Martin Staudinger: Die große Chance

Es wäre weitaus vernünftiger, in die Flüchtlinge zu investieren, statt bloß über sie zu jammern.

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Wenn diese Ausgabe von profil erscheint, ist der – sozusagen offizielle – Beginn der Flüchtlingskrise auf den Tag genau ein Jahr her: In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 erreichten Tausende Kriegsvertriebene und Migranten nach dem sogenannten „March of Hope“ die österreichische Grenze, rund eine Million weitere folgte in den Monaten danach.

Seither wird viel darüber gestritten, wie es dazu kam, wer dafür verantwortlich ist, was danach passierte und welche Konsequenzen noch daraus erwachsen werden. Mit überschaubaren Erkenntnissen: Optimisten beharren ebenso stur auf der Willkommenskultur wie Pessimisten auf dem bevorstehenden Untergang des Abendlandes. In Österreich hat sich die Regierung bereits recht einhellig festgelegt, nach welcher der beiden Zielgruppen sie sich richtet. Bundeskanzler, Außen-, Innen- und Verteidigungsminister versuchen, sich gegenseitig (und wenn’s geht, auch noch die FPÖ) mit Hardliner-Attitüden in der Flüchtlingsfrage zu übertreffen. Das mag als Signal nach außen realpolitisch durchaus sinnvoll erscheinen: Wer auch nur halbwegs bei Trost ist, kann sich nicht wünschen, dass auf der Balkanroute wieder Verhältnisse herrschen wie vergangenes Jahr.

Das Versprechen einer restriktiven Politik täuscht aber über eine entscheidende Tatsache hinweg: Jene Länder, die seit September 2015 besonders viele Kriegsvertriebene und Migranten aufgenommen haben, werden nie mehr zum Status quo ante zurückkehren, also zum Zustand vor der Krise.

Betrachtet man die Bevölkerungsbilanz der 29 reichsten Staaten der Erde, kommt auf zwei einheimische Neugeborene ein Migrant.

Mehr als eine Million Menschen sind nach Österreich, Deutschland und Schweden gekommen. Die Mehrheit davon wird bleiben, weitere werden folgen. Das kann weder ein scharfes Grenzregime noch eine rigide Abschiebepraxis substanziell ändern. Wir können das bejammern und untätig darauf warten, dass jetzt alles ganz schrecklich wird. Oder wir können es als Chance begreifen und das Beste daraus machen – weil das allen, auch uns, am meisten bringt.

Dieser Befund stammt nicht von einem „Gutmenschen“, sondern vom deutschen Politologen Herfried Münkler, der wegen seiner konservativen Linie in außen- und sicherheitspolitischen Fragen eine absolute Reizfigur vieler Linker ist. Gemeinsam mit seiner Frau, der Literaturwissenschafterin Marina Münkler, hat er gerade das Buch „Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft“ veröffentlicht, in dem die Flüchtlingskrise und ihre Folgen in eindrucksvoller Art und Weise analysiert werden – ohne die übliche Festlegung auf die Seite der Willkommenskultur oder jene ihrer Gegner, dafür mit umso mehr faktenbasierter Einordnung.

Den Überlegungen der Autoren liegt ein kaum widerlegbarer Befund zugrunde: Migration ist der Normalzustand auf der Welt; Fluchtbewegungen wie jene des vergangenen Jahres sind dabei durch akute Ereignisse ausgelöste Ausnahmen und Höhepunkte.

Und Europa hat sich längst zu dem entwickelt, was in Österreich noch immer kein Politiker laut zu sagen wagt: zu einer Einwanderungsgesellschaft – nicht erst seit dem 4. September 2015, sondern bereits seit Jahrzehnten. Betrachtet man die Bevölkerungsbilanz der 29 reichsten Staaten der Erde, kommt auf zwei einheimische Neugeborene ein Migrant. So wie zwischen dem 11. und dem 19. Jahrhundert die Menschen vom Land in die Städte strömten, so ziehe es heute die Bevölkerung des armen globalen Südens in den reichen Norden, konstatieren die Münklers.

Europa müsse schon aus reinem Eigennutz in die Integration der Neuankömmlinge, vor allem aber ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt investieren.

Gleichzeitig ist nicht zu leugnen, dass Europa ein dramatisches demoskopisches Problem hat. Ohne Zuwanderung und bei gleichbleibender Geburtenrate würde die Zahl der arbeitenden Europäer von 266 Millionen (2005) auf 200 Millionen (2025) und schließlich 160 Millionen (2050) sinken. Hier sehen Marina und Herfried Münkler ebenfalls eine Parallele zur Migration vergangener Jahrhunderte: Die Städte hatten damals ebenso Bedarf an neuen Einwohnern wie heute die Industrieländer.

Dass diese Dynamik derzeit besonders stark ist, führt zu Verwerfungen und Konflikten. Der Widerspruch zwischen einer weitgehend modernen, säkularen Gesellschaft und überwiegend islamisch-traditionell geprägten Neuankömmlingen macht die Sache nicht einfacher. Die besonders in Österreich stark angespannte Arbeitsmarktsituation tut ein Übriges dazu.

Aber alle diese Probleme lassen sich nicht wegzaubern, die Flüchtlinge und Migranten schon gar nicht. Letzteres wäre auch keineswegs wünschenswert, argumentieren Marina und Herfried Münkler. Europa müsse schon aus reinem Eigennutz in die Integration der Neuankömmlinge, vor allem aber ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt investieren. Zum Beispiel im Hinblick auf die Sozialsysteme: Sie sind nur dann dauerhaft zu erhalten, wenn die Zahl der Beitragszahler trotz einer alternden Bevölkerung gleichbleibt oder steigt – auch wenn das eine vorübergehende finanzielle Belastung genau dieser Sozialsysteme bedingt.

Letztlich bleibt bei rationaler Betrachtung der Lage eine einfache Erkenntnis: „Wer auf das Scheitern der Integration setzt, verliert in jedem Fall“, heißt es in Münklers Buch, „und nur wer auf den Erfolg setzt, hat eine Gewinnchance.“

Und das ist ein Satz, den man auch von der Politik gerne hören würde.