Martin Staudinger: Scharf wie ein Schlachtermesser

Vor zwei Jahren wurde Sadiq Khan als erster Muslim Bürgermeister von London. Jetzt wird er hart kritisiert – aber nicht wegen seines Glaubens.

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Das Wochenmagazin „The Spectator“ erscheint in London und gilt selbst für dortige Verhältnisse als besonders bissig. Als Leitmedium der rechtskonservativen Intelligenz Großbritanniens schreibt es seit 1828 mit Verve gegen die Zumutungen der Gegenwart an, und dazu gehören zur Zeit neben der EU und der Labour Partei klarerweise auch die Zuwanderung und ihre Begleiterscheinungen. Insofern ist es nicht überraschend, wie der „Spectator“ in seiner aktuellen Ausgabe über Sadiq Khan herzieht. Khan, zur Erinnerung, sorgte für Aufregung, als er 2016 zum Bürgermeister von London gewählt wurde: als erster Muslim, zudem mit Migrationshintergrund.

Inzwischen hat er die Hälfte seiner ersten Amtsperiode hinter sich gebracht. Das ruft natürlich nach einer Zwischenbilanz, und diese erledigt ein Kommentator des Magazins mit der Schärfe eines Schlachtermessers.

Khan, heißt es in seinem Text, habe so gut wie nichts zustandegebracht. Wohnungsnot, Verkehrschaos, Kriminalität: „Abseits der Gefilde von Presseaussendungen und Fernsehinterviews bleiben seine Leistungen ganz furchtbar hinter den Erwartungen zurück … Sadiq Khan ist ein lausiger Bürgermeister von London.“

Die harte Kritik dürfte für Khan, der aus der Labour Partei kommt, ärgerlich sein. In der ganzen Philippika fehlt jedoch ein Vorwurf: Der Text enthält weder das Wort „Muslim“ noch „Islam“. Khan wird ausschließlich für sein angebliches politisches Versagen filetiert. Sein religiöser Hintergrund ist kein Thema.

Vor zwei Jahren war das noch ganz anders. „London hat seinen ersten muslimischen Bürgermeister. Eine Frage der Zeit, bis dies auch bei uns kommt, wenn wir die Zuwanderermengen nicht raschest einbremsen“, schlug der FPÖ-Europaabgeordnete Harald Vilimsky damals Alarm. „Ab nun ist London endgültig in islamischer Hand“, schrieb die neu-rechte Website pi-news, die sich nach eigenen Angaben der Verbreitung „politisch inkorrekter“ Nachrichten verschrieben hat, worauf in ihrem Leserforum umgehend Panik ausbrach: Das kommende Weihnachtsfest werde wohl „das letzte“ sein, befürchtete ein User (profil 20/2016).

In einschlägigen Kreisen hält sich das Grauen bis heute. Immer wieder bejammern sogenannte alternative Medien die Zustände, die sich unter Khan angeblich in London breitgemacht haben. „So wandelt sich vor allem das Bild der Hauptstadt zunehmend, wo seit 2001 500 Kirchen geschlossen wurden, es aber gleichzeitig 423 neue Moscheen gibt“, berichtete etwa die FPÖ-nahe Internetplattform unzensuriert.at kürzlich. Und das vom österreichischen Kaufhausmillionär Ronald Seunig finanzierte Obskurantenmagazin „Alles Roger!“ behauptete erst vor wenigen Tagen, dass sich Khans Ehefrau Saadiya verschleiern müsse, und unkte, dass seit Beginn der Amtszeit des Bürgermeisters nicht von ungefähr ein „deutlicher Anstieg islamistischer Gewalttaten und Terroranschläge zu verzeichnen“ gewesen sei.

Kann es sein, dass die Religion eines Politikers keine Rolle für sein Amt spielt?

Die ersten beiden Behauptungen sind einfach zu widerlegen. Ein Klick führt zu ganzen Bildergalerien, die Saadiya Khan ohne Kopftuch oder gar Schleier zeigen. Zwei oder drei weitere Klicks führen zu Zahlen der UK Church Statistics, aus denen hervorgeht, dass in London allein zwischen 2005 und 2012 nicht weniger als 700 neue Kirchen eingeweiht wurden (vor allem von evangelikalen Zuwanderern aus Afrika, aber das sollte wahrhaftige Verteidiger des Christentums ja nicht stören).

Was die Verbindung des Bürgermeisters zu den Terroranschlägen der vergangenen Monate betrifft, schweigen sich alle ernstzunehmenden Quellen aus. Man mag natürlich einwenden, dass „Alles Roger!“ geheime Zusammenhänge entdeckt haben könnte, die dem Rest der Khan-kritischen britischen Presse sogar nach zwei Jahren intensiver Recherche verborgen geblieben sind – angesichts des Gesamteindrucks, den das Kaufhaus-Magazin vermittelt, entspricht diese Annahme allerdings nicht der allgemeinen Lebenserfahrung.

Wer heute London besucht, findet die Stadt so vor, wie sie durch ihre jahrhundertelange koloniale Prägung auch schon vor Khans Amtsantritt war: superbritisch und semi-asiatisch-afrikanisch-karibisch; cool und spießig; abgefuckt und herausgeputzt; bigott und ungläubig; abgründig und bieder – aber jedenfalls nicht durch die Umtriebe eines islamischen Bürgermeisters zur Gottesstadt mutiert.

Angesichts der Manie, mit der momentan jede Debatte, in der Muslime auch nur am Rande eine Rolle spielen, auf das Thema Religion verengt wird, kann man ab und zu ruhig an Sadiq Khan denken. Sein Beispiel erinnert daran, dass die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft mitnichten alles bestimmt, definiert und erklärt, was Leute den lieben Tag lang tun – gerade nicht, wenn sie im öffentlichen Bereich tätig sind. Muslime, Christen, Juden, Hindus, Pastafaris … sie können Lehrer, Medizinerinnen, Polizisten, Straßenbahnfahrerinnen, Juristen und sogar Bürgermeisterinnen sein. Solange ihre Konfession dabei nicht der Profession in die Quere kommt (was, soweit man weiß, ohnehin eher selten der Fall ist), bleibt nur die Frage, ob sie einen guten Job machen. Oder eben einen lausigen.