Meinung

Migration: Die gescholtene Mehrheit

Das EU-Parlament hat neue Regeln zur Migration beschlossen. Daran herumzunörgeln ist leicht.

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Ein Gedankenexperiment: Ein Krankenhaus mit Notaufnahme. Jeden Tag kommen Tausende Menschen, die behaupten, sie seien medizinische Notfälle, und verlangen, aufgenommen zu werden. Die Kapazitäten sind heillos überlastet. Die Leute werden als Patienten aufgenommen und in die Bettenstationen gebracht. Bei späteren Untersuchungen stellt sich heraus, dass nur ein kleiner Teil der angeblichen Notfälle tatsächlich medizinische Behandlung braucht. Doch auch alle anderen haben sich in der Bettenstation eingerichtet und wollen dableiben. Das Krankenhaus kann seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen.

Was würde die Krankenhausverwaltung da tun?

Sie würde direkt an der Notaufnahme eine Triage – eine Vorsortierung – einrichten. Wer bereits auf den ersten Blick kein Notfall ist, wird nicht aufgenommen, sondern einer kurzen, fachkundigen Untersuchung unterzogen. Wenn sich dabei herausstellt, dass keine dringende Behandlung nötig ist, wird die Person nach Hause geschickt. Ziel ist es, die Versorgung für echte Notfälle aufrechtzuerhalten. Falls die Menge der tatsächlichen Notfallpatienten immer noch zu groß ist, muss man sie auf andere Krankenhäuser aufteilen.

So ähnlich kann man sich das Problem der illegalen Migration vorstellen – und den aktuellen Versuch der Europäischen Union, es zu lösen.

Migranten mit „geringer Anerkennungswahrscheinlichkeit“ sind Leute, die aus Staaten kommen, deren Bürgerinnen und Bürger selten (in weniger als 20 Prozent der Fälle) Asyl gewährt bekommen, vergleichbar mit Patienten in der Notaufnahme, die keine Anzeichen einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung aufweisen.

Diese Migranten sollen in Lagern bleiben müssen, da ein Schnellverfahren durchlaufen und im Fall einer Ablehnung abgeschoben werden. Das – und noch einige weitere Regeln – hat die Mehrheit des Europäischen Parlaments am vergangenen Mittwoch beschlossen. Überwiegend mit den Stimmen von Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen.

Kritik kommt von rechts und links. Die Rechten verlangen, dass die Grenzen ausnahmslos für alle Migranten dichtgemacht werden, sie wollen eine „Festung Europa“ errichten. Sie würden die Notaufnahme – die in diesem Fall der Rettung von Menschen vor Verfolgung dient – gänzlich zusperren.

Die Linken sehen bereits in den beschlossenen Maßnahmen eine „Festung Europa“ verwirklicht. Sie wollen die illegale Migration bekämpfen, indem sie legale Wege öffnen – wobei nicht zu erwarten ist, dass dadurch die Zahl der Migranten sinkt, eher im Gegenteil.

Beide haben – unterschiedlich valide – Punkte. Natürlich würde eine komplette Grenzschließung für Flüchtlinge und Migranten deren Zahl stärker reduzieren, allerdings würde die EU damit die Menschenrechte abschaffen. Was nur verlangen kann, wer mehr als zwei Jahrhunderte zivilisatorischen Fortschritts in die Tonne treten will, aber ja, solche Leute und Parteien gibt es.

Umgekehrt kann man auch argumentieren, dass Schnellverfahren weniger präzise Ergebnisse liefern als mehrstufige Verfahren, die sich über Jahre ziehen. Wird das in einzelnen Fällen zu ungerechten Ergebnissen führen? Das ist wohl möglich, ebenso wie bei einer Triage im Krankenhaus. Allerdings braucht es Schnellverfahren, weil man die Migranten nicht endlos lange in Lagern an der Grenze festhalten kann. Das wiederum ist aber nötig, denn sobald die Migranten in die EU eingereist sind, ist eine Abschiebung viel komplizierter.

An Gegenargumenten mangelt es nicht. An besseren Vorschlägen allerdings schon. 

Die Hoffnung, die hinter der neuen Regelung steckt, lautet, dass Schnellverfahren an der Grenze einen Effekt auf die Zahl der Migranten haben. Wenn diese nämlich wissen, dass sie ohne Asylgrund sehr wahrscheinlich abgewiesen werden, werden viele von ihnen den gefährlichen Weg nach Europa erst gar nicht auf sich nehmen. Wie gesagt, das ist die Hoffnung.

An Gegenargumenten mangelt es nicht. An besseren Vorschlägen, die einerseits zum Ziel führen könnten und andererseits die Grundwerte achten, allerdings schon.

Wie viele solcher Anläufe gab es schon? Viele. Welcher wurde bereits erfolgreich umgesetzt? Keiner. Was spricht dafür, dass es diesmal klappt? Nicht besonders viel, denn die Europäische Union bleibt ein Zusammenschluss von 27 Staaten, deren politische Führungen zusehends weiter voneinander entfernt sind. Und dennoch.

Die Migration ist eines der drängendsten politischen Probleme des Kontinents. Gerade weil es nicht zu „lösen“ ist, sondern bestenfalls annäherungsweise in den Griff zu bekommen, braucht es Verantwortungsbewusstsein und Hartnäckigkeit. Deshalb sollte man die Abgeordneten dafür loben, ein Gesetz beschlossen zu haben, für das sie wenig Dankbarkeit erwarten dürfen. Es ist der Versuch, auf Basis europäischer Werte Migration zu regulieren und dabei dem Sicherheitsbedürfnis der EU-Bevölkerung ebenso Rechnung zu tragen wie der moralischen Verpflichtung zur Hilfe Verfolgter.

Wer – bloß zum Vergleich – wissen möchte, wie das Migrationsproblem auf gänzlich uneuropäische Weise angegangen werden könnte, möge Viktor Orbán zuhören oder Herbert Kickl, Marine Le Pen, Alice Weidel u. v. a.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur