profil: Was meinen Sie mit dem Wort Reflex?
Mendel
Wir müssen uns diese zwei Tage, den 7. und den 8. Oktober, anschauen. Da hat Israel noch nicht zurückgeschlagen, da sind in Gaza noch keine Kinder unter den Trümmern gestorben. Da hat es nur den Angriff der Hamas gegeben. Ich habe von breiten Teilen der Bevölkerung keine Empathie gegenüber Jüdinnen und Juden gespürt. Es gab da nicht das reflexhafte Mitgefühl, das nach anderen Terroranschlägen zu vernehmen war.
Was kann man dagegen tun?
Mendel
Es hat sich gezeigt, dass die Festlegung auf eine Konfliktpartei die Urteilskraft über konkrete Ereignisse völlig außer Kraft setzt. Wer mit der Solidarität mit Palästinensern die Rechtfertigung von solchen Gräueltaten wie am 7. Oktober verbindet, ist Teil des Problems. Weder Palästinenser noch Israelis vor Ort brauchen blinde Unterstützer, die jegliche Brutalität gutheißen, vorausgesetzt, sie kommt von der "richtigen Seite". Es geht nicht darum, ob jemand proisraelisch oder propalästinensisch ist. Wir müssen genau hinschauen, welche Kräfte innerhalb der palästinensischen und der israelischen Gesellschaft unterstützenswert sind. Diese Arbeitsmaxime ist wichtiger denn je. Wenn jemand glaubt, mit der Verharmlosung der Hamas ist der palästinensischen Sache geholfen, ist er auf dem Holzweg. Die Hamas ist der Feind der Palästinenser, sie ist immer mit Gewalt auch gegen gemäßigtere und progressive palästinensische Kräfte vorgegangen. Ihre Ideologie ist nicht nur antisemitisch, sondern zutiefst frauen- und homofeindlich. Die Zukunft kann nur sein, die extremistischen Kräfte auf beiden Seiten zu schwächen, so gut wir das aus Europa können, und die gemäßigten zu unterstützen.
Im deutschsprachigen Raum werden gerade viele Veranstaltungen abgesagt, die dem propalästinensischen Lager nahestehen. Ist das der richtige Zugang?
Mendel
Ich halte mittlerweile für Teile dieser Bewegung einen ähnlichen Umgang wie mit der AfD für sinnvoll. Ich bin, auch da, gegen Auftrittsverbote, weil sie nichts bringen. Das bestätigt nur ein Opfernarrativ. Aber für mich ist klar, dass ich mit ihnen nichts gemeinsam habe. Es braucht ein neues, linkes Selbstverständnis, das statt dem Partikularismus den Universalismus ins Zentrum rückt.
Aber gibt es nicht auch andere Teile dieses Lagers? Treffen die Verbote nicht zum Teil auch Personen und Veranstaltungen, die um Frieden und Dialog bemüht sind?
Mendel
Ich bin gegen Verbote von Veranstaltungen. Meine Position ist hier prinzipiell: Der Staat darf nur in äußerst extremen Situationen Veranstaltungen verbieten. Beispielsweise, wenn konkrete Hinweise vorliegen, dass gewalttätige Aktionen geplant sind. Es gehört zur Meinungsfreiheit, dass auch Positionen geäußert werden dürfen, die man persönlich für grundfalsch hält. Um ein paar aktuelle Beispiele zu nennen: Coronaleugner, Putin-Anhänger und Verschwörungstheoretiker demonstrieren regelmäßig in Deutschland und Österreich. Man kann das als Skandal empfinden, aber es gehört zu unserer liberalen Gesellschaftsordnung. Von daher bin ich gegen pauschale Verbote von Pro-Palästina-Demos, auch wenn mir bewusst ist, dass man sich dort in den seltensten Fällen um Frieden und Dialog bemüht.
Sie bezeichnen sich selbst als Linken. Haben die Reaktionen auf den 7. Oktober Ihr politisches Koordinatensystem durcheinandergebracht?
Mendel
Als israelischer Linker fühlt man sich dieser Tage sehr allein. Das Gefühl, dass einen das eigene politische Lager verraten hat, ist stark. Nicht nur bei mir. Das ist eine Zäsur für uns. Es ist noch einmal deutlicher geworden, was ich davor schon befürchtet hatte: Mit großen Teilen jenes linken Lagers, das sich als postkolonial oder identitätspolitisch definiert, besteht keine gemeinsame moralische Grundlage. Das ist eine harte Aussage. Aber wenn Linke eine mörderische Terrororganisation zur antikolonialen Befreiungsbewegung umtaufen, dann habe ich mit ihnen genauso viel gemeinsam wie mit Rechtsextremen.
Aber es gibt auch andere Stimmen. Der deutsche Journalist Hanno Hauenstein, den man zu diesem Lager zählen kann, hat einen Essay veröffentlicht, in dem er die Relativierung des Hamas-Terrors aufs Schärfste verurteilt.
Mendel
Ich habe mich bei Hanno für seinen Text und seine mutige Position bedankt. Er zeigt, dass es möglich ist, dass man sich gegen die Regierung von Netanjahu und die Siedlungspolitik im Westjordanland stellen, sich nicht mit den Fundamentalisten in Israel gemeinmachen und gleichzeitig Solidarität mit den jüdischen Opfern empfinden und zum Ausdruck bringen kann. Aber wenn wir nachdenken, und es fällt uns nur dieser eine Text ein, dann beweist das, wie frappierend das Problem ist. Am 6. Oktober hätte ich das anders formuliert, aber ich fürchte, wir müssen uns eingestehen, dass diese postkoloniale Strömung ziemlich homogen ist.
Sind in Ihren Augen postkoloniale Theorien grundsätzlich zu dieser Tendenz verdammt, oder haben sich deren Vertreterinnen und Vertreter erst in den letzten Jahren verrannt?
Mendel
Man muss differenzieren. Frantz Fanon und Homi Bhabha, zwei der Gründerväter dieses Theoriengebäudes, haben großartige Beiträge geliefert, wie koloniale Strukturen auf westliche Gesellschaften nachwirken. Aber die zweite Generation hat eine Abkehr von universalistischen Werten vollzogen.
Was meinen Sie damit?
Mendel
Sie haben begonnen, gewisse Menschengruppen, weil sie nicht weiß oder vermeintlich marginalisiert oder indigen sind, moralisch zu überhöhen. Aber das ist eine Vorfestlegung. Damit kannst du dich nicht mehr auf konkrete politische Situationen einlassen. In dieser Hinsicht ist der 7. Oktober ein spannendes Fallbeispiel. Denn da hat die Hamas das „absolut Böse“ verübt. Und die Leute konnten sich entscheiden: Bleibe ich bei meiner Vorfestlegung und nehme die Palästinenser als Opfer wahr, und alles, was die Israelis machen, ist falsch? Oder bewerte ich die Situation neu und kann die Gräuel der Hamas als solche benennen? Und an diesem Test sind, aus meiner Sicht, weite Teile der postkolonialen Linken gescheitert.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihr Unbehagen mit dem "Kronzeugen"-Status, also dass Ihre Einschätzungen als Israeli in Deutschland immer ein besonderes Gewicht haben. Wie geht es Ihnen damit jetzt?
Mendel
Ich habe den Ruf als jemand, der in Dialog tritt. Auch während der Documenta 2022, bei der die indonesische Künstlergruppe Ruangrupa antisemitische Objekte ausgestellt hat, habe ich versucht, zu vermitteln und die Kuratoren beraten. Aber jetzt kann und will ich das nicht. Was in den letzten Wochen und Monaten gesagt worden ist, kann und will ich nicht relativieren. Jetzt liegt der Ball bei denen, die es am 7. Oktober versäumt haben, die Taten der Hamas klar zu benennen. Sie müssen, um mir eine Sprachformel auszuborgen, ihren Antisemitismus reflektieren.