Martin Staudinger: Das Humanitätsdilemma
Nichts eignet sich besser, um moralische Verortung in der Asyl- und Migrationsdebatte zu betreiben, als der Hinweis auf die Genfer Flüchtlingskonvention, kurz GFK. Wer auf ihre Einhaltung nach Punkt und Beistrich pocht, weiß sich auf der richtigen Seite; wer auch nur bezichtigt wird, daran zu rühren, hat schon verloren.
Dass jegliches Ansinnen, über das Abkommen zu debattieren, reflexhaft zurückgewiesen wird, ist durchaus verständlich: Die Erfahrung lehrt, dass dahinter nur selten konstruktive Absichten stehen – und umso öfter Versuche, die Standards für Flüchtlinge herunterzuschrauben.
Dennoch wird die GFK, die seit 65 Jahren die Rechte von Personen definiert, die aufgrund von Verfolgung aus ihrer Heimat flüchten, immer öfter auch von unverdächtiger Seite infrage gestellt. Erst vor wenigen Tagen forderte etwa David Goodhart, Leiter des linksliberalen britischen Thinktanks Demos, eine Neudefinition der Konvention.
„Wir haben das Versprechen auf Schutz im Lauf der Jahre immer und immer weiter ausgeweitet – in dem sicheren Gefühl, dass schon keiner kommen wird“, gab Goodhart in einem Interview mit der deutschen „Zeit“ zu bedenken: „Nach dem jetzt geltenden Recht könnten Millionen von Menschen locker begründen, warum sie hier (in Europa, Anm.) Schutz beanspruchen.“ Der Umfang, in dem das schon jetzt geschehe, sei „weder für sie noch für uns gut“.
Goodhart spielt unter anderem darauf an, dass die GFK, 1951 gezielt im Hinblick auf die Folgen des Zweiten Weltkrieges in Europa formuliert, 1967 zu einem zeitlich und räumlich nicht eingeschränkten Schutzprotokoll ausgeweitet wurde. Damit trifft der Brite einen wunden Punkt. Tatsächlich bestreitet nicht einmal das UN-Flüchtlingshochkommissariat ernsthaft, dass die GFK vor den aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen zu versagen droht – und weist lediglich etwas matt darauf hin, dass „die Konvention nach wie vor die beste Basis für den Flüchtlingsschutz darstellt, nicht zuletzt aufgrund der hohen Akzeptanz durch die vielen Unterzeichnerstaaten“.
Allerdings gibt gerade Letzteres besonders wenig Auskunft über die Praxis im Umgang mit Schutzsuchenden. Die Türkei beispielsweise anerkennt die GFK nur dermaßen eingeschränkt, dass sie theoretisch keinen einzigen syrischen Flüchtling aufnehmen müsste; trotzdem hat sie rund 2,5 Millionen Kriegsvertriebene aus dem Nachbarland akzeptiert. Dänemark wiederum, das erste Land, das 1951 die GFK unterzeichnete, legt die Bestimmungen extrem restriktiv aus und gewährt kaum jemandem Asyl.
Gleichzeitig sagt die Zahl der Flüchtlinge wenig über ihren Anspruch auf Anerkennung nach der Konvention aus: Bekanntermaßen führt das Fehlen einer europäischen Migrationspolitik dazu, dass Asylanträge vielfach als Methode zur Einwanderung benutzt werden.
Dass sich dieser Trend noch verstärken wird, ergibt sich allein aus der demografischen Dynamik der an Europa grenzenden Kontinente. Dort geht der Bevölkerungsanstieg unvermindert weiter. Senegal wächst dieses Jahr netto um fast 200.000, Ägypten um 900.000, Nigeria um zwei Millionen und ganz Afrika um 30 Millionen Einwohner. Geschätzte 27 Millionen davon haben keine Perspektive; viele leben aber in Verhältnissen, die sie nach derzeitigen Standards zumindest für ein ernsthaftes Asylverfahren qualifizieren würden.
Die Debatte über die GFK sollte nicht jenen überlassen bleiben, die letztlich nur ihre Abschaffung im Sinn haben.
Nein, es werden sich klarerweise nicht alle, nicht einmal der größte Teil von ihnen, Richtung Europa aufmachen. Und vielleicht passiert ja auch das Unverhoffte und Afrika erlebt ein Wirtschaftswunder, das den Auswanderungsdruck generell sinken lässt. Wahrscheinlicher sind aber weitere Krisen, Kriege und Katastrophen, die neue Fluchtbewegungen auslösen.
Vor diesem Hintergrund wäre jetzt die richtige Zeit, über eine Modernisierung der GFK nachzudenken: Je schwieriger es ist, ihr zu entsprechen, desto irrelevanter wird sie – auch, weil die politische Verlockung steigt, ihre Bestimmungen auszuhölen. Der Wettbewerb an Grauslichkeit, den sich Verteidigungs- und Außenminister in Österreich diesbezüglich gerade liefern, zeigt das eindrucksvoll.
Das Dilemma: Es ist natürlich überhaupt nicht die richtige Zeit, die GFK infrage zu stellen. Als sie ausgehandelt wurde, stand die Welt noch unter dem Schock des Holocaust. Entsprechend groß war die Bereitschaft, gemeinsame Lösungen zu finden. Ein vergleichbarer Altruismus existiert gegenwärtig nicht – und damit auch kaum eine Chance auf eine adäquate, weltweit gültige Neufassung.
Vielleicht wäre es ein Anfang, das zumindest auf europäischer Ebene zu versuchen. Bei aller Zerstrittenheit gerade in der Asylfrage hat die EU immer noch das Potenzial, kraft ihrer Werte eine neue Interpretation zu formulieren, die allem Rechnung trägt: der Verantwortung einer auf humanitären Grundprinzipien basierenden Staatengemeinschaft ebenso wie der Tatsache, dass diese Verantwortung auch Grenzen haben kann.
Notwendig wäre es. Die Debatte über die GFK sollte nicht jenen überlassen bleiben, die letztlich nur ihre Abschaffung im Sinn haben. Denn die Konvention ist weiterhin unverzichtbar. Als Abkommen mit theoretisch universeller, praktisch aber immer geringerer Anwendbarkeit nutzt sie freilich niemandem. Auch nicht den Flüchtlingen.
[email protected] Twitter: @martstaudinger