Migration: Zurückweisen, aber wie?
Am Ende bekamen Bundeskanzler Karl Nehammer und Innenminister Gerhard Karner den kargen Landstrich, dessentwegen sie gekommen waren, nur aus der Luft zu sehen. Die Delegation aus Wien war am Sonntag vor einer Woche nach Bulgarien gereist, um sich ein Bild von der bulgarisch-türkischen Grenze zu machen. Den Grenzzaun sahen sie lediglich durch die Fenster eines Militärhubschraubers, für mehr fehlte die Zeit.
Bulgariens Präsident Rumen Radew hatte Nehammer und Karner eingeladen, um ihnen zu zeigen, dass sein Land tut, was es kann, um Migranten an der Einreise zu hindern. Im vergangenen Jahr sind Menschen auch über diesen Weg in die EU gelangt. 35.000 sind laut Innenministerium über Rumänien und Bulgarien nach Österreich gekommen, insgesamt wurden mehr als 100.000 Asylanträge gestellt.
Deshalb hat Österreich Anfang Dezember überraschenderweise ein Veto gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens eingelegt. In Sofia und Bukarest war die Empörung groß. Das Innenministerium musste sich den Vorwurf gefallen lassen, aus innenpolitischem Kalkül heraus zu handeln: Das Schengen-Veto erfolgte wenige Wochen vor den Landtagswahlen in Niederösterreich.
Bundeskanzler Nehammer (M.), Innenminister Karner (r.) und Bulgariens Präsident Radew im Hubschrauber.
"Solange der Schengen-Raum nicht funktioniert, können wir ihn nicht erweitern", wiederholte Nehammer seine Begründung für das Veto. An der Analyse des Bundeskanzlers ist kaum etwas auszusetzen, zahlreiche Länder haben wieder Grenzkontrollen eingeführt, die Reisefreiheit innerhalb der EU ist großteils ausgesetzt. Nur: An der Zahl der 35.000 Migranten, die über Bulgarien und Rumänien gekommen sein sollen, zweifeln nicht nur bulgarische und rumänische Politiker. Auch unabhängige Experten weisen darauf hin, dass die Route über den Westbalkan, über Serbien, voriges Jahr viel relevanter war.
Weil das Asylsystem der Europäischen Union, allen voran die Verteilung von Schutzsuchenden auf alle Mitgliedstaaten, nicht funktioniert, wird das Grundrecht auf Asyl immer häufiger infrage gestellt. In diese Kerbe schlägt auch der neueste Vorschlag aus Wien: Die sogenannte Zurückweisungsrichtlinie soll es ermöglichen, jene, die keine Chance auf Schutz haben, ohne Asylverfahren in ihre Herkunftsländer zurückzubringen. Betreffen würde das laut Innenministerium Angehörige sicherer Drittstaaten wie Marokkaner und Tunesier. Auch aus Indien kamen im Vorjahr rund 18.000 Menschen. Ihre Chancen auf Asyl tendieren gegen null.
Nur: Wie sollen diese Blitzabschiebungen umgesetzt werden, ohne Grundrechte zu verletzen? Die Genfer Flüchtlingskonvention sieht vor, dass Schutzsuchende ein Recht auf ein faires Asylverfahren haben.
Eine Antwort darauf blieb das Innenministerium auf profil-Anfrage ebenso schuldig wie auf eine Reihe weiterer Fragen. Konkret: Welches Land soll für die Rückführungen zuständig sein? Wo sollen sich Migranten bis zur Rückkehr aufhalten? Was würde die Zurückweisungsrichtlinie etwa für Tunesier ändern, mit deren Herkunftsland Österreich bereits ein bilaterales Rücknahmeabkommen unterzeichnet hat? Hinzu kommt, dass selbst Staatsbürgern sicherer Drittländer in Einzelfällen Asyl gewährt wurde. Soll ihnen künftig im Vorhinein die Chance auf Schutz genommen werden?
Darauf kann oder will das Innenministerium in Wien keine Antworten geben. Die EU-Kommission solle die Zurückweisungsrichtlinie ausarbeiten und den dafür notwendigen Rechtsakt setzen, heißt es lapidar. Geschehen solle das "analog zur Vertriebenenrichtlinie". Diese sieht vor, dass Flüchtende aus der Ukraine auch ohne Asylverfahren Schutz in der EU erhalten. Nur: Anderen dieses Recht umgekehrt abzusprechen, ist freilich etwas ganz anderes.
"Drittstaatsangehörige von der Grenze direkt in ihre Herkunftsländer zurückzubringen, ohne dass sie einen Asylantrag stellen können, ist nicht mit den Grundrechten vereinbar", sagt auch Walter Obwexer, Experte für Europa-und Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Verpflichtend seien jedoch Rückführungen, und zwar dann, wenn sich Menschen illegal im Land befinden, also keinen Asylantrag gestellt haben: "Das sieht die EU-Rückführungsrichtlinie für Drittstaatsangehörige ohnehin schon vor, die kann man kaum noch verschärfen."
Der Jurist nimmt an, dass es dem Innenministerium schlicht darum geht, Rückführungen in Drittstaaten zu forcieren. "Nur: Rückführungen scheitern oft an den Herkunftsstaaten, daran würde auch eine verschärfte Richtlinie nichts ändern."
Tatsächlich ist der Punkt "Rückführungsabkommen mit Drittstaaten" Teil des Fünf-Punkte-Plans, den Karner bereits im November vorgelegt hat. Gefordert werden neben ihnen und der Zurückweisungsrichtlinie auch Asyl-Hotspots außerhalb der EU, Asylverfahren an den Außengrenzen und mehr Geld aus Brüssel für den Schutz der Außengrenzen. Bei ihrem Besuch in Bulgarien forderten Nehammer und Karner von der EU-Kommission zwei Milliarden Euro für den Schutz der bulgarischtürkischen Grenze.
Dem hat Innenkommissarin Ylva Johansson eine Absage erteilt. Es gebe dafür kein EU-Budget, sagte sie vergangene Woche beim Treffen der EU-Innenminister in Stockholm. Auch von der Zurückweisungsrichtlinie hält die Schwedin nichts. Zwar sieht Johansson durchaus, wie sehr die hohe Zahl von Migranten manche Mitgliedstaaten unter Druck setzt. Im vergangenen Jahr verzeichnete Zypern, gerechnet auf die Einwohnerzahl, die meisten Asylanträge, gefolgt von Österreich. Doch Johansson weist auch darauf hin, dass die Zahl jener, die über den Westbalkan in die EU gelangen, wieder zurückgegangen ist. Das liege daran, dass Serbien die Visafreiheit für indische und tunesische Staatsbürger beendet hat.
Anders ist das bei den Rückführungen. Im Jahr 2021 sind nur 21 Prozent der abgelehnten Asylwerber, die die EU hätten verlassen sollen, tatsächlich ausgereist. Dieses Problem wolle man nun angehen, so Johansson. Seit vergangenem Mai hat die EU eine eigene "Rückkehrkoordinatorin".Die Finnin Mari Juritsch befasst sich damit, wie man abgelehnte Asylwerber zur Heimkehr bewegen kann-und deren Herkunftsstaaten mit Druck und Anreizen dazu bekommt, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Doch das wird nicht reichen. Wie können Menschen, die kaum eine Chance auf Schutz haben, davon abgehalten werden, überhaupt erst Asyl zu beantragen? Gibt es wirklich keine Alternative zu Gewalt an den Grenzen, zu Zurückweisungen und damit zum Bruch internationalen Rechts?
Experten wie der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus fordern seit Jahren mantraartig legale Einreisemöglichkeiten in die EU. Auch der deutsche Soziologe Thomas Faist rät der Politik zu fairen Maßnahmen im Umgang mit Migration. In seinem Buch "Exit" zeigt er legale Wege auf, etwa Korridore zwischen Herkunfts-und Empfängerländern im Sinn der Arbeitsmigration. Für die Inder, die 2022 in großer Zahl nach Österreich kamen, wären solche Arbeitsvisa ideal gewesen, sagt Faist im Gespräch mit profil: Sie wollten ohnehin nicht bleiben, sondern weiter in die großen Agrarindustrien, nach Frankreich, Italien oder Spanien. "Doch für eine Teillösung, etwa in Form von bestimmten Kontingenten an Arbeitsvisa, setzen sich in der EU nur wenige Politiker ein."
Ylva Johannson, EU-Kommissarin
"Wenn eine Person einen Asylantrag stellt, hat sie das Recht auf ein Verfahren."
Dabei brauche Europa dringend Arbeitskräfte. Die lauter werdenden Rufe nach geschlossenen Grenzen und raschen Abschiebungen, wie sie jetzt wieder aus Wien kommen, bezeichnet der Experte als "Symbolpolitik": "Das widerspricht dem Geist des internationalen Flüchtlingsrechts, das auf Menschenrechten aufbaut."
"Das Recht auf Asyl gerät unter Druck", sagt auch Obwexer. Immer mehr Staaten hielten sich nicht mehr an geltendes Recht. "Leider führt das dazu, dass andere es nachmachen." Beobachten lässt sich das auch bei der illegalen Zurückweisung von Flüchtenden und Migranten an den Außengrenzen der EU. Als Medien vor einigen Jahren erstmals berichteten, wie die griechische Küstenwache Menschen in Schlauchbooten in türkische Gewässer zurückschleppten, war die Empörung groß. Doch seither sind diese Pushbacks auch anderswo zum Alltag geworden. Berichte darüber gibt es aus Kroatien, Ungarn, Bulgarien und Polen.
Verheimlicht wird das kaum, im Gegenteil: Politiker in Polen sehen Pushbacks (nach Belarus) als neues Ideal, das sich andere EU-Länder zum Vorbild nehmen sollten. Obwexer hält das für gefährlich. "Das führt dazu, dass die EU-Rechtsordnung auch in anderen Bereichen in Gefahr ist."