Martin Schulz: „Das macht Kurz zu einer gefährlichen Person“
profil: In einem profil-Interview im Mai dieses Jahres haben Sie gesagt, Österreich sei die größte Gefahr in der EU, weil der – mittlerweile zurückgetretene – Regierungschef Sebastian Kurz damals die Justiz als „politisch gesteuert“ attackierte. Seither ist viel passiert. Kurz und sein Umfeld sind in mehrere Verfahren verwickelt. Aber gibt es das nur in Österreich?
Martin Schulz: Sicher nicht. Überall gibt es Leute, die sich an die Regeln halten und solche, die sich nicht daran halten. In Frankreich etwa ist eben ein ehemaliger Staatspräsident wegen nicht eingehaltener Regeln bei der Wahlkampffinanzierung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. (Anm: Das Urteil gegen Nicolas Sarkozy ist nicht rechtskräftig.) Österreich ist da nicht das einzige Land. Die Frage ist, wie damit umgegangen wird.
profil: Wie würde ein ähnlicher Fall in Deutschland ablaufen? Was würde passieren, wenn ein Bundeskanzler in einen solchen Verdacht gerät?
Schulz: Ein Regierungschef, gegen den strafrechtliche Ermittlungen mit einem solchen Verdacht laufen, könnte sich keine Minute im Amt halten.
profil: Kurz ist als Bundeskanzler zurückgetreten und umgehend Klubobmann der ÖVP im Parlament geworden. Wäre das in Deutschland denkbar?
Schulz: Undenkbar. Ganz unabhängig von der strafrechtlichen Bewertung: Kurz hat nicht in Ansätzen kapiert, dass jemand, der ein solches Amt innehat, wie das des Bundeskanzlers oder des Mehrheitsführers im Parlament, nicht in solchen Verdächtigungen gefangen sein darf. Weil er ansonsten den Anforderungen der öffentlichen Moral nicht gerecht wird. Es reicht in der Demokratie nicht, bloß „nicht schuldig“ zu sein, es gehört noch mehr dazu. In der Politik hat man eine Vorbildfunktion.
profil: In Österreich gilt die Regierungskrise offiziell in den Worten von Bundespräsident Alexander Van der Bellen als „beendet“. War Kurz‘ Wechsel ins Parlament vielleicht doch ein kluger Schachzug?
Schulz: Was gerade passiert, ist der Beweis dafür, dass Kurz ein Mensch ist, der um jeden Preis seine Macht erhalten will. Als Chef der sogenannten „Neuen ÖVP“ hat er laut deren Statuten eine ausgesprochen starke Machtposition. Diese, kombiniert mit der Anführerschaft der größten Regierungsfraktion im Parlament, bedeutet genau das, was SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner ausgesprochen hat: Kurz ist Schattenkanzler.
profil: Erstaunt es Sie, dass die Grünen als Koalitionspartner da mitmachen?
Schulz: Offen gestanden ja. Die österreichischen Grünen sind auf einem besonderen Weg, den man außerhalb Österreichs nur sehr schwer verstehen kann.
profil: Würde eine Koalitionspartei in Deutschland die Koalition aufkündigen, wenn der Fraktionsvorsitzende unter Korruptionsverdacht steht und nicht zurücktritt?
Schulz: Ja. Die Grünen mussten sich schon vor der Koalitionsbildung die Frage stellen, ob dieser Sebastian Kurz, der zuvor die FPÖ in die Regierung geholt hatte, sich nach Ibiza geändert hatte. Die Antwort lautet: Es war der gleiche Sebastian Kurz. Das hat die Grünen nicht gehindert da reinzugehen. Man muss ihnen zugutehalten, dass man zu diesem Zeitpunkt sagen konnte, die ÖVP ist die stärkste Partei und die Grünen konnten eine Richtungsänderung herbeiführen. Jetzt stellt man anhand der Chatprotokolle fest, dass es sich um einen Mann handelt, dessen Methoden sich von denen Heinz-Christian Straches relativ wenig unterscheiden; der mit Reinhold Mitterlehner den eigenen Parteivorsitzenden in einer Weise gemobbt hat, wie man das in der europäischen Politik noch nicht gesehen hat. Der auch nicht davor zurückschreckte, die Frage zu stellen: „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“, um einen eventuellen Erfolg einer Regierung zugunsten von Familien zu sabotieren.
profil: Was würden Sie von den Grünen erwarten?
Schulz: Sie müssen sich der Frage stellen: Ist eigentlich die Grenze des moralisch Erträglichen überschritten? Kann Kogler sagen „Er ist zurückgetreten, jetzt ist es gut“? Das würde ich akzeptieren, wenn Herr Kurz und sein Team ganz aus der Politik in Österreich ausgeschieden wären. Aber nein! Kurz zieht weiterhin die Fäden.
profil: Viele versuchen jetzt eine Deutung des Charakters von Kurz. Wie ist er so geworden, warum hat er so agiert? Manche führen es auf sein jugendliches Alter zurück, in dem er in Spitzenpositionen aufgestiegen ist. War er zu wenig gefestigt? Ist das der Grund?
Schulz: Nein, das hat nichts mit dem Alter zu tun. Kurz ist ein Karrierist, der mit seiner Prätorianergarde um sich herum ein Grundprinzip hat: Der Zweck heiligt die Mittel. Und der Zweck war: Einer für alle und alle für Sebastian Kurz. Allein die Sprache, die in diesen Chatprotokollen verwendet wird, zeigt, das ist ein Mann am Werke, der selbstverliebt ist und über dieses hohe Maß an Selbstverliebtheit eine Art Gefolgschaft generiert, die es in dieser Form selten gibt.
profil: Und er war politisch erfolgreich.
Schulz: Absolut. Deshalb habe ich ihn für so gefährlich gehalten. Viktor Orban (Anm.: Ungarns Ministerpräsident) oder Jaroslaw Kaczynski (Anm.: Chef der polnischen Rechts-Partei PiS) sieht man an der Art ihres öffentlichen Auftritts ihren Machtwillen an, sie schwitzen den aus jeder Pore und lassen auch keinen Zweifel daran, dass ihnen dazu jedes Mittel recht ist. Bei Sebastian Kurz war genau das Gegenteil: Sein serviles, fast devotes Auftreten, dieses glatte Schwiegersohn-Image war in meinen Augen mit das Gefährlichste, weil es den Eindruck vermittelte, dass er eben anders war. Bei ihm passt die öffentliche Anmutung und das tatsächliche politische Handeln nicht zusammen. Das machte ihn und macht ihn immer noch zu einer gefährlichen Person.
profil: Kommen wir zur deutschen Politik: Alles andere als der Beginn von formellen Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP wäre eine Sensation. Glauben Sie, wird die Regierungsbildung so problemlos vonstattengehen, wie es jetzt aussieht?
Schulz: Problemlose Koalitionsverhandlungen gibt es nicht. Aber ich glaube, dass der Wille, Lösungen zu finden, bei allen Parteien ausreicht, um eben diese Lösungen zu finden.
profil: Wie sehen Sie die Rolle der FPD in einer solchen möglichen Ampel-Regierung? Sie unterscheidet sich wirtschaftspolitisch stark von SPD und Grünen und wirkt in dieser Konstellation wie ein Fremdkörper.
Schulz: Die Ausgangslage der drei Parteien ist recht klar: Die FDP macht die Steuerpolitik zu ihrem zentralen Thema, die Grünen den Klimaschutz, die SPD soziale Stabilität. Das Kunststück wird darin bestehen, das miteinander zu versöhnen, und das halte ich für möglich. Die FDP ist eine Partei, die ideologisch breiter aufgestellt ist, als das auf den ersten Blick erscheint. Schon vor einem dreiviertel Jahr wurde mit der Ernennung von Volker Wissing zum Generalsekretär ein Mann nach Berlin geholt, der in Rheinland-Pfalz eine erfolgreiche Ampel-Koalition gebildet hatte. Daran konnte man bereits ablesen, dass die FDP eine solche Variante nicht ausschließt.
profil: Nach der Bundestagswahl 2017 ließ die FDP die Koalitionsgespräche mit CDU/CSU und Grünen platzen, weil ihr die Tendenz zu links war. Kann da eine noch viel linkere Ampel gutgehen?
Schulz: Die Parteienlandschaft ist in Bewegung. Die Kategorie links-rechts spielt zwar eine Rolle, aber ich glaube, die gesellschaftliche Strömung, die im Volk jetzt mehrheitsfähig ist, ist eine wirtschaftsfreundliche, ökologische Wende in sozialer Verantwortung. Und das ist eigentlich das Rezept einer Ampel-Koalition.