Martin Selmayr: Das liebe Monster
Martin Selmayr ist ein Mann mit vielen Namen, und die meisten davon sind wenig schmeichelhaft. „Junckers Monster“ ist die gängigste Umschreibung (und stammt von Juncker selbst), das „Monster vom Berlaymont“ nannte ihn das Magazin „politico“, „Brüssels Rasputin“ und den „heimlichen Herrscher der EU“ der deutsche „Spiegel“. Martin Selmayr gilt als brillant, aber skrupellos.
Kann das wirklich der Mann sein, der da im ersten Stock des Hauses der EU im 1. Wiener Gemeindebezirk auf einem Ledersessel sitzt und über Europa doziert? Ein höflicher Herr Anfang 50 mit Bubengesicht, der unentwegt spricht und von einem Thema zum nächsten wechselt?
Es ist jetzt schon einige Jahre her, dass Selmayr es in die internationalen Schlagzeilen schaffte. Die Bestellung des Deutschen zum Generalsekretär der EU-Kommission im Jahr 2018 war höchst umstritten, der damalige Kabinettschef von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker musste für den Topjob innerhalb weniger Minuten gleich zwei Mal befördert werden. Viele der wenig schmeichelhaften Attribute stammen aus dieser Zeit. Doch dann wurde Selmayr nach Wien versetzt, seit Ende 2019 leitet er das Verbindungsbüro der EU-Kommission in Österreich – und die internationalen Medien interessierten sich kaum mehr für ihn.
Blutgeld wird jeden Tag mit der Gasrechnung nach Russland geschickt.
Bis vergangene Woche. Bei einer Podiumsdiskussion am Rande einer Kunstmesse hatte Selmayr vor einer Handvoll Gästen erklärt, dass „jeden Tag Blutgeld mit der Gasrechnung nach Russland geschickt“ werde und Österreich damit Putins Krieg gegen die Ukraine mitfinanziere. Die FPÖ regierte prompt und forderte Selmayr Abberufung, Europaministerin Karoline Edtstadler rügte die „unseriösen“ und „völlig einseitigen“ Äußerungen. Außenminister Alexander Schallenberg zitierte den Spitzenbeamten offiziell zu sich, die EU-Kommission in Brüssel sprach von „bedauerlichen und unangemessenen Aussagen“ – und Medien wie der „Spiegel“ und „politico“ berichteten seit Langem wieder einmal über Selmayr.
Keine Reue
Besonders diplomatisch waren seine Worte wohl nicht, doch inhaltlich geben ihm nicht nur die Oppositionsparteien SPÖ und NEOS recht, auch die Grünen können den Aussagen des Spitzenbeamten etwas abgewinnen. Die Wortwahl sei nicht ideal gewesen, so der Tenor, aber im Grunde habe Selmayr recht. Es stimmt: Das Geld, das Österreich für die Gaslieferungen nach Russland überweist, fließt in die Kriegskasse Moskaus und finanziert den brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine mit. Rund sieben Milliarden Euro waren es allein im Jahr 2022. Und die Abhängigkeit von russischem Gas ist nach wie vor hoch: Mehr als 60 Prozent des Gesamtvolumens bezieht Österreich aus Russland.
Als „Hindreschen, weil die Leute das hören wollen“ bezeichnen Regierungskreise das Vorgehen Selmayrs. Der EU-Mann mache sich unfreiwillig zum Kollaborateur der FPÖ.
Selmayr sieht das freilich anders. Erstens habe er nicht nur von Österreich gesprochen, immerhin beziehen auch andere Mitgliedstaaten Gaslieferungen aus Russland. Zweites sei die zugespitzte Formulierung eine Antwort auf die Behauptung eines Wortführers aus dem Publikum gewesen. Der hatte gesagt, dass Brüssel wegen der Unterstützung der Ukraine „Blut an den Händen“ hätte.
Er ist mir sofort aufgefallen, weil er ein guter Kommunikator ist und selbst komplexe Sachverhalte verständlich erklären kann.
Bereut Selmayr seine Worte?
Er bedaure, dass seine Aussagen zugespitzt und aus dem Kontext gerissen an die Öffentlichkeit gelangten, so Selmayr. Doch er stehe zu seinen Worten: „Österreich kann die Abkehr vom Gas aus Russland schaffen. Je schneller, desto besser.“
Am vergangenen Montag trat Selmayr beim Generalsekretär des Außenministeriums Nikolaus Marschik an, wirkliche Kopfwäsche dürfte es keine gewesen sein: Die beiden kennen einander seit Jahren, es soll ein Gespräch in eher freundschaftlichem Ton gewesen sein.
Es ist nicht das erste Mal, dass Martin Selmayr der Regierung in Wien auf die Zehen tritt. Als die ÖVP vor Kurzem das Narrativ vom angeblich bevorstehenden Bargeld-Verbot übernahm und das Bargeld in der Verfassung verankern wollte, wies der promovierte Europarechtler darauf hin, dass dies nicht nötig sei: Das Euro-Bargeld sei sowieso im Vertragsrecht der EU festgeschrieben.
Einen echten Zwist mit der Regierung gab es während der Corona-Pandemie. Der damalige Kanzler Sebastian Kurz beschwerte sich bei der EU-Kommission über eine angebliche „Ungleichverteilung“ von Impfstoffen auf die Mitgliedsländer, dabei war das Vorgehen lange im Vorfeld mit den EU-Ländern abgestimmt gewesen. Kurz schob das Versagen auf den Gesundheitsbeamten Clemens Martin Auer und setzte ihn ab. Selmayr lästerte auf Twitter: „Wenn etwas schiefläuft in Europa, dann ist ‚die EU‘ schuld – selbst wenn Regierungen nicht mit ihren eigenen Beamten gesprochen haben.“
Seine klaren Ansagen machten Selmayr in Österreich rasch zum Liebling der Medien, der Spitzenbeamte war mehrmals zu Gast in Diskussions- und Nachrichtensendungen des ORF – nicht selbstverständlich für den Leiter eines Verbindungsbüros. „Er mag die Bühne“, heißt es aus EU-Kreisen, „doch neben ihm hat nicht mehr allzu viel Platz“. Nach seiner Ankunft in Wien habe Selmayr etliche Einladungen von Wirtschaftsbossen und Medien bekommen – auch das eher ungewöhnlich für einen EU-Vertreter seiner Position.
Im Lauf seiner Karriere hat Selmayr überall verbrannte Erde hinterlassen. Er ist mit allen Wassern gewaschen.
Die hohe Aufmerksamkeit, die Selmayr in Wien genießt, hat mit seinen Jahren in Brüssel zu tun und damit, dass er international bestens vernetzt ist. Jahrelang war er einer der mächtigsten Männer in der Hauptstadt der EU.
Verbrannte Erde
Selmayrs Karriere in Brüssel beginnt 2004 als Sprecher der EU-Kommissarin Viviane Reding. „Er ist mir sofort aufgefallen“, sagt Reding im Gespräch mit profil, „weil er ein guter Kommunikator ist und selbst komplexe Sachverhalte verständlich erklären kann.“
Sechs Jahre später steigt Selmayr zum Kabinettschef Redings auf, mittlerweile ist die Luxemburgerin Justizkommissarin und Vizepräsidentin der EU-Kommission.
Bei den Europawahlen von 2014 tritt Redings Landsmann Juncker für Europas Konservative als Spitzenkandidat an und holt Selmayr als Leiter seiner Wahlkampagne. Vorgeschlagen hatte ihn sein politischer Ziehvater, der ehemalige CDU-Politiker Elmar Brok.
In Junckers Amtszeit folgt eine Krise auf die nächste. Selmayr agiert als Junckers rechte Hand, nicht wenige meinen, es sei in Wahrheit er, der die politischen Entscheidungen treffe. Als Kabinettschef ist Selmayr bei wichtigen Verhandlungen dabei, er hilft mit, Griechenland im Euro zu behalten und damit vor dem finanziellen Kollaps zu bewahren. Auch die Flüchtlingskrise und das Brexit-Referendum fallen in Junckers Amtszeit.
Selmayr macht sich viele Feinde und wenige Freunde in diesen Jahren. Kritiker halten ihn für einen intriganten Machtmenschen, rücksichtslos und eitel. Die frühere Haushaltskommissarin Kristalina Georgiewa beschwert sich gar in aller Öffentlichkeit, dass der Deutsche die Arbeitsatmosphäre „vergiftet“.
Als Selmayr dann über Nacht zum Generalsekretär der EU-Kommission ernannt wird, steht der Vorwurf der Postenschacherei im Raum. Die Empörung ist groß, das Europaparlament verlangt einen Untersuchungsausschuss, die Bürgerbeauftragte der EU spricht von einem Bruch von EU-Recht – und Juncker droht gar mit Rücktritt, sollte Selmayr gehen müssen. Die hitzige Debatte befeuert den Eindruck, dass Juncker ohne Selmayr nicht kann und es der Deutsche ist, der de facto die Geschicke der Behörde leitet.
„Im Lauf seiner Karriere hat Selmayr überall verbrannte Erde hinterlassen“, heißt es aus Regierungskreisen, „er ist mit allen Wassern gewaschen.“
Selmayr ist intelligent und rhetorisch brillant, geben selbst seine schärfsten Kritiker zu. „Messerscharfer Verstand, schlagfertig, nicht leicht zu beeindrucken“ – so beschreibt ihn eine Person aus seinem Umfeld. Selmayr spricht sieben Sprachen, er kann aus dem Stegreif zu jedem Thema eine profunde Antwort liefern und Kritik gekonnt parieren. „Er ist unkompliziert, großzügig und überraschend unprätentiös“, sagt einer, der ihn lange kennt. „Er spricht lange und viel, hat aber auch einiges zu sagen.“
In seinem Brüsseler Büro im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes hing hinter Selmayrs Schreibtisch eine gerahmte Kopie der Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, in der Frankreichs Außenminister eine „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ forderte. In seinem Zimmer im Haus der EU in Wien blickt Selmayr auf ein Foto Junckers. Das Porträt der aktuellen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hängt etwas weiter ums Eck.
Er ist ein großes politisches Genie.
Bis heute verbindet Selmayr ein starkes Band mit Juncker. „Er ist ein großes politisches Genie“, sagt er. Sie seien in einem symbiotischen Verhältnis zueinander gestanden. Er, Selmayr, habe das Haus gemanagt, der Chef sei aber zweifellos Juncker gewesen. Ab und zu treffe er ihn in Brüssel zum Mittagessen.
Auf einem Glastisch vor der Fensterfront stehen drei Fotos, es wirkt ein bisschen wie ein Schrein. Eines zeigt den berühmten Kniefall des BRD-Bundeskanzlers Willy Brandt 1970 vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto; auf dem zweiten sind Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterrand 1984 Hand in Hand auf dem Soldatenfriedhof in Verdun zu sehen; auf dem dritten neigen Angela Merkel und Emmanuel Macron einander in liebevoller Zuneigung die Köpfe entgegen, sie sehen aus wie ein Liebespaar.
Es sind unterschiedliche Parteileute aus verschiedenen Epochen, aber alle stehen symbolisch für die europäische Einigung. Wer diesen Raum betritt, soll sehen: Selmayr hat die schwierige Geschichte Europas nicht vergessen, will aber stets das Gute darin sehen.
Radler-Outfit statt Anzug
Selmayrs Weg zum Freund und Verteidiger des europäischen Projekts beginnt Mitte der 1980er-Jahre. Er ist 15 Jahre alt, als seine Großeltern mit ihm nach Frankreich reisen. In Verdun steht Selmayr auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, der Boden ist mit Patronenhülsen übersät, die weißen Holzkreuze auf dem Gräberfeld reichen bis zum Horizont. Es liege auch in seiner Verantwortung, dass so etwas nie wieder geschieht, sagt der Großvater dem jungen Mann. Für Selmayr ist es ein Moment des Erwachsenwerdens.
Durch die jahrelange Brieffreundschaft mit einem gleichaltrigen Franzosen wird er schließlich politisiert, jede Woche schreibt Selmayr auf Französisch, der Kollege auf Deutsch. Später kommen noch zwei weitere Schüler dazu, einer aus der DDR, einer aus Polen. Die vier gründen eine europapolitische Zeitschrift, in der junge Leute über ihre Erfahrungen schreiben. Selmayr editiert die Zeitung bis zum Ende seines Studiums mit.
Als Martin Selmayr 1970 in Bonn geboren wird, ist sein Vater persönlicher Referent des späteren Bundespräsidenten Karl Carstens von der CDU. Bis heute gilt der EU-Spitzenbeamte als der Partei nahestehend, Mitglied war er nie.
Selmayr studierte Jus in Passau, London und Genf, seine Dissertation schrieb er über die rechtlichen Grundlagen des Euro. Nach Brüssel kam er, um das Büro der Bertelsmann AG zu leiten. Wenig später begann sein kometenhafter Aufstieg in der EU-Kommission.
Als Generalsekretär der Brüsseler Behörde unterstanden ihm rund 32.000 Mitarbeiter, heute, in der Vertretung der EU-Kommission in Wien, sind es 20. Nach Österreich zu kommen war, objektiv betrachtet, ein gewaltiger Karriere-Rückschritt. Er sei damals von der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in die Verbannung geschickt worden, lautet die gängige Erklärung. In Brüssel sei kein Platz für zwei Deutsche in Spitzenpositionen gewesen.
Doch Selmayr beharrt stets darauf, dass es eine persönliche Entscheidung war, die er nicht bereue. Österreich, betont er immer wieder, sei das schönste Land in der EU.
Tatsächlich scheint sich Selmayr hier gut eingelebt zu haben. Den dunklen Anzug lässt er mitunter hängen und erscheint in Radler-Montur, auch den einen oder anderen Landeshauptmann und Bürgermeister hat er in diesem Outfit begrüßt. Im Sommer tourt er mit dem Fahrrad durch Österreich, aktuell erklimmt er die Gipfel der EU, zuletzt etwa den Garmil im Großen Walsertal (Vorarlberg) und die Gratlspitze in Alpbach (Tirol). Unermüdlich erklärt er allen, die es wissen wollen, und auch jenen, die es nicht interessiert, Europa, verwebt große politische Erzählungen mit persönlichen Geschichten und führt aus, warum die EU nicht an allem schuld ist.
Als „ADHS-Kind der Brüsseler Diplomatie“ hat ihn der „Spiegel“ einmal beschreiben. „Mein liebes Monster“ nannte Juncker ihn, weil er ständig arbeitete und wenig schlief. In Wien hat diese Umtriebigkeit ihn – und damit auch die Anliegen Brüssels – umso sichtbarer gemacht.
Sollte von der Leyen ihn nicht verlängern, läuft Selmayrs Posten in Wien am 31. Oktober aus. Er würde gern bleiben, kann sich aber auch mit dem Gedanken anfreunden, nach Brüssel zurückzukehren. Aus EU-Kreisen heißt es, die Regierung in Wien wolle Selmayr vor den Europa- und den Nationalratswahlen im kommenden Jahr loswerden. Aus der Regierung heißt es, er verkenne seine Rolle und benehme sich wie ein Oppositionspolitiker.
Für einige ist das Leben ohne „Junckers Monster“ bestimmt ein Stückchen bequemer.