Michail Chodorkowski: "Ich sage nicht, dass ich besser bin als Putin"
Man könnte es Michail Chodorkowski nicht verübeln, wenn er seiner Heimat Russland und den dort herrschenden Zuständen unter Machthaber Wladimir Putin endgültig den Rücken zukehrte und im Londoner Exil den Ruhestand anträte. Er wäre wohlverdient.
Es ist ein Nachmittag im April im karg eingerichteten Büro im Londoner Nobelbezirk Mayfair. Man sieht ihm die lange Zeit im russischen Gefängnis nicht an: wache Augen hinter randloser Brille, kurz geschnittene Haare, das Lächeln, das zugleich scheu und listig sein kann. Die Jungenhaftigkeit seines Gesichts konnten die zehn Jahre hinter Gittern in Sibirien nicht zerfurchen, nur die Statur des 53-Jährigen ist mittlerweile etwas massiver geworden.
In der Jugend werkte er als Führer der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol. Dann fiel die Sowjetunion, und die wilden Goldgräberjahre brachen aus. Chodorkowski war in seinen Dreißigern und baute mit großem Geschick und unter Einsatz fragwürdiger Methoden den Ölkonzern Yukos auf. Auf dem Höhepunkt seines wirtschaftlichen Treibens soll der Geschäftsmann rund 15 Milliarden Dollar besessen haben. Er war ganz oben angekommen.
In politischer Haft bis 2014
Dann ging es nach unten - und zwar schnell. Chodorkowski wollte die Korruption in Russland bekämpfen und stieß erstmals an seine Grenzen. Besser gesagt: auf den damals seit Kurzem amtierenden Präsidenten Wladimir Putin. Der ehemalige KGB-Offizier ließ Chodorkowski im Jahr 2003 in dessen Privatjet auf einem sibirischen Flugfeld von Spezialtruppen verhaften, wegen Korruption anklagen und einsperren. Erst 2014 begnadigte Putin ihn: Die Olympischen Winterspiele in Sotschi standen an, ein prominenter politischer Gefangener passte nicht ins Bild.
Heute ist Chodorkowski zwar kein Oligarch mehr, aber immer noch ein finanzkräftiger Mann. Einen Teil seines Restvermögens steckt er in politische Initiativen, die er unter dem Dach der Stiftung "Open Russia" beherbergt. Das Ziel: Demokratie in Russland und der Sturz Putins.
"Können wir mit uns selbst in Frieden leben und so tun, als ginge uns das Schicksal eines anderen nichts an?", schrieb er während der Haft. Die Nachmittagssonne, die in sein Büro scheint, wird langsam dämmerig, Chodorkowski wählt seine Worte mit Bedacht, zögert, um seine Gedanken zu ordnen. Er spricht Russisch, nur manchmal bricht ein Satz auf Englisch aus ihm heraus. Brennt er vor Hass gegen seinen Erzfeind Wladimir Putin? Der russische Präsident herrscht seit 17 Jahren über Russland, kennt keine Herausforderer. Doch geht es nach seinem Erzfeind Chodorkowski, könnte dem Unantastbaren eine Erfahrung bevorstehen, die er schon hinter sich hat: Was es bedeutet, Macht, Vermögen und vielleicht sogar die Freiheit zu verlieren.
INTERVIEW: TESSA SZYSZKOWITZ, ROBERT TREICHLER/LONDON
profil: Welchen Eindruck hatten Sie von Wladimir Putin, als Sie ihn zum ersten Mal trafen? Michail Chodorkowski: Es muss im Jahr 2000 gewesen sein. Er machte damals einen sehr guten, positiven Eindruck auf mich. Das ist wahrscheinlich seine größte Stärke: Er beeindruckt jeden Gesprächspartner auf den ersten Blick.
profil: Damals konnten Sie noch nicht wissen, wie gefährlich Ihnen dieser Mann werden würde. Gab es zunächst so etwas wie Verständnis zwischen Ihnen? Chodorkowski: Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns gut verstanden, aber es gab so etwas wie ein Verständnis füreinander.
profil: Betrachteten Sie einander als Gesprächspartner auf Augenhöhe? Chodorkowski: Der Umsatz meines Unternehmens Yukos machte damals fünf Prozent des russischen Staatsbudgets aus. Ich war der Vorsitzende des Unternehmerverbandes. Putin kam nach Moskau, nachdem er jahrelang als Vizegouverneur von Sankt Petersburg ein Budget verwaltet hatte, das fast so groß gewesen war wie meines.
profil: Es war allerdings nicht sein Geld, sondern Steuergeld der Bürger von Petersburg. Chodorkowski: Na ja, manchmal ist dieser Unterschied in Russland nicht so klar. Putin arbeitete später in Moskau für die Präsidialverwaltung im Kreml. 1998 wurde er Chef des Geheimdienstes FSB. Er war also beileibe kein Niemand, ehe er die große Bühne der Moskauer Politik betrat. Als er Präsident wurde, trafen wir uns ein paar Mal pro Jahr, meistens mit anderen Wirtschaftsleuten, mit Ministern, mit Ökonomen. Manchmal sahen wir uns auch allein.
profil: Führten Sie jemals Debatten über Politik? Chodorkowski: Eigentlich nicht. Ich sah mich zu dieser Zeit als Mann der Wirtschaft.
profil: Dann allerdings kam es zum entscheidenden Moment in Ihrer Beziehung zu Putin: Im Februar 2003 warnten Sie ihn öffentlich vor der Korruption in Russland, die Sand im Reformgetriebe sei. War das eine kalkulierte Provokation? Chodorkowski: Russland war damals an einem Scheideweg. Entweder es blieb russisch und korrupt, oder es würde sich Europa annähern und eine transparente Wirtschaft entwickeln. Wir Wirtschaftstreibenden hielten den zweiten Weg für den einzig richtigen. Als ich diesen Vortrag hielt, war mir klar, dass ich damit ein Risiko einging. Ich attackierte Leute, die Putin meiner Ansicht nach falsch berieten. Aber eines war mir damals noch nicht klar: wie weit Putin selbst schon in die Korruption verstrickt war.
profil: Sie konfrontierten ihn in aller Unschuld mit der Korruption? Sie wussten nicht, dass er sich selbst bereicherte? Chodorkowski: Damals wussten wir, dass es Leute um ihn herum gab, die Geld stahlen. Doch wir dachten, Putin benutzte die Korruption bloß, um seine Macht abzusichern. Ich ahnte nicht, dass er selbst zu den Dieben gehörte. Das wurde mir erst klar, als ich die Panama Papers studierte.
profil: Wie bitte? Die Panama-Papiere wurden doch erst 2016 publiziert. Da waren Sie schon zehn Jahre wegen Putin im Gefängnis gesessen. Chodorkowski: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er Geld abzweigte. Schließlich war er doch der Präsident -und der Präsident Russlands braucht nicht zu klauen! Er hat ohnehin jeden erdenklichen Luxus.
profil: Viele, die ohne Geld aufwachsen, wollen Geld. Chodorkowski: Nicht jeder ist allerdings russischer Präsident. Keiner von uns hat 23 Residenzen, zehn Flugzeuge und drei Yachten. All das hat er durch seinen Job. Dafür braucht er keinen eigenen Rubel auszugeben.
profil: Aber alles ist nur geborgt. Putin bleibt ja nicht für immer Präsident. Chodorkowski: Das ist ja die Ironie. Wenn du nicht mehr Präsident Russlands bist, musst du sicherstellen, dass dein Nachfolger nicht plötzlich seltsame Fragen stellt: Wo kommt denn dieser Reichtum her? Also hast du nur zwei Möglichkeiten: Entweder du bleibst für immer Präsident. Dann bräuchtest du aber eigentlich kein eigenes Vermögen. Oder du trittst irgendwann ab, dann wird das Vermögen zur Belastung. Deshalb hatte ich immer angenommen, dass Putin sich das nicht antun würde. Als ich aber in den Panama-Papieren gelesen habe, wie über seinen Freund Sergei Roldugin (einen berühmten russischen Cellisten, Anm.) ein kompliziertes System der Geldwäsche etabliert worden war, wurde mir alles klar. Nur wer Geld auf die Seite bringen will, muss ein so kompliziertes Verschleierungssystem erfinden. Das war für mich ein Aha-Erlebnis.
profil: Sie galten bis zu Ihrer Verhaftung als reichster Mann Russlands. Was war Ihre Motivation? Reichtum? Chodorkowski: Ehrgeiz. Ich wollte zeigen, dass ich etwas besser konnte als alle anderen. Ich wollte beweisen, dass ich besser als jeder andere einen Industriekonzern organisieren konnte.
profil: Das ist Ihnen wahrscheinlich gelungen. Doch der Erfolg hat Sie gefährlich gemacht und ihnen letztlich zehn Jahre Haft eingebracht. Chodorkowski: Stimmt. Seit ich aus dem Gefängnis gekommen bin, hat mich der wirtschaftliche Ehrgeiz verlassen.
Putins Autorität ist nicht mehr sehr groß, alle reden schon darüber, wer nach ihm kommt.
profil: Was wollen Sie jetzt erreichen? Chodorkowski: Ich will, dass Putin zurücktritt.
profil: Und dann? Chodorkowski: Dann brauchen wir eine Übergangsphase, die nicht länger als zwei Jahre dauern kann und soll. Diese Phase bin ich bereit zu begleiten. Danach werde ich mich zurückziehen. Man kann nicht zehn Jahre im Kreml zubringen und dabei Reformer bleiben. In dieser Hinsicht unterscheiden sich meine Pläne von jenen des Oppositionsführers Alexej Nawalni.
profil: Bisher aber scheint nichts und niemand an Putin heranzukommen. Zunächst dürfte Putin 2018 noch einmal für sechs Jahre gewählt werden. Wann planen Sie denn die Übergangsphase? Chodorkowski: Meiner Meinung nach hat sie bereits begonnen. Putins Autorität ist nicht mehr sehr groß, alle reden schon darüber, wer nach ihm kommt. Noch aber hat niemand etwas getan, um seinen Abgang herbeizuführen. Das kann schon vor 2024 passieren.
profil: Bisher ist es so: Wenn Alexej Nawalni an einer Demonstration teilnimmt, wird er sofort verhaftet. Wladimir Kara-Murza wiederum, Ihr Vizechef von "Open Russia", wurde in den vergangenen zwei Jahren bereits zwei Mal schwer vergiftet. Boris Nemtsow (damals der wohl bekannteste russische Oppositionsführer, Anm.) wurde vor zwei Jahre erschossen. Das Regime spielt mit der Opposition Katz und Maus. Und es ist längst klar, dass dies ein gefährliches, grausames Spiel ist. Wieso machen Sie da überhaupt mit? Chodorkowski: Ich diskutiere das oft mit europäischen Kollegen. Die Franzosen sagen: Wenn etwas bei uns nicht gut läuft, dann gehen wir auf die Straße. Dann weiß die Regierung, dass sie etwas verändern muss. In Russland ist das ganz anders, da macht der Führer einfach die längste Zeit, was er will. Doch dann, von einem Tag auf den anderen, verliert er die Macht. Das geht schnell bei uns.
profil: Der Zarenfamilie der Romanows widerfuhr das vor 100 Jahren, mit tödlichem Ausgang. Aber wer sagt, dass Putin nicht viel besser aussteigt? Chodorkowski: Es ist nicht nur den Romanows so ergangen.
profil: Der in den 1990er-Jahren amtierende Präsident Boris Jelzin etwa hat die Macht übergeben, ihm ist nichts passiert. Chodorkowski: Jelzin ist eine Ausnahme. Er nahm seinen Abschied früh genug.
profil: Wer könnte Putin ersetzen, sollte er je zurücktreten oder abgesetzt werden? Jemand aus dem System oder ein Oppositioneller? Chodorkowski: Ich tippe auf jemanden aus dem inneren Kreis. Der Nachfolger wird es nicht leicht haben. Entweder er verlässt sich auf die Silowiki, die Männer aus den Sicherheitsstrukturen, die jetzt die Macht haben. Dann wird er deren Marionette. Oder er wird ein Übergangspräsident, der das Land für einen demokratischen Prozess öffnet. In diesem Fall wäre ich bereit mitzuhelfen.
Wir wissen doch alle, was gut oder böse ist - na ja, sagen wir: fast alle. Wir halten uns nur nicht immer daran.
profil: Warum bieten Sie nicht Putin jetzt sofort Ihre Hilfe an? Chodorkowski: Putin braucht meine Hilfe nicht, er hätte es selbst in der Hand. Aber ich bezweifle, dass er noch zum Reformer taugen würde. Psychologisch kann er das nicht mehr - wobei ich prinzipiell jedem eine Ein-Prozent-Chance zugestehe, sich zu ändern.
profil: Putin hat sich doch schon einmal politisch gewandelt, eine Weile war er pro-europäisch unterwegs. Chodorkowski (nimmt seinen Kugelschreiber und lässt ihn in die Höhe steigen): Putin, von Jelzins Entourage 1998 wie eine Rakete ins All geschossen. Eine Weile blieb er auf diesem Kurs. 2005 begann der Kurswechsel. (Der Kugelschreiber vollführt eine langsame Wende.) Mit der Finanzkrise 2008 wurde er unumkehrbar. Seitdem fliegt die Rakete Richtung Erde zurück. Wann sie aufprallt, weiß ich nicht.
profil: In dem Buch "Meine Mitgefangenen", das Sie über Ihre Zeit im Gefängnis geschrieben haben, kommen Sie immer wieder zu hochmoralischen Überlegungen. Sind Sie ein sehr moralischer Mensch? Chodorkowski: Wir wissen doch alle, was gut oder böse ist - na ja, sagen wir: fast alle. Wir halten uns nur nicht immer daran. Doch wenn wir uns schlecht benehmen, dann schämen wir uns auch.
profil: Das gilt auch nicht für alle. Chodorkowski: Ich sage nicht, dass ich besser bin als Putin. Doch als Putin gefragt wurde, ob er irgendetwas in seinem Leben bereue, antwortete er: Nein. Ich würde diese Frage nie verneinen. Darin liegt meine Fähigkeit, ein moralischer Mensch zu sein. Ich sage: "Ich habe das getan, und es war schlecht. Mach das nicht, wenn du es vermeiden kannst."
profil: Was bereuen Sie? Chodorkowski: Ich denke natürlich an das Jahr 1993, als das postsowjetische Russland in eine neue Ära ging. Die großen Staatsbetriebe wurden privatisiert. Damals hätte ich etwas für mein Land tun können. Ich hätte viel verändern können, aber was tat ich stattdessen? Ich kümmerte mich um meinen Industriebetrieb. Das war natürlich wichtig, aber vielleicht nicht so bedeutsam wie andere Dinge. Ich habe das erst viel später verstanden.
Putin ist sicher jemand, der seine Feinde nicht aus den Augen lässt. Und manchmal wird er von Gefühlen geleitet.
profil: Und es tut Ihnen nicht leid, dass Sie Putin 2003 herausforderten? Chodorkowski: Ich hätte nichts anderes tun können - taktisch gesehen vielleicht schon, aber es hätte das Ergebnis nur verzögert. Ich konnte schon kaum zusehen , als Putin 2001 den Fernsehkanal NTV zerstörte. Ich gab den Fernsehleuten damals 20 Millionen Dollar. Das Regime verwendete diese Summe später im Prozess gegen mich. Natürlich ärgerte es Putin, dass ich NTV unterstützte. Doch ich hatte schon viel früher die Opposition unterstützt, auch zu Jelzins Zeiten. Jelzin aber hatte eine andere Sicht auf diese Dinge.
profil: War Jelzin offener gegenüber Pluralismus als Putin? Chodorkowski: Da bin ich mir nicht sicher. Aber ich weiß, dass er großzügig war. Ich war dabei, als er sich einmal die satirische Puppensendung "Puppen" ("Kukli") auf NTV anschaute. Manchmal stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht, und einmal verlangte er: "Dreht den Fernseher ab!" Doch er hätte nie den Auftrag gegeben, deshalb den ganzen Sender zuzusperren.
profil: Ist Putin rachsüchtig, oder schützt er nur seine Interessen? Chodorkowski: Mir scheint, da besteht kein großer Unterschied.
profil: Der Unterschied liegt darin, ob jemand hitzköpfig oder kaltblütig ist. Chodorkowski: Putin ist sicher jemand, der seine Feinde nicht aus den Augen lässt. Und manchmal wird er von Gefühlen geleitet.
profil: Wie meinen Sie das? Chodorkowski: Was er mit Yukos machte, war ein emotionaler Akt.
profil: Was er Yukos oder was er Ihnen angetan hat? Chodorkowski: Beides. Er hatte beschlossen, mich einzusperren. Zwei Jahre hätten genügt. Aber zehn Jahre? Und es wäre möglich gewesen, meinen Anteil an Yukos zu schlucken und das Unternehmen dafür am Leben zu lassen. Das hätte niemanden im Westen gestört. Yukos aber wurde komplett zerstört. Das war ein großer, kostspieliger Fehler.
profil: Also war es in Ihren Augen Rache. Und die Sache zwischen Ihnen und Putin ist eine persönliche Fehde? Chodorkowski: Ja, das glaube ich.
profil: Ist sie das für Sie auch persönlich? Chodorkowski: Ich bin eher ein kühler Kopf.
profil: Das sollen wir Ihnen glauben? Chodorkowski: Man muss mit Putin persönlich zu tun haben, um das zu verstehen. Ich bin mehr ein Pragmatiker. Ich überlege, welcher Weg der effektivste ist, und den gehe ich dann. Wenn ich zum Beispiel Putin die Hand geben müsste, damit er endlich einer friedlichen Übergangslösung zustimmt, dann würde ich das tun. Ich würde sogar Igor Setschin die Hand geben.
profil: Igor Setschin ist Putins engster Vertrauter, er führt die quasi wieder verstaatliche russische Ölfirma Rosneft und gilt als Chef der Silowiki. Ist Setschin für Sie schlimmer als Putin? Chodorkowski: Wie kann ich das höflich formulieren? Wenn man einen Stein aufhebt, selbst einen dreckigen Stein, dann fällt einem das viel leichter, als wenn man ein Stück Scheiße aufhebt.
profil: Russische Oppositionelle müssen oft um ihr Leben fürchten. Haben Sie keine Angst? Fürchten Sie um Ihre Familie? Chodorkowski: Bisher hatte Putin Hemmungen. Das erlaubt uns, diesen Kampf nach gewissen Spielregeln zu führen. Familien zum Beispiel lässt Putin in Ruhe. Sollte er denken, dass ich für ihn eine Gefahr darstelle, dann hat er mehrere Optionen. Doch wenn mir etwas zustößt, dann ist klar, dass er dazu den Auftrag gegeben hat. Nur er kann es tun, weil alle wissen, dass ich sein Gegner bin.
Ein einflussreiches Europa ist schlecht für Putin, weil das Modell Europa das Gegenteil von dem ist, was er brauchen kann: Menschenrechte, Machtwechsel, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit -jedes einzelne dieser Prinzipien stellt eine direkte Bedrohung für Putins Regime dar.
profil: Wenn US-Präsident Donald Trump Sie fragt, wie er mit Putin umgehen soll, was würden Sie ihm raten? Chodorkowski: Sollte Trump tun wollen, was er im Wahlkampf angekündigt hat - gute Beziehungen mit Russland pflegen zu wollen -, dann muss er einen Deal mit Putin machen: unter welchen Bedingungen Putin bereit ist, die Macht abzugeben. Wenn Putin nicht zurücktritt, dann sind alle anderen Abkommen sinnlos. Denn Putin braucht Amerika nur für einen Zweck: als Feind. Zweitens ist es wichtig für Trump, Putin rote Linien vorzugeben. Tut er das nicht, dann wird Putin versuchen, immer noch einen Schritt weiter zu gehen. Trump ist, anders als Obama, kein kühler Kopf, und das könnte uns in eine sehr schwierige Lage bringen.
profil: Sehen Sie in Europa eine vernünftige Kraft, die diese temperamentvollen Führer in Washington und Moskau ausgleichen könnte? Chodorkowski: Es gibt nur eine vernünftige Person in Europa, die dazu in der Lage wäre.
profil: Angela Merkel? Chodorkowski: Genau. Vielleicht entwickelt sich neben ihr auch Emmanuel Macron in Frankreich zu einer rationalen Kraft, sollte er die Präsidentschaftswahlen gewinnen.
profil: Ist es eine Verschwörungstheorie, dass Putin die EU zerstören will und er deshalb rechtsextreme Parteien in Europa finanziert? Chodorkowski: Ich halte das nicht für eine Verschwörungstheorie. Dahinter steckt ein klares politisches Konzept. Putin will Leute an die Macht bringen, die ihm etwas schuldig sind. Sollte das nicht funktionieren, dann möchte er zumindest isolationistische Politiker an der Regierung sehen. Die könnten die EU von innen zerstören oder wenigstens schwächen. Wichtig für ihn ist, dass die EU nicht mehr als Machtfaktor zählt. Ein einflussreiches Europa ist schlecht für Putin, weil das Modell Europa das Gegenteil von dem ist, was er brauchen kann: Menschenrechte, Machtwechsel, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit -jedes einzelne dieser Prinzipien stellt eine direkte Bedrohung für Putins Regime dar. Will er nach 2024 an der Macht bleiben, dann braucht er einen neuen Eisernen Vorhang zwischen Europa und Russland.
profil: Haben Sie gerade gesagt, dass Putin von einem neuen Eisernen Vorhang träumt? Chodorkowski: Ja. Ich weiß, wir sind nicht mehr in den 1950er-Jahren, aber zumindest einen virtuellen Eisernen Vorhang hätte er gerne. Er errichtet ihn auch schon - von seiner Seite aus. Mitglieder seiner Bürokratie, rund fünf Millionen Beamte, können das Land nicht mehr verlassen: Polizisten, FSB-Offiziere, Ministeriumsbeamte.
profil: Warum? Chodorkowski: Ohne Begründung. Putin will die Russen von den westlichen Werten fernhalten.
profil: Würden Sie der EU empfehlen, die Sanktionen, die gegen Russland nach der Annexion der Krim verhängt wurden, nicht aufzuheben? Chodorkowski: Es ist nicht so einfach für mich, über die Sanktionen zu reden. Auf der einen Seite schaden sie dem Regime. Doch gleichzeitig stärken sie es auch. Wichtiger wäre ein Dialog zwischen der russischen Zivilbevölkerung und dem Westen. Das könnte die Lage grundsätzlich verändern. Grenzen werden durch gemeinsame Werte und durch Kultur zerstört.
profil: Fürchten Sie, dass Sie eines Tages auf Ihr Leben zurückblicken und sich denken werden: Warum hat Putin mein Leben so sehr dominiert? Chodorkowski: So denke ich nicht. Jüngst fiel mir auf, dass ich schon seit 25 Jahren mit der Demokratisierung Russlands befasst bin. Hatte ich das so geplant? Nein. Doch es ist eben mein Leben.
profil: Wir führten im Jahr 2009 ein Interview mit Ihnen, als Sie bereits knapp sechs Jahre im Gefängnis saßen. Damals sagten Sie: "Das Gefängnis hat mich befreit." Wie stehen Sie heute zu dieser Aussage? Chodorkowski: Intellektuell und physisch gibt es heute nur eine Beschränkung in meinem Leben: Ich kann nicht nach Russland zurückkehren. Damals in meiner Zelle meinte ich aber nur, dass das Gefängnis mich aller Verpflichtungen, die ein Konzernchef hat, enthoben hat. Früher hatte ich nie genug Zeit für Menschen, für Bücher, für Gedanken. Im Straflager hatte ich das. Ich konnte schreiben und sagen, was ich wollte.
profil: Führen Sie ein glückliches Leben? Chodorkowski: Wenn ich sehe, dass Russland den europäischen Weg einschlägt, dann werde ich jenes Drittel meines Lebens, das ich dafür geopfert habe, als geglückt betrachten. Wenn die Entwicklung anders verläuft ...
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 16 vom 14.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.