Mao unter Denkmalschutz
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Am Montag, dem 26. August, dringen rund 30 Polizeibeamte in das Künstleratelier von Gao Zhen, einem 68 Jahre alten Bildhauer, in Sanhe City, eine Stunde von der Hauptstadt Peking entfernt, ein. Zhens jüngerer Bruder Gao Qiang, der in den USA lebt, informiert später Bekannte und Medien darüber, was vorgefallen ist. Die Polizisten hätten einige der Skulpturen beschlagnahmt, andere fotografiert. Eine der konfiszierten Arbeiten ist eine lebensgroße Darstellung von Chinas Staatsgründer Mao Zedong. Sie trägt den Titel „Maos Schuld“ und zeigt den 1976 verstorbenen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas kniend, die rechte Hand auf die Brust gelegt. Das ist das mutmaßliche Verbrechen von Gao Zhen.
Um zu verstehen, warum Gao Zhen, geboren 1956, und Gao Qiang, geboren 1962, diese und andere ungewöhnliche Skulpturen von Mao produzieren und weshalb der chinesische Staat plötzlich so harsch darauf reagiert, muss man beide Geschichten erzählen. Die der beiden Brüder und die der Veränderungen Chinas in den vergangenen Jahren.
Die Karriere
Die Karriere der Brüder Gao beginnt in Jinan, der Hauptstadt der an der ostchinesischen Küste gelegenen Provinz Shandong. Eine Freundin der beiden, die nicht namentlich genannt werden möchte, erinnert sich, wie sie Gao Zhen und Gao Qiang vor 25 Jahren kennenlernte. Sie war damals Mitarbeiterin einer privaten Galerie für moderne Kunst in Shandong. Die Brüder Gao hatten sich bereits einen Namen als politisch aktive Avantgarde-Künstler gemacht und luden im Jahr 2000 sie und andere Leute aus der Kunstszene in ihr Atelier in Jinan ein, um eine neue Arbeit zu präsentieren. Es handelte sich um eine Art großen Schrank, in dessen Fächer und Abteile sich nackte Menschen hineinzwängten, von denen manche einander an den Händen hielten. Das beklemmende Ensemble bekam den Namen „Sense of Space“ (etwa: Raumgefühl), die einzelnen Varianten der Serie hießen „Gebet“, „Warten“, „Angst“ oder „Schmerz“.
Die Kunst der Brüder Gao war von Anfang an eine kritische Verarbeitung der politischen sowie der gesellschaftlichen Umstände Chinas, und damit das, was von zeitgenössischen Künstlern zu erwarten ist. Doch den Verantwortlichen der Sozialistischen Volksrepublik ist ein solcher Zugang suspekt, denn er thematisiert politische Unzufriedenheit. So stieg zwar der Bekanntheitsgrad der Brüder Gao innerhalb der chinesischen und bald auch internationalen Kunstszene, doch öffentliche Ausstellungen stießen auf Hindernisse. Immerhin konnten Gao Zhen und Gao Qiang von ihrer Kunst leben.
In den Nullerjahren wandten sich die Brüder Gao einem besonders heiklen Thema zu: der Geschichte Mao Zedongs und der von ihm verantworteten „Kulturrevolution“, die in den Jahren 1966 bis 1976 die Gesellschaft von „alten Denkweisen“ säubern sollte und Hunderttausende, nach manchen Schätzungen auch Millionen Menschen das Leben kostete. Auch der Vater der Brüder Gao wurde damals, im Jahr 1968, als „Klassenfeind“ denunziert und von der Polizei verhaftet. In einem Interview äußerte sich Gao Zhen über diesen Vorfall, der die Familie geprägt hat: „Unser Vater war ein normaler Fabriksarbeiter. Wir wissen bis zum heutigen Tag nicht, ob er Selbstmord begangen hat, wie uns die Behörden mitteilten, oder ob er in Haft getötet wurde.“
„Maos Schuld“
„Mehr als drei Jahrzehnte nach dem tragischen Vorfall beschlossen die beiden Künstler, ihre persönliche Erfahrung, die sie mit vielen Landsleuten teilen, auf ihre Weise zu verarbeiten. Sie schufen mehrere Skulpturen, die Mao auf eine Weise zeigten, die in China ein Tabu brach: Mao mit Brüsten und einer Pinocchio-Nase, der auf einem Lenin-Kopf balanciert („Miss Mao“); sieben Mao-Figuren, von denen sechs mit Gewehren auf Jesus Christus zielen, während die siebte noch zögert („Die Erschießung Christi“); und schließlich: Mao auf Knien, der um Verzeihung zu bitten scheint – „Maos Schuld“. Sie wollten Mao nicht als göttliche Figur darstellen, wie der „Große Vorsitzende“ meist präsentiert wird, „sondern ihn als reale Person zeigen“, sagte Gao Zhen 2011 in Kansas City anlässlich einer ersten Ausstellung in den USA.
Mao, den Unantastbaren, als angreifbare, zwiespältige, lächerliche, reumütige Gestalt zu interpretieren, ist im Kontext der zeitgenössischen Kunst eine Vorgangsweise, die fast logisch erscheint. Stereotype zu brechen, zu hinterfragen und zu provozieren, gehört zu ihren Aufgaben. Der chinesische Staat aber baut auf einem Wertesystem auf, in dem patriotische, politisch erwünschte Einstellungen gegenüber der Freiheit der Kunst Vorrang genießen. Wer Inhalte produziert, die der Ideologie der Kommunistischen Partei zuwiderlaufen, riskiert Zensur, im schlimmsten Fall polizeiliche Verfolgung. Dennoch gelang es den Brüdern Gao, ihre Arbeit fortzuführen. Sie halfen sich auch mit Tricks.
Die Bronze-Statue „Maos Schuld“ etwa bestand aus zwei Teilen – dem Kopf und dem Körper. Nicht etwa aus künstlerischen Gründen, sondern um die beiden Teile getrennt voneinander lagern zu können. Jeder für sich genommen war ja völlig unverfänglich. Nur wenn das Kunstwerk präsentiert wurde, setzten seine Urheber Kopf und Körper zusammen. Öffentliche Ausstellungen ihrer Arbeiten waren in China nicht möglich. Die eingangs zitierte Bekannte der Brüder erzählt, dass Einladungen zu privaten Präsentationen immer erst kurz vor dem Event an Interessierte verschickt wurden, um die Veranstaltung vor den Behörden geheim zu halten.
„Ich war besorgt, dass so etwas wie die Verhaftung meines Bruders passieren könnte.“
In den Nullerjahren formierte sich eine Bewegung von Künstlerinnen und Künstlern aus der Provinz, die in die Hauptstadt Peking zog und dort, im Stadtbezirk Chaoyang, die Gebäude eines Fabrikgeländes bezog und daraus eine Kunstzone machte. Diese bekam den informellen Namen „Fabrik 798“ und gilt auch unter Touristen als sehenswertes Szeneviertel. Die Brüder Gao waren von Anfang an dabei, richteten in einem der ehemaligen Fabriksgebäude ihr Atelier ein und betrieben auch das „Treehouse Café“. Die Bekannte aus Shandong besuchte sie an ihrer neuen Arbeitsstätte. Sie erinnert sich, dass der Eingang zum Atelier der Brüder Gao einmal von Polizisten bewacht wurde. Die beiden Künstler durften problemlos drinnen arbeiten, doch niemandem wurde gestattet, sie zu besuchen. Es war der Beginn von Einschüchterungen, die bald zunehmen sollten.
Im Februar des Jahres 2011 kam es in Peking und Schanghai zu Protesten. Sie waren inspiriert von den Aufständen des Arabischen Frühlings, doch im Gegensatz zu den Bewegungen dort blieb es in China bei wenigen Hundert Menschen, die auf die Straße gingen. Die Regierung erstickte den Protest im Keim, indem die Sicherheitskräfte Menschenrechtsaktivisten, Blogger und Anwälte verhafteten – und auch den prominenten Künstler Ai Weiwei. Der Konzeptkünstler und politische Dissident hatte immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam gemacht. Auch er lebte im Viertel „798“, und weil er der Regierung ein Dorn im Auge war, hatte er im November 2010 die behördliche Aufforderung bekommen, das Gebäude, in dem sich sein Studio befand, abzureißen. Im Jänner des darauffolgenden Jahres wurde es von Amts wegen demoliert. Ai Weiwei wurde 2011 nach 80 Tagen Haft freigelassen, er lebt seit 2015 im Ausland.
Der Druck auf die Künstlergemeinde im Viertel „798“ wuchs. Die Brüder Gao wurden aufgefordert, ihr Studio und das „Treehouse Café“ zu schließen, wo zu diesem Zeitpunkt einige ihrer Werke zu sehen waren. Die Behörden nannten keinen Grund für die Aufforderung.
Gesetz zum Schutz von Helden
Gao Qiang, der seit einigen Jahren in den USA lebende Bruder des jetzt inhaftierten Gao Zhen, schickte profil vergangenen Mittwoch ein Mail, in dem er sich zu der Situation äußerte und einige Fragen beantwortete. „Ja, ich war besorgt, dass so etwas wie die Verhaftung meines Bruders passieren könnte“, schreibt er, und er weist darauf hin, dass die beiden in der Vergangenheit zwar immer wieder Schwierigkeiten mit den Behörden gehabt hätten, jedoch nie inhaftiert worden seien. Es existierte damals im chinesischen Strafrecht keine Bestimmung, die es erlaubte, konkret gegen die Kunstwerke der Brüder vorzugehen.
Dann, im Jahr 2013, kam der heute noch amtierende Staatspräsident Xi Jinping an die Macht, und mit ihm begann eine neue Ära, in der die Freiheiten zugunsten einer Ideologisierung der Gesellschaft zurückgedrängt wurden. Davon sollte auch bald schon die Kunst betroffen sein.
Im April 2017 gab Staatspräsident Xi eine „Anweisung zur Gesetzgebung zum Schutz von Helden und Märtyrern“ heraus. Also machte sich der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses daran, ein solches Gesetz auszuarbeiten, das „falsche Gedanken und Ansichten“ und „die Verunglimpfung der Geschichte und der Helden und Märtyrer“ unterbinden und „das sozialistische System chinesischer Prägung stärken“ sollte. Verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens – genannt wird auch explizit die Kultur – hätten „die Verantwortung, die Ehre von Helden und Märtyrern zu schützen“.
Das „Gesetz der Volksrepublik China zum Schutz von Helden und Märtyrern“ wird schließlich im April 2018 angenommen und tritt am 1. Mai desselben Jahres in Kraft. Es hat zunächst jedoch kaum reale Folgen, denn das Gesetz sieht keine Strafe vor. Erst eine Verschärfung im Jahr 2021 versieht den Paragrafen mit einer Strafandrohung von bis zu drei Jahren Haft. Als die Polizisten Gao Zhen am 26. August verhaften, tun sie das auf Basis dieses neuen Gesetzes.
Gao Qiang schreibt an profil, dass er sich Sorgen um die Gesundheit seines 68 Jahre alten Bruders mache. Er nennt drei Gründe, die aus seiner Sicht gegen eine Verurteilung sprechen: Die inkriminierten Kunstwerke seien allesamt vor mehr als zehn Jahren geschaffen worden, das Gesetz könne nicht rückwirkend auf sie angewendet werden. Zudem gebe es eine klare Grenze zwischen künstlerischer Arbeit und kriminellem Verhalten. Und schließlich sei es zweifelhaft, ob Mao, der in dem Gesetz nicht namentlich genannt wird, als Held oder Märtyrer gelten könne.
Gao Zhen hätte eigentlich am Dienstag der abgelaufenen Woche gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem Sohn zurück in die USA sollen, wo er wie sein Bruder mittlerweile vorwiegend lebt. Er war nur zum Besuch von Verwandten nach China gekommen. Die Ehefrau und der Sohn durften am Dienstag den Rückflug nicht antreten, weil dies laut Behörden „die nationale Sicherheit gefährdet“.
„Es ist gefährlicher geworden, in China politische Kunst zu machen“, schreibt Gao Qiang.
Zum Schutz der Informanten und Informantinnen wird der Name des Autors/der Autorin nicht genannt.