Madame Le Pen hat einen Plan
Von Robert Treichler
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Warum hat Marine Le Pen die Regierung von Michel Barnier am Mittwochabend gestürzt? Warum gerade jetzt und nicht schon im September? Was ist der nächste Schritt? Um zu verstehen, was derzeit in Frankreich passiert, ist es zielführend, sich in die Lage von Marine Le Pen zu versetzen.
Seit September ist die Regierung unter Premierminister Michel Barnier, einem Konservativen, im Amt, und das Besondere an ihr ist, dass sie keine Mehrheit im Parlament hat. Sie kann jederzeit gestürzt werden, wenn die Abgeordneten des Links-Bündnisses „Nouveau Front Populaire“ (Neue Volksfront) und der Sozialisten gemeinsam mit jenen von Marine le Pens Rassemblement National (RN) einen Misstrauensantrag unterstützen.
Warum ist das nicht schon längst passiert?
Eine Gelegenheit dazu bot sich bereits Anfang Oktober, als die Linke einen Misstrauensantrag gegen die Regierung einbrachte. Doch die Spitzen des RN beeilten sich zu erklären, dass sie kein Interesse daran hätten, das Kabinett Barnier einfach so zu Fall zu bringen. Man behielte die Regierung jedoch „unter Beobachtung“. Das war ein wichtiger Teil von Marine Le Pens Plan: bloß nicht den Eindruck zu erwecken, sie und ihre Partei agierten verantwortungslos und wollten die eben erst angelobte Regierung aus purem Aktivismus aus dem Amt befördern. Le Pen muss vorsichtig vorgehen. Laut Umfragen stuft eine Mehrheit der Franzosen (76 Prozent) sie als „rechtsextrem“ ein, aber eine Mehrheit attestiert ihr auch, dass sie „ein Ohr für die Probleme der Franzosen“ (59 Prozent) habe.
Indem sie die Regierung anfangs stützte, wollte sich Le Pen in den Augen der Öffentlichkeit als bestimmende Kraft etablieren, die einerseits für den Erhalt der Regierung Verantwortung trägt, die aber andererseits wie ein Damoklesschwert über Michel Barnier hing. „Wie werden der Regierung das Misstrauen nur für konkrete Handlungen aussprechen“, warnte ein RN-Abgeordneter.
An diesem Mittwochabend war es dann soweit. Die Abgeordneten des Rassemblement National stimmten für einen von den Linken eingebrachten Misstrauensantrag, und die Regierung Barnier war Geschichte.
Warum plötzlich doch?
Das von der Regierung vorgeschlagene Budget diente Le Pen als willkommener Anlass. Das Defizit des Staatshaushaltes ist in diesem Jahr auf enorme sechs Prozent (gemessen am BIP) davongaloppiert, und Barnier musste ein Sparprogramm vorschlagen, um die Kreditwürdigkeit Frankreichs zu erhalten und die Vorgaben der Europäischen Union mittelfristig wieder einzuhalten. Das vorgeschlagene Budget beinhaltete schmerzhafte Einschnitte für verschiedene Bevölkerungsgruppen, darunter etwa auch für Pensionisten. Le Pen hatte also einen respektablen Grund – oder einen Vorwand, je nachdem, wie sehr man ihr Glauben schenken möchte – für den Sturz der Regierung, und sie positionierte sich gleichzeitig als Beschützerin der älteren Mitbürger. Diese Gruppe könnte dafür sorgen, dass Marine Le Pen bei ihrem nächsten – dem vierten – Antreten bei einer Präsidentschaftswahl den lang ersehnten Sieg erringen könnte.
Ein Risiko ist Le Pen damit dennoch eingegangen: Das nun herrschende Chaos könnte ihr angelastet werden. Frankreich hat kein Budget für 2025, keine funktionierende Regierung und vor allem auch keine Aussicht auf eine Mehrheit im Parlament, die einen neuen, von Staatspräsident Emmanuel Macron berufenen Regierungschef stützen könnte. Aber auch das ist Teil des Plans von Le Pen.
Le Pen will Präsident Macron zum Rücktritt zwingen.
Am Montag, zwei Tage vor dem Sturz der Regierung, erläuterte sie in einem TV-Interview die Möglichkeiten, wie die akute Krise verfassungskonform zu beheben sei: durch eine neue Regierung, was „nicht vielversprechend“ wäre, denn auch diese könnte gleich wieder gestürzt werden; durch die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen, doch das wäre frühestens im Juni möglich; oder durch den Rücktritt von Staatspräsident Macron und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Letzteres ist genau das, was Le Pen will – und wogegen sich Macron mit allen Mitteln wehren wird.
Bleibt er im Amt, wird Le Pen ihn für das politische Desaster verantwortlich machen. Wird gewählt, sieht sie sich als wahrscheinliche Siegerin.
Bis jetzt ist Marine Le Pens Plan aufgegangen.
Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur