Midterms in den USA: Wenn Radikalismus auf die Schnauze fällt
Was passiert, wenn eine Partei sich zu sehr radikalisiert? Zu diesem Thema können Sie Berge von politikwissenschaftlicher Literatur lesen – oder Sie lernen John Gibbs kennen. Gibbs ist ein „ehrlicher, harter Arbeiter“, das sagt jedenfalls seine Mutter, Mary Gibbs, in einem Werbe-spot für die Kandidatur ihres Sohnes bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus am Dienstag der abgelaufenen Woche. Mary Gibbs ist stolz darauf, dass John als Erster in der Familie, die von afroamerikanischen Farmpächtern abstammt, an einer Universität studiert hat und dass er ein „erfolgreicher Geschäftsmann“ sei. Laut einer von ihm erstellten Biografie war er zunächst Software-Entwickler und danach sieben Jahre lang christlicher Missionar in Japan. Dann ging er in die Politik.
Sein Mentor dabei war Donald Trump, der dem Quereinsteiger zu einer steilen Karriere verhalf. Er ernannte ihn zum Direktor der Agentur, die für das gesamte Behördenpersonal der Regierung zuständig ist. Allerdings verweigerte der Senat dafür die erforderliche Zustimmung. Gibbs’ wesentliche Qualifikation bestand in uneingeschränkter Loyalität zum damaligen US-Präsidenten Trump. Die pflegt er bis heute.
Es sei „mathematisch unmöglich“, dass Trump die Präsidentschaftswahl 2020 verloren habe, behauptet Gibbs beharrlich und entgegen allen Fakten. Zudem bewies er in der Vergangenheit eine Neigung zu absurdem Unsinn (einmal stellte er in einem Online-Forum in den Raum, Atlantis könnte unter der Eisdecke des Nordpols begraben sein), teils bösartigen Verschwörungstheorien (etwa die, wonach Hillary Clintons Wahlkampfstratege an einem satanischen Ritual teilgenommen habe). Da überrascht es nicht weiter, dass Gibbs Abtreibung auch im Fall von Vergewaltigung ablehnt und sich dafür einsetzt, dass die USA Staaten, in denen Abtreibung legal ist, jegliche Hilfen streicht.
Kurz: John Gibbs ist die personifizierte Radikalisierung der Republikanischen Partei. Und er ist bloß ein Beispiel von vielen. Donald Trump hat mit finanziellem und persönlichem Einsatz dafür gesorgt, dass Leute wie Gibbs traditionelle Republikaner verdrängt haben. Gibbs schlug bei der innerparteilichen Vorwahl Peter Meijer, den Amtsinhaber. Dieser hatte 2021 im Repräsentantenhaus für die Durchführung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Trump gestimmt.
Am Dienstag sprach das Wahlvolk sein Urteil über Gibbs & Co. Der „ehrliche, harte Arbeiter“ unterlag im 3. Distrikt von Michigan der Kandidatin der Demokraten, Hillary Scholten, deutlich. Dieses Schicksal teilten nicht wenige in der Republikanischen Partei, die sich als Wahlleugner und Verschwörungstheoretiker positioniert hatten. Doug Mastriano etwa, Kandidat für den Gouverneursposten im Bundesstaat Pennsylvania, der bei den Ausschreitungen von Trump-Anhängern am 6. Jänner 2021 auf dem Gelände des Kapitols war. Auch er verlor.
Die Analyse der „New York Post“, einer konservativen Boulevard-Zeitung im Medienkonzern des Milliardärs Rupert Murdoch, fällt ziemlich schroff aus: „Wie Donald Trump die Midterms der Republikaner sabotierte“, lautet der Titel. Der „toxische Trump“ vertreibe die Wähler und sei „das politische Äquivalent einer Dose Insektenspray“, ätzt die „Post“. Kandidaten, die von Trump unterstützt wurden, hätten ausschließlich in Wahlbezirken gesiegt, in denen auch „eine republikanische Leiche den jeweiligen Demokraten schlagen würde“. Das schreibt eine Zeitung, die Trump lange Zeit publizistisch unterstützte und keine Gelegenheit auslässt, US-Präsident Joe Biden, einem Demokraten, ans Bein zu pinkeln.
Doch die Zahlen lassen keine andere Interpretation zu. Bei Midterm-Wahlen tendieren unabhängige Wähler, also solche, die keiner der beiden Parteien nahestehen, traditionell stärker zu der Partei, die nicht den Präsidenten stellt. Bei den Kongresswahlen der jüngeren Vergangenheit betrug der Überhang zwischen zwölf und 18 Prozentpunkte. Diesmal hätten also die Republikaner von ihrer Oppositionsrolle profitieren müssen, doch es kam anders: Die unabhängigen Wähler verteilten sich nahezu gleichmäßig auf beide Parteien, das Pendel schlug bei ihnen sogar um einen Prozentpunkt in Richtung der Demokraten aus.
Daraus folgt eine der großen Lehren dieser Wahl: Radikalisierung ist ein riskantes Manöver – mal ganz abgesehen von der Frage der politischen Verantwortung. Der Erfolg des brüllend lauten, aggressiven und fast in jeder Frage fernab des Mainstreams stehenden Donald Trump schien eine Konstante der amerikanischen Politik zu widerlegen – dass Extremismus angesichts des Zweiparteiensystems keine ratsame Strategie ist.
In der Ära Trump war das anders: Die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager, die sich unter anderem geografisch (Stadt-Land) und im Bildungsgrad deutlich voneinander unterscheiden, ließ populistische Extrempositionen auch wahltaktisch zielführend erscheinen. Es ging einfach nur darum, die eigene Seite mit allen Mitteln zu emotionalisieren. Persönliche Untergriffe, offener Hass, irrwitzige Behauptungen – alles schien sich bezahlt zu machen. Moderate Kräfte fürchteten nicht zu Unrecht, eine Politik der Mitte habe als Tugend im Kampf um Mehrheiten komplett ausgedient.
Radikalisierung ist ein riskantes Manöver – mal ganz abgesehen von der Frage der politischen Verantwortung.
Doch seit seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2016 setzt es für Trump und die ihm immer noch teil-hörige Republikanische Partei eine Enttäuschung nach der anderen: Midterms 2018, Präsidentschaftswahl 2020, Midterms 2022 … Es zeigt sich: Radikalisierung geht über kurz oder lang ins Auge.
Man sieht das etwa am Beispiel der Wahllüge. Trump und seine Leute haben auch vor dieser Wahl düster angedeutet, sie würden Niederlagen nicht akzeptieren, sondern ähnlich wie 2020 als Schwindel bekämpfen. Diese antidemokratische Zumutung mobilisiert einerseits den politischen Gegner und frustriert andererseits die eigene Basis, die erwartet, man werde Wahlsiege notfalls mittels irgendeiner Form der Nötigung erzwingen. Tatsächlich laborieren die enttäuschten Republikaner bloß an einem Hangover, die Rebellion blieb bisher aus.
Was bedeutet das für die USA? Geht die Periode der Radikalisierung der Gesellschaft langsam ihrem Ende entgegen? Jedenfalls nicht so schnell, wie man das erhoffen könnte. Unter den republikanischen Abgeordneten finden sich jetzt jede Menge Leute vom Typus „John Gibbs“, deren Wahlbezirke so unabänderlich republikanisch sind, dass es sie in diverse Volksvertretungsämter geschwemmt hat. Der Geist disruptiver Politik, die den Wert ausgleichender Institutionen verachtet und mit dem Konzept von Konsens nichts anzufangen weiß, ist noch lebendig.
Auf eine Phase konfrontativer Barrikaden-Politik folgt, ob aus Überzeugung oder Erschöpfung, irgendwann eine Rückkehr zu konstruktiver Zusammenarbeit. Die Republikanische Partei ist derzeit noch nicht so weit, aber wiederkehrende Enttäuschungen bei Wahlen können eine solche Wende bewirken. Mit ihrer Extremposition in der Frage des Rechts auf Abtreibung etwa haben sich die Republikaner ganz offensichtlich verkalkuliert.
Bei den Midterms stimmten die Wähler in den Bundesstaaten Kalifornien, Michigan und Vermont in Referenden jeweils für Verfassungsänderungen, die das Recht auf Abtreibung garantieren, in Kentucky scheiterte hingegen ein Referendum über einen Gesetzesvorschlag der Republikaner, der das Recht auf Abtreibung gänzlich negiert hätte. Politische Vernunft ist das Comeback-Kid dieser Midterms.