Nahost

Mensch des Jahres: Shaked Haran und ihre Familie

Beim größten Terroranschlag seit der Gründung des Staates Israel werden drei Mitglieder der Familie von Shaked Haran getötet und sieben verschleppt. profil hat über Wochen mit Angehörigen Kontakt gehalten. Das ist ihre Geschichte.

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Als das Wochenende naht, beschließt Shaked Haran, nicht zum Familienessen bei ihrer Mutter zu fahren. Es ist eine spontane Entscheidung, aber sie wird weitreichende Folgen haben. Gut möglich, dass diese Entscheidung Shaked Haran das Leben gerettet hat. Genauer gesagt: zwei Leben. Die 34-jährige Anwältin ist schwanger. Sie freut sich auf ein ruhiges Wochenende zu Hause mit ihrem Partner und den zwei kleinen Söhnen.

Es ist Samstag, der 7. Oktober 2023.

Heute steht dieses Datum für einen der dunkelsten Tage der israelischen Geschichte und für eine historische Zäsur im Nahen Osten. Denn an jenem Samstag überfallen bis zu 3000 Kämpfer der islamistischen Terrororganisation Hamas vom Gazastreifen aus Israel, töten mehr als 1200 Menschen und verschleppen 240 als Geiseln. Der Staat Israel und mit ihm ein großer Teil der Weltöffentlichkeit stehen unter Schock. Es dauert drei Tage, bis die israelischen Streitkräfte die Kontrolle über das betroffene Gebiet wiedererlangen und alle Terroristen ausgeschaltet sind. Seit dem Holocaust wurden nicht mehr so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag ermordet. Israel erklärt der Hamas den Krieg und beginnt mit dem Raketenbeschuss des Gazastreifens.

Dies ist die Geschichte von Shaked Harans Familie, die wie viele andere Israelis an jenem Tag Opfer schrecklicher Verbrechen wurde. Ihre Vorfahren stammen aus Deutschland und Österreich und flüchteten vor den Nazis in das Gebiet, in dem ein Teil der Familie bis heute lebt. Am 7. Oktober wurden Angehörige aus drei Generationen verschleppt:

Ihre Mutter Shoshan Haran, 67.

Ihr Vater Avshalom Haran, 66.

Ihre Schwester Adi Shoham, 38.

Ihr Schwager Tal Shoham, 38.

Ihre Nichte Yahel, 3 und ihr Neffe Naveh, 8.

Ihre Tante Sharon Avigdori, 52, und deren Tochter Noam, 12.

Ihre Tante Lilach Kipnis, 60, und deren Mann Eviatar, 65.

Unter dem Titel „Drei Generationen, verschleppt von Hamas“ berichtete profil im Oktober erstmals über das Schicksal der Familie. Wir sind nach der Veröffentlichung mit den Angehörigen in Kontakt geblieben und haben ihren Kampf um die Freilassung der Geiseln – der bisweilen aussichtslos schien – dokumentiert. Für dieses Porträt hat profil mit zehn Verwandten und Freunden der Familie gesprochen. Sie leben in Israel, New Jersey, Berlin und Paris. Die Anrufe waren für sie nicht einfach. 

Darf man eine Familie stören, die im wahrsten Sinne des Wortes durch die Hölle geht? Was fragt man eine schwangere Frau, die nicht weiß, ob ihre Mutter noch am Leben sein wird, wenn sie ihre Tochter zur Welt bringt? Wie spricht man mit einem Großvater, der seine einzigen Enkelkinder verloren glaubt?

Die Menschen, die in diesem Porträt zu Wort kommen, kannten die Verschleppten unterschiedlich gut und stehen in verschiedenen Verwandtschaftsverhältnissen zu ihnen. Um den Überblick zu bewahren, haben wir hier einen Stammbaum der Familie abgebildet.

1. Eine Oase in der Wüste

Es gibt einen Ort, den alle in der Familie gut kennen: Beeri. Das ist der Name eines Kibbuz in der Negev-Wüste im Süden Israels. Kibbuz bedeutet „Versammlung“ oder auch „Kommune“. Darunter sind ländliche Kollektivsiedlungen mit Gemeinschaftseigentum und basisdemokratischen Strukturen zu verstehen. Geschätzt zwei Prozent der israelischen Bevölkerung leben in solchen Kibbuzim – auch Shoshan Haran, die Mutter der schwangeren Shaked. In Gesprächen entsteht der Eindruck, dass diese 67-Jährige der Mittelpunkt der weitverzweigten Familie ist. Familienmitglieder beschreiben sie als „Matriarchin“ im positiven Sinn und als sehr starke Frau. In ihrem Haus in Beeri kam die Familie regelmäßig zusammen. Harans Vorfahren – deutsche Juden – waren 1946 an der Gründung des Kibbuz beteiligt gewesen.

 

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.