Migration in die USA: Amerikas Alptraum
Von Siobhán Geets
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Auf den ersten Blick ist er noch erkennbar, der alte Pomp, der Luxus längst vergangener Tage. Der Eingang des Roosevelt Hotel ist goldverziert, darüber wehen zwei riesige amerikanische Flaggen, doch der Teppich darunter ist grau und abgetreten. Die „große Dame der Madison Avenue“ wurde das Gebäude in der 45. Straße in Midtown Manhattan, New York, früher genannt. Zahlreiche Filme wurden hier gedreht, darunter „Wall Street“ (1987) und „Malcolm X“ (1992). Donald Trump wollte das Roosevelt vor ein paar Jahren kaufen, doch der Eigentümer, eine pakistanische Fluggesellschaft, hatte andere Pläne. Nach den Verlusten in der Corona-Pandemie schloss das Etablissement aus den 1920er-Jahren seine Pforten – um sie im Mai vergangenen Jahres wieder zu öffnen, diesmal nicht für Touristen und Prominenz, sondern für Flüchtlinge und Migranten aus aller Welt.
In den beiden großen Ballsälen mit den Wandmalereien und acht Meter hohen Decken finden seither medizinische Checks statt, Erwachsene und Kinder werden auf Hautausschläge und Krankheiten untersucht, behandelt werden etwa Masern, Tuberkulose und Windpocken. Das Roosevelt Hotel ist zum Erstaufnahmezentrum New Yorks geworden – und die ehemals „große Dame der Madison Avenue“ hat einen neuen Namen bekommen: „Neues Ellis Island“.
Auf der Insel im Hafen vor der Stadt wurden von 1892 bis 1954 rund zwölf Millionen Immigranten registriert. Das geschieht heute im Roosevelt. Seit vergangenem Jahr ist das alte Hotel Symbol für die Flüchtlingskrise New Yorks geworden – und für das Versagen der Stadt.
Die Acht-Millionen-Einwohner-Metropole ist längst an den Grenzen ihrer Kapazitäten angelangt. Mehr als 165.000 Menschen sind seit April 2022 in New York angekommen, teils waren es Tausende pro Woche. Stadtverwaltung und Hilfsorganisationen sind überlastet, der demokratische Bürgermeister Eric Adams spricht von einer humanitären Krise, die in drei Jahren rund zwölf Milliarden Dollar kosten wird. Untergebracht werden die Menschen in mehr als 200 Notunterkünften, in Schulen und ehemaligen Bürogebäuden, in einer Zeltstadt auf dem Parkplatz einer Psychiatrie – oder in einem der 850 Zimmer des Roosevelt.
Wir werden den Menschen sagen, dass sie in New York nicht in einem Fünf-Sterne-Hotel übernachten werden.
In New York schreibt ein Gesetz vor, dass alle, die es brauchen, von der Stadt eine Unterkunft zur Verfügung gestellt bekommen müssen. Adams, der in der Not sogar überlegt hat, Menschen auf Kreuzfahrtschiffen einzuquartieren, versucht seit Monaten, die 42 Jahre alte Regelung aufzuweichen, doch de facto ist sie ohnehin Geschichte, zumindest für erwachsene Migranten. Im Sommer mussten Menschen vor dem Roosevelt campieren, die Schlange der Schlafenden reichte den ganzen Block hinunter bis zur Madison Avenue.
Fremdenfeindliche Rhetorik
Vor dem Hotel stehen Sicherheitsleute, Journalisten dürfen nicht hinein. Aus dem Gebäude kommen hauptsächlich Menschen aus Mittel- und Südamerika; eine Mutter mit zwei kleinen Kindern aus Venezuela, eine Familie aus Honduras, junge Leute aus Mexiko und Kuba, Kolumbien und Guatemala. Sie flohen vor Gewalt und organisierter Kriminalität, vor Armut und Naturkatastrophen, Unterdrückung und politischer Verfolgung. Alle tragen Taschen und Zettel mit sich – die Fragebögen zum Asylantrag, der über ihre Zukunft entscheidet. Mehr als ein paar Worte mit profil wechseln möchte niemand. Die Menschen haben Angst, dass sich Interviews negativ auf ihre Bleibeanträge auswirken könnten, heißt es vonseiten der Flüchtlingshelfer.
Nach New York gekommen sind die Leute mit Bussen aus dem Süden. Über die rund 3150 Kilometer lange Grenze zu Mexiko gelangten 2023 fast 2,5 Millionen Flüchtlinge und Migranten in die Bundesstaaten Texas, Kalifornien, Arizona und New Mexiko. Seit etwas mehr als einem Jahr schickt Greg Abbott, der republikanische Gouverneur von Texas, Einwanderer per Bus nach New York, Chicago und in andere Großstädte im Norden. Seine politische Taktik, Migranten in von Demokraten regierte Gebiete zu karren, geht auf: Im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im kommenden November ist das Thema Einwanderung zum dominierenden Faktor geworden. Die Republikaner schüren Ängste vor einer Zunahme von Kriminalität und Drogenproblemen. Und Präsident Joe Biden gerät von allen Seiten unter Druck.
Wie in Europa profitiert auch in den USA der äußerste rechte Rand am meisten von den steigenden Migrationszahlen. Unterstützung bekommt Abbott von Donald Trump. Der ehemalige Präsident wird voraussichtlich noch einmal für die Republikaner antreten, er liegt in allen Umfragen zu den Vorwahlen meilenweit vorn. In seiner Amtszeit ließ er zwischen den USA und Mexiko teilweise eine Mauer errichten, heute spricht er von illegalen Einwanderern aus aller Welt, die „das Blut unseres Landes vergiften“. Sollte er wiedergewählt werden, so Trump, würde er in der Migrationspolitik „wie ein Diktator“ agieren und „die größte Deportationsoperation in der amerikanischen Geschichte starten“.
Die Antwort aus dem Weißen Haus kam auf den Tag genau 80 Jahre nach dem Ende des „Chinese Exclusion Act“. Das Gesetz aus dem Jahr 1882 verbot Chinesen die Zuwanderung nach Amerika. „Es hat unser Einwanderungssystem als Waffe eingesetzt, um eine ganze ethnische Gruppe zu diskriminieren“, so Präsident Joe Biden in einem Statement. Was folgte, waren weitere Diskriminierungen gegen Europäer und Asiaten. Auch heute noch, so Biden Richtung Trump, gebe es Menschen, „die Einwanderer verteufeln und die Flammen der Intoleranz schüren“. Das sei falsch.
Rassismus, Diskriminierung und Gewalt gegen Einwanderer sind Teil der Geschichte Amerikas. In den 1920er-Jahren wurde ein rassenbasiertes Immigrationssystem geschaffen, in dem Juden, Italiener und Iren weniger wert waren als Briten, Franzosen und Deutsche. Abgeschafft hat es erst John F. Kennedy Mitte der 1960er-Jahre. Während des Zweiten Weltkrieges, als monatlich bis zu 100.000 Menschen auf Ellis Island ankamen, ging es vor allem gegen osteuropäische Juden und Einwanderer aus Süditalien.
Heute richtet sich Trumps faschistischer Furor gegen Migranten aus Afrika und Asien. Aus Ländern wie China und Indien, Mauretanien und dem Senegal gelangten im vergangenen Jahr deutlich mehr Menschen über Mexiko in die USA. Laut „New York Times“ ist die Zahl der Afrikaner unter den Flüchtlingen von 13.400 im Jahr 2022 auf fast 58.500 im vergangenen Jahr angestiegen. Das liegt auch daran, dass die Reise nach Europa immer schwieriger wird.
Verhandlungen mit Mexiko
Um die Zahl der Migranten zu reduzieren, reiste Biden am Sonntag vor einer Woche zu Verhandlungen nach Mexiko City. Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador fordert 20 Milliarden Dollar an Finanzhilfen für Lateinamerika und die Karibik, ein Ende des Embargos gegen Kuba und der Sanktionen gegen Venezuela sowie die Anerkennung von mindestens zehn Millionen hispanischer Migranten, die illegal in den USA leben. Es sind Maximalforderungen, die Biden ohne die Zustimmung der Republikaner im Kongress nicht erfüllen kann.
Dort scheitern Demokraten und Republikaner seit Jahrzehnten an einer Reform des Immigrationssystems. Die Republikaner fordern einen harten Kurs in der Migrationspolitik, nun haben sie ihn zur Bedingung für ihre Zustimmung zu weiteren Finanzhilfen für die Ukraine und Israel gemacht. Bisher wollten die Demokraten davon nichts wissen, doch im Wahlkampf verschiebt sich die Dynamik. Bidens Regierung hat signalisiert, die Hürden für Flüchtlinge und Migranten höher setzen zu wollen.
Migranten aus Kuba, Nicaragua, Venezuela und Haiti sollen künftig sofort nach Mexiko zurückgebracht werden. Doch Washington will auch Menschen aus anderen Ländern dorthin abschieben. Während der Corona-Pandemie war das möglich, doch die Sonderregelung lief im Mai aus. Seither nimmt Mexiko monatlich nur noch 30.000 Menschen zurück, das sind gerade einmal zehn Prozent. Und Asiaten oder Afrikaner in ihre Heimat auszufliegen, ist kompliziert: Wie in Europa fehlen auch in den USA Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern.
Der Druck auf Bidens Kabinett wächst auch vonseiten seiner eigenen Partei. Demokratisch geführte Großstädte wie New York, Boston, Denver und Chicago ächzen unter der Last der vielen Flüchtlinge und fühlen sich von Washington im Stich gelassen. Rund eine Milliarde Dollar sind bisher an die am meisten betroffenen Städte geflossen, 50 Millionen davon nach New York, 100 Millionen sollen noch folgen. Doch selbst das wird nicht reichen.
Die Metropolen im Norden fordern neben finanzieller Unterstützung bei der Versorgung der Menschen die Erlaubnis, Arbeitsvisa ausstellen zu dürfen. Nur so könnten Migranten auf eigenen Beinen stehen.
Die Forderung ist der Versuch, den Ressentiments in der Bevölkerung etwas entgegenzusetzen. Der Unmut über die Einwanderer und den Umgang mit ihnen wächst.
Im Gespräch mit Arthur wird das besonders deutlich. Der Mittfünfziger aus dem New Yorker Stadtteil Queens hat zwei Jobs, um über die Runden zu kommen, und er ärgert sich darüber, dass „die Migranten alles gratis bekommen: Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Essen“. Arthur, dessen Vorfahren aus Nordafrika in die USA einwanderten, schimpft über jene, die „einfach über die Grenzen kommen und dann den ganzen Tag hier herumsitzen, während andere ewig auf ihre Einreiseerlaubnis warten“. Menschen zu helfen sei schon in Ordnung, nur: „Wenn dein Dach undicht ist und das deines Nachbarn – welches reparierst du zuerst?“
Arthur ist mit seiner Meinung nicht allein.
Laut Umfragen ist mittlerweile rund die Hälfte der Amerikaner der Ansicht, es fände eine „Invasion“ an der Südgrenze statt; selbst unter den Anhängern der Demokraten sind 40 Prozent dieser Meinung. Um ihren Wohlstand zu halten, sind die USA auf Immigration angewiesen, das gilt damals wie heute. Doch die alte Erzählung von einem Land, das auf Einwanderung aufbaut, verblasst.
Ein altes Versprechen
Ein anderer Mythos hält sich seit Jahrhunderten: jener des amerikanischen Traums. Das Versprechen, dass in den USA jeder eine Chance bekommt, lebt weiter, ob in Mexiko oder Venezuela, in Guatemala oder El Salvador. Gehört wird es auch in der Grenzstadt Nogales, Arizona. Dort verläuft ein Teil der Mauer, die Amerika von Mexiko trennt. Es gibt einen Duty-Free-Shop und einige Restaurants, die Straßen sind staubig, die Häuser klein und renovierungsbedürftig. Rundherum: Wüste.
Im Stacheldraht der Mauer hat sich eine von der Sonne gebleichte Jacke verfangen. Offenbar sollte sie beim Hinüberklettern vor den Stahldornen schützen. Auf der anderen Seite patrouilliert ein mexikanischer Grenzpolizist. Es ist wenig los an diesem sonnigen Tag im Herbst 2023, doch die Ruhe trügt. Nogales, 65 Kilometer südlich von Tucson, der zweitgrößten Stadt Arizonas, ist einer der belebtesten Grenzübergänge im Süden der USA. Im Sommer kamen hier mehr Menschen durch als überall sonst, bis zu 12.000 täglich, im Dezember waren es neun Mal so viele wie ein Jahr zuvor. Unter ihnen sind immer mehr Asiaten und Afrikaner, im Oktober und November sind hier rund 9000 Menschen aus Senegal eingereist und je rund 4000 aus Indien und Guinea. Ihre Reise beginnt meist in Nicaragua, wohin sie visafrei fliegen können; dann geht es weiter über Honduras und Guatemala nach Mexiko.
„Historisch gab es hier immer Migration“, sagt Matt Heinz. Der 46-jährige Arzt ist Gemeindepolitiker in Tucson und gehört der Demokratischen Partei an. „Menschen aus Mittel- und Südamerika kamen auf der Suche nach einem besseren Leben in den Norden, doch jetzt ist es gemischter: Es kommen Afghanen, Mauretanier, Inder und Usbeken.“ Zum Problem werden mitunter die Sprachbarrieren, heißt es vonseiten der Polizei in Tucson gegenüber profil. Vor allem Afghanen verstünden die Gesetze nicht und hätten Angst, zurückgeschickt zu werden.
An einer Migrationsreform führt kein Weg vorbei.
Einmal in Arizona, bekommen die Migranten ihre sogenannte „A-Number“, mit der sie vor einem Asylrichter vorsprechen können. „Die meisten reisen weiter zu ihren Familien oder Communities in den Norden“, sagt Heinz. Der Demokrat ist hauptberuflich Arzt, in Tucson untersucht er Migranten direkt nach ihrer Ankunft. In den Sommermonaten steigen die Temperaturen auf 45 Grad und mehr, Heinz hat Patienten mit Hitzeschlag, im schlimmsten Fall kommt es zu Nierenversagen. Immer wieder müssen Menschen aus der Wüste gerettet werden, allein im Juli gab es fast 2800 Einsätze, 43 Menschen konnten nur noch tot geborgen werden.
Rund 2,4 Millionen Dollar kostet die Verpflegung der Menschen jeden Monat, spätestens im Mai werde der Gemeinde das Geld ausgehen, sagt Heinz. Er warnt vor der wachsenden Xenophobie im Land und davor, dass die Republikaner das Thema im Wahlkampf ausschlachten. Am Ende würde kein Weg an einer Migrationsreform vorbeiführen: „Das Land braucht Arbeitskräfte, nötig ist die Vergabe von mehr Arbeitsvisa sowie raschere Prozesse zur Anerkennung von Asyl sowie der Vergabe von Staatsbürgerschaften.“
Nur: Wie sollen liberale Politiker den Menschen im Land erklären, dass es nicht weniger, sondern mehr geordnete Migration braucht? Der Trend geht in die andere Richtung – in Texas etwa soll ein neues Gesetz ab März die Festnahme von irregulären Migranten erlauben, es drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis.
Republikaner wie der texanische Gouverneur Greg Abbott werfen Biden vor, nichts zu unternehmen, um die illegale Einwanderung zu stoppen – und den USA dadurch schweren Schaden zuzufügen.
Alte Einwanderer werden gegen Neuankömmlinge ausgespielt, arme Menschen gegen noch ärmere.
Bei Leuten wie Arthur aus Queens stößt Abbott auf offene Ohren. Ganz anders sieht das Janet, eine Pensionistin aus der New Yorker Mittelschicht. Sie führt den Erfolg der aggressiven republikanischen Rhetorik auf die Ungleichheit im Land zurück, unter der Arbeiter wie Arthur leiden: Wer Sorgen um das eigene Auskommen habe, fürchte weitere Verluste durch zu viele Migranten. „Alte Einwanderer werden gegen Neuankömmlinge ausgespielt, arme Menschen gegen noch ärmere“, sagt Janet.
Sie hat ihr ganzes Leben in New York verbracht, heute lebt sie in Manhattan. „Die Stadt ist ein Schmelztiegel“, sagt Janet, „man kam immer irgendwie miteinander aus.“ Doch heute sei das Land tief gespalten.
Wie Bürgermeister Adams fordert auch Janet, dass Asylwerber arbeiten dürfen. Damit wäre ein Teil der positiven Erzählung zurück: Menschen bauen sich durch Arbeit eine Existenz auf und sind nicht auf staatliche Almosen angewiesen. Das würde den Republikanern den Wind aus den Segeln nehmen, hofft Janet. Denn negative Erzählungen würden vor allem einem helfen: Donald Trump.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.