreifende Einschnitte in das Arbeitsrecht
Man muss Macron bereits jetzt bescheinigen, dass er das Arbeitsrecht tiefgreifend verändert hat, ehe die Gewerkschaften ihre Transparente entrollen konnten. Weiters schaffte er die Vermögenssteuer auf Finanzvermögen und bewegliche Güter ab, reduzierte die Körperschaftssteuer und entlastete die Einkommen auf Kosten der Pensionen. Nun sind die Eisenbahner an der Reihe. Das staatliche Unternehmen SNCF wird in eine Aktiengesellschaft (mit der Republik als Hauptaktionärin) umgewandelt, neu eingestellte Mitarbeiter genießen nicht mehr das traditionelle Eisenbahnerstatut, das ihnen Unkündbarkeit und ein Pensionsantrittsalter von 50 Jahren (für Zugspersonal) beziehungsweise 55 Jahren (für Verwaltungsangestellte) sichert.
Angesichts der Reformen beschleicht viele linke Macron-Wähler der Verdacht, einen "Ultraliberalen" an die Macht gehievt zu haben. Ultraliberal ist die französische Variante des bei hiesigen Linken gebräuchlichen Schmähbegriffs "neoliberal".
Eine Umfrage zeigt, wo Macrons Landsleute ihren Präsidenten und seine Partei auf der Links-rechts-Skala einordnen: Nur noch 14 Prozent halten den postideologischen Pragmatiker für weit links, links oder Mitte-links. 21 Prozent platzieren "La République en marche" im Zentrum. Die Mehrheit, nämlich 50 Prozent, sieht Macron als Mitte-rechts, rechts oder weit rechts an.
Der prominente linke Ökonom Thomas Piketty erkennt in Macrons reichenund unternehmerfreundlicher Steuerpolitik Parallelen zu US-Präsident Donald Trump. Der Soziologe und Bestsellerautor Didier Eribon ("Rückkehr nach Reims") hat sich als Unterstützer des Eisenbahnerstreiks deklariert. Seiner Meinung nach verkörpere der Macronismus "soziale Gewalt", twitterte Eribon. Macrons sozialistischer Vorgänger François Hollande, in dessen Regierung Macron als Wirtschaftsminister gedient hatte, beschreibt den politischen Standort seines Nachfolgers in seinem neuen Buch so: "Emmanuel Macron ist nicht Teil der Geschichte der Linken, auch nicht jener der Sozialdemokratie, und ebenso wenig Teil einer Neuzusammensetzung, aus der eine progressive Koalition hervorgehen könnte. Er ist selbstständig. Er hat ein Unternehmen gegründet."
"Steuern zum Quadrat"
Die traditionellen Linken können mit Macron nichts (mehr) anfangen. Bedeutet das, dass er zu einem gewöhnlichen Liberal-Konservativen geworden ist? Dagegen spricht, dass bei dem Ausnahmetalent Macron selten irgendetwas gewöhnlich ist. Der Präsident, der von den Medien den Beinamen "Jupiter" bekommen hat, begnügt sich nicht damit, links oder rechts Zustimmung zu bekommen. Er will die Leute erziehen, egal wo sie politisch stehen. Im konkreten Fall argumentiert Macron, dass eine staatliche Eisenbahngesellschaft, die wirtschaftlich besser dasteht als mit den unglaublichen 55 Milliarden Euro Schulden, die sie derzeit hat, den Bürgern bessere Dienste erweisen kann. Schulden nämlich seien "Steuern zum Quadrat", so Macron. Ein solches Zitat hätte man wohl eher einem deutschen Finanzminister vom Typus Wolfgang Schäuble zugeschrieben.
Doch das Unglaubliche geschieht: Bisher scheint die Regierung im Kampf mit den widerständischen Eisenbahnern die Öffentlichkeit auf ihre Seite ziehen zu können. In einer Umfrage sprechen sich 62 Prozent dafür aus, dass die Regierung die Reform durchzieht. Zu Beginn der Streiks waren es 51 Prozent.
Die Gewerkschaften sind ihrer Sache offenbar selbst nicht ganz sicher. Anstatt einen unbefristeten Streik auszurufen, haben sie ihre Kampfmaßnahmen auf je zwei Tage beschränkt, danach kehren die Beschäftigten für drei Tage an ihren Arbeitsplatz zurück, dann wird wieder zwei Tage gestreikt usw. Die Eisenbahner hoffen darauf, dass die ebenfalls streikenden Mitarbeiter der Fluggesellschaft Air France und die sich mit den Protesten solidarisch erklärenden Studenten die Mobilisierung insgesamt verstärken. Der Streikkalender sieht das vorläufige Ende für den 28. Juni vor.
Wie reagieren die Rechten auf Macrons liberale Politik? Gespalten. Viele Konservative haben sich - ebenso wie einige Sozialisten - schon vor den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr Macrons Partei angeschlossen, etwa Premierminister Édouard Philippe. Die traditionelle konservative Partei "Die Republikaner" ist unter ihrem neuen Vorsitzenden Laurent Wauquiez nach rechts gerückt: EU-skeptisch, gegen die Homo-Ehe, mit einem Auge auf die Wähler des rechtspopulistischen Front National schielend.
Damit hat Emmanuel Macron politisch nach wie vor viel Platz in der Mitte. Es spricht nichts dagegen, dass er sich nach seinem ersten Jahr als Staatspräsident selbst diskret hochleben lässt.