Sollten die Hilfen aus den USA ausbleiben, droht die Ukraine den Krieg zu verlieren, warnt Präsident Wolodymyr Selenskyj. Steigt damit die Gefahr eines russischen Angriffs auf das Baltikum?
Wolodymyr Selenskyj ist ein entschlossener Mann, scharfe Worte hat er noch nie gescheut. Doch zuletzt richtete der ukrainische Präsident eine besonders deutliche Warnung an seine Verbündeten im Westen. „Sollte der Kongress der Ukraine nicht helfen, wird die Ukraine den Krieg verlieren“, sagte Selenskyj Ende vergangener Woche in Kiew. Er sei sich sicher, dass in diesem Fall auch andere Länder angegriffen würden.
In den USA blockieren die Republikaner, die Partei von Präsidentschaftskandidat Donald Trump, im Kongress seit vergangenem Jahr Militärhilfen im Umfang von 60 Milliarden Dollar. Und Europa schafft es nicht, diese Lieferungen zu kompensieren. Von der versprochenen Menge von einer Million Artilleriegranaten ist bloß ein Bruchteil angekommen. Auf ein ukrainisches Artilleriegeschoss kommen mindestens fünf russische, mancherorts auch zehn.
Kyiv (Kiew) mangelt es an Munition, Waffen und Soldaten. Die ukrainischen Truppen sind in der Defensive, schlagkräftige Gegenangriffe schaffen sie kaum noch. Und die russische Armee rückt Meter für Meter vor. Auch vergangene Woche gab es Todesopfer nach russischem Beschuss, im Fokus der Angriffe standen die Region Charkiw im Osten sowie die Hafenstadt Odessa im Süden des Landes.
Experten rechnen mit einer neuen russischen Offensive ab Mai, zu den aktuell etwa 500.000 Soldaten, die in der Ukraine im Einsatz sind, könnten dann noch einmal 300.000 dazukommen. Gleichzeitig fehlt es der Ukraine an Truppen. Erst vergangene Woche hat Selenskyj deshalb das Rekrutierungsalter von 27 auf 25 Jahre reduziert.
Putins Führung wird nicht angezweifelt, solange er liefert und den Krieg nicht verliert.
Gerhard Mangott
Russland-Experte
Für Kyiv ist der Krieg zwar noch nicht verloren, doch das könnte sich rasch ändern: In ihrer Schlagkraft und in den Verteidigungsfähigkeiten ist die ukrainische Armee mehr denn je von der weiteren Unterstützung aus dem Westen abhängig. Soll Kyiv den Krieg nicht verlieren oder ihn gar gewinnen, müssen die Lieferungen aus dem Westen noch in diesem Jahr deutlich hochgefahren werden.
Krieg ohne Gewinner
Einen Sieg hat die Ukraine bereits erreicht: Russland hat sein strategisches Ziel – die gesamte Ukraine zu erobern und eine Marionettenregierung in Kyiv zu installieren – schon in den ersten Kriegstagen verfehlt. Im Jahr danach verfolgte die Ukraine das Ziel, alle besetzten Gebiete inklusive der Krim zurückzuerobern. Doch dafür fehlten schlicht die Mittel. „Deswegen hat Kyiv letztes Jahr einen Strategiewechsel verkündet und ist in die Defensive gegangen“, sagt Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer: Bereits befreite Gebiete werden gehalten, Verteidigungsstellungen gebaut und der Krieg nach Russland getragen – etwa durch Angriffe auf Militärstützpunkte auf russischem Staatsgebiet. „Damit versucht Kyiv, Zeit zu gewinnen, bis in den USA und in Europa Klarheit über das weitere strategische Vorgehen herrscht“, sagt Reisner. Ohne die Militärhilfen könnte die Ukraine nicht mehr lange weiterkämpfen.
Jahrgang 1978, ist Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und Kommandant der Garde des Österreichischen Bun-desheeres. Reisner studierte Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien. Zuletzt erschien im Kral Verlag mit „Die Schlacht um Wien 1945“ sein Buch über die „Wiener Operation“ der sowjetischen Streitkräfte im März und April 1945.
Sollte Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst als Sieger hervorgehen, könnten die USA Druck auf Kyiv ausüben, fürchtet Reisner. Denkbar sei etwa eine „Einigung“ auf eine Gebietsaufteilung entlang des Flusses Dnepr, die Ukraine wäre dann auf die Hälfte ihres Territoriums reduziert.
Mit weniger als dem, was Russland bereits erobert hat, wird sich Moskau kaum zufriedengeben.
Alles hänge von der Unterstützung des Westens ab und davon, wer nächster US-Präsident wird, sagt auch der Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. Auch er geht davon aus, dass Trump Kyiv unter Druck setzen würde. „Akzeptiert die Verluste, und ich zwinge Russland dazu, den Krieg einzustellen; oder ich lasse Moskau gewähren und liefere euch gar nichts mehr“, skizziert Mangott Trumps mögliche Vorgehensweise.
Jahrgang 1966, ist Politikwissenschafter und Universitätsprofessor in Innsbruck mit Schwer-punkt Osteuropa und Russland. Mangott ist seit 1995 Lektor an der Diplomatischen Akademie in Wien. Zuletzt erschien im Brandstätter Verlag „Russland, Ukraine und die Zukunft“ über die Ursprünge des Angriffskrieges auf die Ukraine und mögliche Zukunftsszenarien.
Als „Sieg“ könnte Präsident Wladimir Putin seinen Angriffskrieg auf die Ukraine verkaufen, wenn die vier im September 2022 annektierten Regionen – Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja – russisch blieben. Eine Eroberung der zweitgrößten Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine sowie der Hafenstadt Odessa im Süden sei nur bei einem Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung möglich, sagt Mangott. Mit Odessa wäre im Südwesten der Weg frei, und die russischen Truppen könnten bis Transnistrien vordringen – und versuchen, die Republik Moldau einzunehmen.
Wenn es nicht gelingt, Russland in der Ukraine zurückzuschlagen, könnte es als Nächstes die Balten treffen.
Markus Reisner
Oberst des österreichischen Bundesheeres
„Das ist in absehbarer Zeit unrealistisch“, so Mangott – auch, weil die russische Schwarzmeerflotte schwere Verluste verzeichnet hat.
Die Angst der Balten
In der Republik Moldau ist die Angst vor einem Einmarsch der Russen groß. Und nicht nur dort. Die baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland bereiten sich auf den Ernstfall vor. In Litauen wurden Tausende Schutzräume und Notunterkünfte eingerichtet, Jugendliche werden in Erster Hilfe und der Bedienung von Waffen trainiert. Entlang der Grenze des Baltikums zu Russland und Belarus sollen ab 2025 Bunker und Verteidigungslinien gebaut werden.
„Wenn es nicht gelingt, Russland in der Ukraine zurückzuschlagen, könnte es als Nächstes die Balten treffen“, sagt auch Reisner. Nach dem Ersten Weltkrieg habe kaum jemand daran geglaubt, dass Deutschland so bald in der Lage sein würde, einen noch schlimmeren Krieg vom Zaun zu brechen: „Wer weiß, was in 20, 15 oder sogar bereits in fünf Jahren geschehen wird. Wer weiß, worauf sich Russland vorbereitet.“
Das Szenario eines Angriffs auf das Baltikum oder Polen dient möglicherweise nur der Angstmache.
Gerhard Mangott
Russland-Experte
Ein Angriff auf die baltischen Staaten, allesamt NATO-Mitglieder, würde zwar den Bündnisfall auslösen: Laut Artikel 5 des Nordatlantikvertrags wird ein Angriff auf einen Mitgliedstaat als Angriff auf alle NATO-Mitglieder gewertet – und alle sollten zur Hilfe eilen. Doch diese Beistandspflicht gilt nicht automatisch. „Die Hilfeleistung ist freiwillig, jedes Land kann selbst entscheiden, ob und wie es sich beteiligen will“, sagt Reisner. Würden die anderen NATO-Länder ihre Verbündeten verteidigen? „Wenn man Umfragen in der Bevölkerung glaubt, ist die Bereitschaft dazu in vielen Ländern gering.“
Anders als Reisner glaubt Politologe Mangott nicht an einen Angriff Russlands auf die EU: „Sollte Russland in der Ukraine gewinnen, führt das nicht unbedingt zu einem Angriff auf das Baltikum oder Polen.“ Zwar habe Putin durchaus Ambitionen, doch fehlten dafür auf Jahre die Mittel – und Europa müsse diese Zeit nutzen, um seine eigene Schlagkraft zu stärken.
„Das Szenario eines Angriffs auf das Baltikum oder Polen dient möglicherweise nur der Angstmache“, sagt Mangott. Bei der Frage der Militärhilfen für die Ukraine sowie der eigenen Aufrüstung werde es in den NATO-Staaten Verteilungskämpfe geben. Wie soll all das finanziert werden? Durch Schulden oder gar die Kürzung von Sozialausgaben? „Die Aufrüstung europäischer NATO-Staaten muss im Sinne einer Abschreckung erfolgen“, sagt Mangott. „Aber die Finanzierung ist kontroversiell, da hilft das Angst-Szenario, damit die Mehrheit der Bevölkerung das akzeptiert.“
In den sozialen Medien ging zuletzt das Gerücht um, Russland plane einen Angriff auf das Nachbarland Kasachstan. Dieses Szenario hält Mangott für wahrscheinlicher, wenn auch nicht kurzfristig: „An der Grenze zu Russland leben ethnische Russen, dieses Siedlungsgebiet könnte Moskau erobern.“
Was bedeutet Frieden?
Frieden in der Ukraine, das ist derzeit kaum vorstellbar. Denkbar sei ein Waffenstillstand, sagt Mangott, eine echte Friedenslösung hält der Experte für die kommenden fünf bis zehn Jahre für unrealistisch.
Als problematisch bezeichnen Mangott wie Reisner, ein „Einfrieren“ des Konflikts. Vorgeschlagen hatte das zuletzt etwa der Fraktionschef der SPD im Deutschen Bundestag Rolf Mützenich. „Weder die Ukraine noch Russland haben daran Interesse“, sagt Mangott. Eine langfristige Waffenruhe sei nur möglich, wenn beide Kriegsparteien so erschöpft sind, dass sie keine Gebietsgewinne mehr erwarten. Außerdem könnte Russland sich nach einem „Einfrieren“ des Konflikts in den besetzten Gebieten festsetzen, sich neu gruppieren und die Zeit nutzen, um weiter aufzurüsten. „Die militärische Aggression hätte sich damit gelohnt – das wäre höchst problematisch.“
Vor einer „Belohnung“ der russischen Aggression warnt auch Reisner. „Sollte es Russland gelingen, die halbe Ukraine zu erobern, könnte das Schule machen.“ Die USA hätten ihre Hegemonialmacht verloren, der „Weltpolizist“ sei verschwunden, die alte Ordnung aus den Fugen geraten. „Jetzt versucht jedes Land sich so zu arrangieren, wie es gerade passt“, sagt Reisner mit Blick auf den Globalen Süden: „Staaten wie China, Indien, die Türkei, der Iran und Nordkorea unterstützen Russland massiv, das wissen wir, auch wenn sie es nicht offen zugeben.“
Wohl auch deshalb schüren viele Beobachter im Westen die Hoffnung, dass das „System Putin“ bald zu Ende geht. Wie stabil ist es noch? „Putins Führung wird nicht angezweifelt, solange er liefert und den Krieg nicht verliert“, sagt Mangott. Und selbst für den Fall, dass Putin ausgetauscht wird, würde das wenig ändern: „Ein Frieden ist auch ohne Putin auf absehbare Zeit unrealistisch.“
Sollte Putin morgen verschwinden, der „Putinismus“ würde bleiben. Dem Westen freundlich gesinnte Politiker gibt es in Russland nach mehr als 20 Jahren Herrschaft Putins so gut wie keine mehr. Der letzte erfolgreiche prodemokratische Oppositionelle war Alexej Nawalny. Ihn ließ Putin in ein Straflager sperren – wo er Ende Februar schließlich zu Tode gebracht wurde.