Mensch des Jahres: Shaked Haran und ihre Familie
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Als das Wochenende naht, beschließt Shaked Haran, nicht zum Familienessen bei ihrer Mutter zu fahren. Es ist eine spontane Entscheidung, aber sie wird weitreichende Folgen haben. Gut möglich, dass diese Entscheidung Shaked Haran das Leben gerettet hat. Genauer gesagt: zwei Leben. Die 34-jährige Anwältin ist schwanger. Sie freut sich auf ein ruhiges Wochenende zu Hause mit ihrem Partner und den zwei kleinen Söhnen.
Es ist Samstag, der 7. Oktober 2023.
Heute steht dieses Datum für einen der dunkelsten Tage der israelischen Geschichte und für eine historische Zäsur im Nahen Osten. Denn an jenem Samstag überfallen bis zu 3000 Kämpfer der islamistischen Terrororganisation Hamas vom Gazastreifen aus Israel, töten mehr als 1200 Menschen und verschleppen 240 als Geiseln. Der Staat Israel und mit ihm ein großer Teil der Weltöffentlichkeit stehen unter Schock. Es dauert drei Tage, bis die israelischen Streitkräfte die Kontrolle über das betroffene Gebiet wiedererlangen und alle Terroristen ausgeschaltet sind. Seit dem Holocaust wurden nicht mehr so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag ermordet. Israel erklärt der Hamas den Krieg und beginnt mit dem Raketenbeschuss des Gazastreifens.
Dies ist die Geschichte von Shaked Harans Familie, die wie viele andere Israelis an jenem Tag Opfer schrecklicher Verbrechen wurde. Ihre Vorfahren stammen aus Deutschland und Österreich und flüchteten vor den Nazis in das Gebiet, in dem ein Teil der Familie bis heute lebt. Am 7. Oktober wurden Angehörige aus drei Generationen verschleppt:
Ihre Mutter Shoshan Haran, 67.
Ihr Vater Avshalom Haran, 66.
Ihre Schwester Adi Shoham, 38.
Ihr Schwager Tal Shoham, 38.
Ihre Nichte Yahel, 3 und ihr Neffe Naveh, 8.
Ihre Tante Sharon Avigdori, 52, und deren Tochter Noam, 12.
Ihre Tante Lilach Kipnis, 60, und deren Mann Eviatar, 65.
Unter dem Titel „Drei Generationen, verschleppt von Hamas“ berichtete profil im Oktober erstmals über das Schicksal der Familie. Wir sind nach der Veröffentlichung mit den Angehörigen in Kontakt geblieben und haben ihren Kampf um die Freilassung der Geiseln – der bisweilen aussichtslos schien – dokumentiert. Für dieses Porträt hat profil mit zehn Verwandten und Freunden der Familie gesprochen. Sie leben in Israel, New Jersey, Berlin und Paris. Die Anrufe waren für sie nicht einfach.
Darf man eine Familie stören, die im wahrsten Sinne des Wortes durch die Hölle geht? Was fragt man eine schwangere Frau, die nicht weiß, ob ihre Mutter noch am Leben sein wird, wenn sie ihre Tochter zur Welt bringt? Wie spricht man mit einem Großvater, der seine einzigen Enkelkinder verloren glaubt?
Die Menschen, die in diesem Porträt zu Wort kommen, kannten die Verschleppten unterschiedlich gut und stehen in verschiedenen Verwandtschaftsverhältnissen zu ihnen. Um den Überblick zu bewahren, haben wir hier einen Stammbaum der Familie abgebildet.
1. Eine Oase in der Wüste
Es gibt einen Ort, den alle in der Familie gut kennen: Beeri. Das ist der Name eines Kibbuz in der Negev-Wüste im Süden Israels. Kibbuz bedeutet „Versammlung“ oder auch „Kommune“. Darunter sind ländliche Kollektivsiedlungen mit Gemeinschaftseigentum und basisdemokratischen Strukturen zu verstehen. Geschätzt zwei Prozent der israelischen Bevölkerung leben in solchen Kibbuzim – auch Shoshan Haran, die Mutter der schwangeren Shaked. In Gesprächen entsteht der Eindruck, dass diese 67-Jährige der Mittelpunkt der weitverzweigten Familie ist. Familienmitglieder beschreiben sie als „Matriarchin“ im positiven Sinn und als sehr starke Frau. In ihrem Haus in Beeri kam die Familie regelmäßig zusammen. Harans Vorfahren – deutsche Juden – waren 1946 an der Gründung des Kibbuz beteiligt gewesen.
„Mein Großvater wurde in Stuttgart geboren. Seine Eltern waren Ärzte. Sie waren keine orthodoxen Juden, sondern glaubten an liberale, progressive Ideen. Mein Großvater war neun Jahre alt, als seine Eltern ihren Job in einem deutschen Krankenhaus verloren. Das war 1934. Antisemitische Aktionen hatte es schon immer gegeben, aber jetzt wirkten sie erstmals staatlich organisiert. Die Familie entschied, Deutschland den Rücken zu kehren, und ließ all ihre Habseligkeiten zurück. Sie kamen auf einem Boot nach Israel und hatten nichts bei sich. In den ersten Jahren waren sie sehr arm.“
Angehörige und Freunde der Familie beschreiben Beeri als „Himmel auf Erden“, als „eine Oase“ und als „sehr friedlich“. Auf den Feldern rund um den Kibbuz wachsen Kichererbsen, Karotten und Avocados. Die Nachbarn rufen einander beim Vornamen. Das Dorf hat eine moderne Druckerei, die der Gemeinschaft ein stabiles Einkommen beschert, weil sie unter anderem Ausweise druckt. Avshalom, der Mann von Shoshan Haran, war für viele Jahre der Manager. Vom Dach der Druckerei kann man in den wenige Kilometer entfernten Gazastreifen hinüberblicken. Im Frühjahr leuchten die umliegenden Mohnblumenfelder scharlachrot.
„Früher arbeiteten Palästinenser im Kibbuz. Dann, als sich Israel 2007 aus dem Gazastreifen zurückzog, mussten sie alle gehen. Shoshan war sehr traurig darüber. Sie schickte Pakete mit Essen und Geld hinüber. Die Menschen im Gazastreifen waren ihre Nachbarn.“
Shaked Haran ist in Beeri geboren und aufgewachsen, entscheidet sich mit Anfang 30 aber, von dort wegzuziehen. Die 34-Jährige arbeitet als Anwältin, ihr Partner studiert Medizin. Das junge Paar gehört einer Generation von Israelis an, die sich bewusst gegen ein Leben im Kibbuz entschied.
Denn Beeri ist nicht einfach nur ein Dorf. Es ist eine sozialistische Gemeinschaft, in der alle alles miteinander teilen. In Zeiten des Kapitalismus könnte man sagen: Beeri ist eine Utopie. Es gibt eine gemeinsame Wäscherei, einen Speisesaal, und erst nach einer gewissen Anzahl von Jahren hat man Anspruch auf ein neues Haus. „Für mich und meinen Partner waren das zu viele Verpflichtungen“, sagt Shaked Haran, „Wir wollten unabhängig sein und unsere eigene Work-Life-Balance.“
In Beeri teilen alle ihr Einkommen miteinander. Shakeds Mutter Shoshan, eine promovierte Agronomin, arbeitete viele Jahre für einen milliardenschweren Saatgutkonzern. Obwohl ihr Gehalt höher war als das durchschnittliche Einkommen im Kibbuz, floss es direkt in die Gemeinschaftskasse von Beeri. Haran gründete später ihre eigene Nichtregierungsorganisation namens „Fair Planet“. Die NGO setzt sich für Kleinbauern in Äthiopien und Ruanda ein.
„Die Kunden der großen Saatgutfirmen stammen vor allem aus den reichen und westlichen Ländern dieser Welt und nicht aus den ärmsten. Meine Mutter fand das absurd. Insbesondere Länder, die an Hunger leiden, brauchen Zugang zu dieser Saatguttechnologie. Also gründete sie Fair Planet, um dieses Wissen in diese Länder zu bringen.“
Shoshan Haran und ihr Mann Avshalom haben ihr gesamtes Leben in Beeri verbracht. In ihrem Haus finden immer wieder Familienfeste statt. Für viele fühlt sich der Ort wie ein zweites Zuhause an, erzählt Shira Havron, eine Nichte von Haran: „Ihr Haus war sehr gemütlich und voller Bücher. Auf dem Herd war immer irgendetwas am Köcheln. Es gab einen großen Esstisch. Sie liebten es, Leute einzuladen.“
Anfang Oktober wird ein wichtiger jüdischer Feiertag begangen: Sukkot, auf Deutsch auch Laubhüttenfest genannt. In Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus Ägypten errichten Familien in ihrem Garten eine Sukka – ein mit Ästen, Palmzweigen und bunten Tüchern dekoriertes Zelt.
Shaked Haran verbringt die Feiertage mit ihrer Schwester Adi. Die beiden Schwestern gehen mit ihren Ehemännern und den kleinen Kindern zum Zelten in die Natur. Noch ist unklar, ob sie im Anschluss alle zur Mutter in den Kibbuz Beeri fahren sollen. „Adi und Tal waren müde vom vielen Reisen. Aber der Achtjährige wollten unbedingt zu Oma und Opa, um die Laubhütte im Garten zu sehen. Also fuhren sie hin“, erinnert sich Shaked. Sie selbst sagt hingegen ihre Teilnahme am gemeinsamen Essen ab.
Die Schwestern trennen sich. Adi Shoham fährt nach Beeri, Shaked in die 40 Kilometer entfernte Stadt Beer Sheva, wo sie wohnt. Hier will sie ein ruhiges Wochenende verbringen.
2. Der 7. Oktober
Am Samstagmorgen wird Shaked Haran von Sirenen aus dem Schlaf gerissen. Raketenalarm. Das ist in diesem Teil Israels, nahe dem Gazastreifen, nichts Außergewöhnliches. Die Hamas feuert immer wieder auf israelisches Staatsgebiet. Aber diesmal nimmt der Alarm kein Ende. Haran versteckt sich im Schutzraum. Ihr Smartphone lässt sie unbedacht draußen liegen. Den ganzen Tag über ist sie von allen Nachrichten abgeschnitten. Erst am Abend öffnet sie den Account der WhatsApp-Gruppe des Kibbuz von Beeri.
„Die Nachrichten waren wie aus einem brutalen Horrorfilm. Da stand: Sie haben meine Mutter verbrannt. Oder: Sie haben mein Baby genommen. Ich konnte zuerst nicht glauben, dass das echt ist.“
Im Morgengrauen, um 05:55 Uhr, waren bewaffnete Hamas-Terroristen in den Kibbuz eingedrungen. Sie trugen Uniformen, Waffen und grüne Stirnbänder. 17 Stunden waren sie von Haus zu Haus gezogen und hatten die Bewohner massakriert. Sie warfen brennende Reifen in Häuser, um die Menschen im Inneren auszuräuchern. Sie töteten Eltern vor ihren Kindern, Schwangere, Babys. Sie riefen „Allahu akbar“ (Gott ist groß), filmten ihre abscheulichen Taten und schickten die Videos per Handy an Familienmitglieder, um diese zusätzlich zu quälen. Am Ende ist jeder Zehnte im Kibbuz von Beeri tot.
Das Haus der Familie Haran ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Aber im Inneren findet das israelische Militär weder Leichen noch Blutspuren. Alles deutet darauf hin, dass die Familie verschleppt wurde. Seit Samstagvormittag fehlt jedes Lebenszeichen von ihnen.
Amnon Tamir, ein Verwandter der Familie aus Paris, schreibt Shoshan Haran am Morgen des 7. Oktober auf WhatsApp. Er hat von dem schweren Raketenbeschuss gehört und will sichergehen, dass es ihr gute gehe.
09:18 Uhr, Tamir: Wie ist dein Status?
09:20 Uhr, Haran: Schüsse im Kibbuz. Wir sind im Schutzraum und sind leise.
09:22 Uhr, Tamir: Bleib stark!
11:55 Uhr, Tamir: Wie ist dein Status?
Es kommt keine Antwort mehr. „Da war mir klar, dass etwas Furchtbares passiert sein musste“, sagt Amnon Tamir.
Da war mir klar, dass etwas Furchtbares passiert sein musste
Am Sonntag, dem 8. Oktober, ruft ein Freund der Familie Shaked Harans Vater über 100 Mal an. Schließlich hebt jemand ab und sagt: „Gilad Shalit.“ Das ist der Name eines israelischen Soldaten, der 2006 von der Hamas entführt und jahrelang im Gazastreifen gefangen gehalten wurde. Er kam erst 2011 im Tausch gegen 1000 palästinensische Gefangene frei. Der Familie wird klar: Ihre Angehörigen müssen im wenige Kilometer entfernten Gaza sein. Mit Sicherheit weiß das aber niemand.
Es gibt nur einen aus der Gruppe, der am 7. Oktober noch gesehen wurde: Tal Shoham, 38, der Ehemann von Shaked Harans Schwester. Laut einem Augenzeugen soll Tal von Terroristen mit gefesselten Händen auf einen Jeep gezerrt worden sein. Sein Vater Gilad Korngold ist sich außerdem ganz sicher, dass er die Hose seines Sohnes auf einem Video der Hamas erkannt hat. Die Familie klammert sich an jeden Hinweis, die sie finden kann.
3. Wo ist Tal Shoham?
Tal Shoham ist der Einzige in der Familie, der die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Seine Großmutter kam in Wien zur Welt und wurde Ende der 1930er-Jahre von den Nazis vertrieben. Sein Vater
Gilad Korngold nimmt Kontakt mit der österreichischen Botschaft in Tel Aviv auf. Eines Abends um 23:00 erreicht er am Telefon eine Mitarbeiterin, die gerade Dienst hat. Die beiden sprechen fortan regelmäßig miteinander.
In dem Telefonat hat er mir die Machtlosigkeit, die er und seine Frau empfinden, sehr eindrücklich geschildert. Ich habe ihm einfach nur zugehört.
Das Haus von Tal Shoham liegt in einem kleinen Dorf in Misgav, einer Region im Norden Israels, nahe der Grenze zum Libanon. profil erreicht dort Ziv Beker, den besten Freund und Nachbarn von Tal Shoham. Die Häuser von Tal und Ziv liegen nur 200 Meter voneinander entfernt. Ihre Kinder gingen in denselben Kindergarten, und Beker trainierte Fußball mit dem achtjährigen Sohn seines Freundes.
„Es gibt keinen Menschen auf der Welt, dem ich mehr vertraue als ihm“, sagt Beker über Tal. Er bezeichnet ihn als seinen Seelenverwandten. Beide seien sehr spirituell und glaubten an das Beste im Menschen. Häufig sprachen sie darüber, ob es ein Leben nach dem Tod gebe. Beker sagt, wenn er eine Ameise in seinem Haus findet, dann zerquetscht er sie nicht, sondern trägt sie nach draußen. Er versteht nicht, wie jemand zu dem fähig ist, was die Hamas am 7. Oktober getan hat. „Wie kann jemand eine Dreijährige kidnappen?“, fragt er.
Seit dem Krieg hat sich der sonst so friedliche Beker dem Sicherheitsdienst seines Dorfes angeschlossen. Während er schläft, liegen immer drei Dinge griffbereit: eine Waffe, ein Messer und ein Walkie-talkie. Eines ist Beker sehr wichtig: Tal Shohams Haus soll nicht verkommen. Die Nachbarn putzen es regelmäßig, haben die Wände gestrichen und es mit Gebeten gesegnet. „Wenn sie zurückkommen, sollen sie alles so vorfinden, wie sie es verlassen haben“, sagt Ziv Beker.
Nur einer in Tals Familie bekommt von der Tragödie nichts mit: sein an Demenz leidender Großvater, der über 90 Jahre alt ist. Ziv Beker besucht ihn, ohne über das Verschwinden von Tal und dem Rest der Familie zu sprechen. „In Zeiten wie diesen“, sagt er, „kann Demenz ein Vorteil sein.“
4. Das Begräbnis
In den ersten zwei Tagen nach dem Überfall ist Shaked Haran ein „Wrack“, wie sie sagt. Die schwangere Frau kann nichts essen, schläft kaum und wird von Weinkrämpfen geschüttelt. Eine gute Freundin, Rachel Gur, sagt zu ihr: „Du kannst nicht beeinflussen, ob deine Familie überlebt. Aber worauf du sehr wohl Einfluss hast, ist die Gesundheit deines Babys.“ Haran bleibt stark – für ihre zwei kleinen Kinder und für das Ungeborene, ein Mädchen.
Eine Woche lang werden Shaked und ihre Familie im Dunkeln gelassen. Zehn ihrer Liebsten sind fort. Sind sie noch am Leben? In Beeri und den restlichen Kibbuzim, die am 7. Oktober überfallen wurden, werden laufend Leichen identifiziert. Zum Teil sind sie derart entstellt und verbrannt, dass es Tage oder Wochen dauert.
Am 15. Oktober wird die Familie von den israelischen Behörden informiert, dass sieben der zehn Verwandten nach Gaza verschleppt wurden. Alle anderen gelten als vermisst. Vorerst. Am 17. Oktober erfährt Shaked Haran, dass die Leiche ihres Vaters Avshalom identifiziert wurde. Am darauffolgenden Tag um 16.30 Uhr wird der 66-Jährige in Omer beerdigt, einem Ort in der Negev-Wüste.
Und noch während Shaked Haran um ihren Vater trauert, ereilt sie eine weitere bittere Gewissheit. Auch die Leichen ihrer Tante Lilach Kipnis und deren Ehemann Eviatar wurden gefunden.
Drei der zehn Vermissten sind tot.
Sieben sind in der Gewalt der Hamas.
Auch Lilach Kipnis, Shakeds Tante, lebte in Beeri. Sie war eine Therapeutin, die sich auf Traumabewältigung spezialisiert hat. Ein Freund der Familie beschreibt das als „Ironie des Schicksals“. Denn die Überlebenden von Beeri mussten nach dem 7. Oktober von Trauma-Teams betreut werden, um das Erlebte verarbeiten zu können.
In all dem unvorstellbaren Unglück weiß Shaked Haran eine Frau an ihrer Seite: Rachel Gur. Sie leitet die Anwaltskanzlei, in der Haran arbeitet, und ist ihre Vorgesetzte. Seit dem 7. Oktober jedoch ist Gur so etwas wie Harans Sprecherin. Sie nimmt Medienanfragen entgegen und koordiniert Termine. „Im alten Leben war ich ihre Chefin“, sagt sie, „und dann wurde sie meine.“
„Der Höhepunkt waren zwölf Interviews an einem Tag. Shaked hasst es, vor der Kamera zu stehen oder Fotos zu machen. Aber es war notwendig. Wir haben nur Interviews über Zoom gemacht und niemanden ins Haus gelassen, um ihre Familie zu schützen. Zwischen den Interviews hat sie geweint und ihre Kinder festgehalten. Dann setzte sie sich wieder vor die Webcam. So ging das eine Weile. Interviews, in den Pausen weinen und die Kinder umarmen.“
5. Rückkehr nach Beeri
Anfang November kehren Shaked und ihr Bruder Yuval zum ersten Mal in den völlig zerstörten Kibbuz zurück. Shaked trägt eine kugelsichere Weste und Birkenstock-Sandalen. Journalisten interviewen sie in der Ruine, die einmal ihr Haus gewesen ist, und zeichnen dieses Zitat auf.
All unsere Kindheitserinnerungen liegen in diesem Haus. Es ist wenig übrig geblieben, das man erkennen kann. Im Geschirrspüler haben wir noch ein paar Gläser gefunden. Die Ecke, wo unser Vater mit den Enkeln gespielt hat, ist völlig zerstört. Alle Spuren sind verwischt.
Was in Beeri alles abgebrannt ist, wird einem erst bewusst, wenn man im Verwandtenkreis herumfragt. Shaked Harans Großvater Abraham und seine Frau wurden beide fast 100 Jahre alt. Am 7. Oktober ging auch ihr Nachlass in Flammen auf: Fotos, Familiendokumente, Reisetagebücher. Und das blau-weiße Zwiebelmustergeschirr, das Harans Vorfahren aus Deutschland mitbrachten, ging verloren. So erzählt es eine Freundin aus den USA und schickt ein Foto. Es zeigt eine festlich gedeckte Tafel in Harans Haus im Kibbuz. Mit den Tellern der Großmutter auf dem Tischtuch.
Und dann ist da noch die Geschichte mit der Statue, die in eine Stadt führt, die Shoshan Haran oft besucht hat: Paris. Dort lebt ihre Cousine Ariane Tamir und deren Mann Amnon.
Ariane ist die Enkelin einer berühmten jüdischen Bildhauerin namens Chana Orloff, die 1888 in der heutigen Ukraine geboren und 1968 in Israel gestorben ist. Orloff schuf Hunderte Skulpturen. Auch in Shoshans Haus fand sich ein Stück aus ihrem Nachlass, eine schimmernde Bronzestatue, die zwei ineinander verschlungene Vögel zeigt. Der Titel: „Die Unzertrennlichen“. Man muss weit in der Geschichte zurückblicken, um zu verstehen, warum der Verlust dieser Skulptur für diese Familie so schmerzhaft ist.
Als die Wehrmacht 1940 in Paris einmarschierte, floh die Künstlerin Chana Orloff in die Schweiz. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte sie zurück und fand ihre Wohnung verwüstet vor. Viele Skulpturen waren aus ihrem Atelier gestohlen worden.
Ariane, Shoshans Cousine in Paris, kümmert sich darum, die gestohlenen Kunstwerke ausfindig zu machen. In einem Fall dauerte das 15 Jahre, inklusive Einbindung der US-Bundespolizeibehörde FBI. Am
7. Oktober ging in Beeri wieder eine Skulptur von Chana Orloff in Flammen auf – diesmal nicht wegen der Nazis, sondern wegen der Hamas.
7. Oktober ging in Beeri wieder eine Skulptur von Chana Orloff in Flammen auf – diesmal nicht wegen der Nazis, sondern wegen der Hamas.
Shoshan Haran war oft zu Gast bei den Tamirs in Paris. Amnon war einer ihrer ersten Mitarbeiter bei der NGO „Fair Planet“. Im Interview mit profil erzählt er leidenschaftlich von dem Projekt, von Shoshans Arbeit und von Tomaten, die dank „Fair Planet“ in Dürregebieten in Ostafrika wachsen.
„Sie war einzigartig“, rutscht es unbedacht aus ihm heraus.
„Sie ist es“, verbessert ihn seine Frau.
Das Ehepaar pendelt zwischen Paris und Israel hin und her – auch in Zeiten des Krieges. Ihr Haus in Israel liegt nur fünf Minuten vom Meer entfernt. Nach dem 7. Oktober haben sie es Shaked Haran und ihrem Bruder überlassen, weil es im Süden zu unsicher geworden ist.
Mitte Oktober kam ich von Israel zurück nach Paris. Ich nahm ein Taxi. Der Fahrer sah arabischstämmig aus. Als er hörte, dass ich aus Tel Aviv komme, begann er, über den 7. Oktober zu sprechen. Er bezweifelte, dass die Massaker wirklich passiert sind.
Nach diesem Vorfall nimmt sich Amnon fest vor, mit Taxifahrern nicht mehr über Israel zu reden. Er teilt aber auch die Wut vieler Israelis auf die eigene Regierung von Benjamin Netanjahu – die rechteste in der Geschichte. Mit den ultrareligiösen Siedlern im Westjordanland sympathisiere niemand in der Familie. Viele engagierten sich in der Friedensbewegung und glaubten daran, dass Israelis und Palästinenser mit- und nebeneinander leben können.
„Warum hat es so lange gedauert, bis die Armee Beeri befreit hat?“, fragt Amnon Tamir und gibt die Antwort gleich selbst: „Die Armee war im Norden, um jüdische Siedler im Westjordanland zu beschützen, die über die Feiertage Gräber besucht haben.“ Nach diesem Krieg, so ist er sich sicher, wird diese Regierung abtreten müssen.
6. Der Deal mit der Hamas
Die Verwandte wollen politischen Druck aufbauen.
Die hochschwangere Shaked reist in die USA, um sich mit Kongressabgeordneten zu treffen. Gilad Korngold, der Vater von Tal Shoham, besucht den Deutschen Bundestag in Berlin. Seine Enkelkinder und ihre Mutter haben – ebenso wie Shoshan Haran – die deutsche Staatsbürgerschaft. Shakeds Bruder Yuval organisiert eine Aktion, bei der Tausende von Tel Aviv bis vor Netanjahus Amtssitz in Jerusalem marschieren, um den Druck auf die Regierung zu verstärken. Premier Netanjahu hat nach dem 7. Oktober angekündigt, die Hamas vernichten zu wollen. Das israelische Militär greift Gaza mit Raketen an, verhängt eine totale Blockade über das Gebiet und beginnt Ende Oktober mit einer Bodenoffensive. Dabei werden nach Angaben der Hamas an die 15.000 Menschen getötet, darunter mehr als 5000 Kinder. Weitere 7000 Menschen werden unter den Trümmern zerbombter Gebäude vermisst. „Ich habe viele palästinensische Freunde. Es ist furchtbar zu sehen, wie die Menschen in Gaza leiden müssen. Diese Menschen in Gaza sind nicht mit der Hamas gleichzusetzen“, sagt Shira Havron, die Nichte von Shoshan Haran.
Am Montag, den 20. November, trifft Gilad Korngold Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Auch andere Angehörige von Geiseln sind zu dem Termin mit dem Kriegskabinett geladen. Sie müssen ihre Smartphones abgeben, damit niemand heimlich Aufnahmen macht. Korngold stellt Netanjahu die alles entscheidende Frage: Wird es einen Deal mit der Hamas geben? Der antwortet, dass er dazu nichts sagen kann.
Korngold hofft auf Katar. Dem Golfstaat kommt im Geiseldrama eine gewichtige Rolle zu, weil er direkte Kontakte zur Hamas unterhält. In Doha leben hochrangige Hamas-Vertreter. „Wenn jemand einen Deal hinbekommt, dann Katar“, sagt Korngold.
Am Donnerstag geht eine Nachricht um die Welt. Die diplomatischen Unterhändler aus Katar, den USA und Ägypten haben ein Abkommen auf den Tisch gebracht. Ab Freitagfrüh gilt eine vier Tage lange Feuerpause zwischen der israelischen Armee und der Islamistenmiliz. Die ersten israelischen Geiseln sollen zurückkehren. Im Gegenzug dürften palästinensische Gefangene freikommen, und dringend benötigte Hilfsgüter erreichen den Gazastreifen.
Doch der Freitag verstreicht, ohne dass einer der Namen aus der Familie auf der Liste auftaucht. „Niemand weiß etwas. Wir versuchen uns zu beruhigen und warten“, sagt Gilad Korngold.
7. Der Anruf
Am Freitag, dem 24. November, 49 Tage nach der Entführung, bekommt Shaked Haran abends endlich den ersehnten Anruf. Über die näheren Umstände darf sie auch Tage später nicht sprechen. Nur der engste Kreis erfährt die Neuigkeit: Sechs der sieben Familienmitglieder sollen freikommen.
Die Mutter Shoshan Haran, 67.
Die Schwester Adi Shoham, 38.
Die Nichte Yahel, 3, und der Neffe Naveh, 8.
Die Tante Sharon Avigdori und deren Tochter Noam, 12.
Am nächsten Tag – ein Samstag – soll es um 16 Uhr so weit sein. Aber die Übergabe verzögert sich. Die Angst ist groß, dass die Hamas den Deal doch noch platzen lässt. Es ist weit nach Mitternacht, als die Familie in Jeeps des Roten Kreuzes den Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten überquert. Die Fotografen richten ihre Teleobjektive auf die Scheiben der Fahrzeuge, um einzelne Gesichter erkennen zu können. Shoshan Harans ist auszumachen. Gegen drei Uhr nachts kommen die Freigelassenen im Sheba-Krankenhaus östlich von Tel Aviv an. Gilad Korngold kann drei Stunden mit seinen Enkelkindern verbringen. Dann legt er sich in ein nahe gelegenes Hotel schlafen.
Adi, die Mutter der kleinen Kinder, spricht auffallend langsam, was auf ein Trauma hindeutet.
Alle haben sie an Gewicht verloren, weil sie offenbar nur dürftig ernährt worden sind. Es gibt ein striktes Protokoll, wie die Geiseln übernommen werden.
Die Familie wurde von Spezialisten darauf genau vorbereitet. Shaked Haran muss ihrer Mutter und ihrer Schwester 24 Stunden nach der Rückkehr erzählen, dass Avshalom, der Ehemann und Vater, in der Zwischenzeit beerdigt wurde. Glück und Trauer liegen im Sheba-Krankenhaus nahe aneinander. Es ist der Ort, an dem unsere Fotografin das Foto für die Titelseite fotografiert hat.
Die Therapeuten haben Shaked Haran und Gilad Korngold geraten, den Angehörigen keine sensiblen Fragen über ihre Zeit in Gaza zu stellen.
Wo wurden sie festgehalten?
Was haben sie dort erlebt?
Die Therapeuten sagen: „Wenn sie reden wollen, dann reden sie.“
Den Kindern gehe es deutlich besser als den Erwachsenen, erzählt Korngold. Bei ihrer Ankunft wurde für sie eine Spielecke aufgebaut. Der Fußballclub Bayern München hat dem achtjährigen Naveh ein Trikot mit seinem Namen geschenkt. Auf Bildern sieht man, wie er im Krankenhaus mit einem Fußball kickt. Seine Schwester, die drei Jahre alte Yahel, hält einen Teddybären in den Armen und malt mit Buntstiften in einem Kinderbuch.
Aber ihr Vater fehlt bis heute. Sein Vater Gilad Korngold tut weiterhin alles in seiner Macht Stehende, um einflussreichen Menschen von ihm zu erzählen. Am Dienstag der abgelaufenen Woche reist er nach Wien, um Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu treffen. Danach spricht er wieder mit Journalisten. Korngold wird zum gefühlt hundertsten Mal die Geschichte erzählen, wie sein Sohn am 7. Oktober auf eine Familienfeier fuhr und nie wiederkehrte. Nach den Interviews geht Korngold auf eine private Mission. Er will das Haus suchen, in dem seine Mutter aufgewachsen ist, bevor die Nazis sie von dort vertrieben.
In Israel haben seine Enkelkinder, seine Schwägerin und der Rest der freigelassenen Geiseln das Krankenhaus verlassen. Sie leben vorübergehend in einer neuen Wohnung, die ihnen vom Staat zur Verfügung gestellt wurde. Shoshan Haran kann vorerst nicht nach Beeri zurück. Ihr Haus ist abgebrannt, das Gebiet militärische Sperrzone.
Aber es gibt Pläne, Beeri wieder aufzubauen. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Montag bei einem Besuch in Beeri Hilfen in Millionenhöhe angekündigt.
Doch es ist zu früh, um über eine Rückkehr nachzudenken.
Franziska Tschinderle
schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.