Gerald Knaus, österreichischer Soziologe, Migrationsforscher und Zuwanderungsexperte. Mitgründer und Vorsitzender des Think Tanks European Stability Initiative (ESI).

Migrationsexperte: „In der EU fehlt es an Rechtsstaatlichkeit

Gerald Knaus über das Ende der Genfer Flüchtlingskonvention, die Hilflosigkeit Brüssels und legale Wege nach Europa.

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profil: Das EU-Türkei-Abkommen hat es ab 2016 möglich gemacht jene, die keinen Schutz in der EU brauchen, in die Türkei zurückzubringen. Bis März 2020 wurden von 150.000 Menschen, die in Griechenland ankamen, gerade einmal 2.024 zurückgeschickt. Seitdem gibt es gar keine Rückführungen und es finden illegale Pushbacks statt. Wieso wurde der Deal nicht genutzt?
Knaus: Athen fehlte der politische Wille. Rückführungen in die Türkei waren für Syriza-Anhänger wie für viele NGOs unpopulär. Stattdessen wurden Asylantragsteller teils monatelang in Lagern auf den Inseln festgehalten, um dann doch aufs griechische Festland gebracht zu werden. Rückführungen wären möglich gewesen. Den meisten Syrern ging und geht es in der Türkei besser als in manchen EU-Mitgliedstaaten, sie haben Schutzstatus, Zugang zu Bildung und Gesundheit, von der EU mitfinanziert.

profil: Es gab aber auch Rückschiebungen von der Türkei nach Syrien.
Knaus: Ja, es gibt Berichte über Fälle, wo Syrer an der Grenze in den Norden Syriens zurückgeschoben wurden. Ich habe daher früh vorgeschlagen, einen Mechanismus einzuführen, um zu überprüfen, was mit jenen passiert, die von der EU in die Türkei zurückgebracht wurden. Nur eines wurde seit Anfang 2020, seit Griechenland und die Türkei das Abkommen ignorieren, offensichtlich: Heute ist alles schlimmer. Geltendes Recht wird gebrochen, Menschen werden ohne Verfahren auf Booten in türkische Gewässer zurückgeschickt und die Hilfe der EU für Syrer in der Türkei läuft auch aus. Es braucht eine Wiederbelebung der Erklärung mit der Türkei.

profil: Menschenrechte gelten an den Außengrenzen der EU schon länger nicht mehr. Erstmals klagt nun ein Betroffener vor einem Europäischen Gericht. Kann das etwas ändern?
Knaus: Es wäre ein Präzedenzfall. In seinen Operationen untersteht Frontex den lokalen Autoritäten. Frontex verantwortlich zu machen, wenn die Entscheidungen und Anweisungen etwa griechische sind, ist rechtlich kompliziert. Es kann sein, dass selbst bei klaren Rechtsbrüchen am Ende auf die nationalen Gerichte verwiesen wird.

profil: Was folgt daraus?
Knaus: Es fehlt bei Frontex an Kontrolle. Vor allem aber fehlt es in der EU an Rechtsstaatlichkeit. Als Ungarn Ende 2020 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) verurteilt wurde, weil sein Asylrecht im Widerspruch zu EU-Recht steht, musste sich Frontex aus Ungarn zurückziehen. Sonst änderte sich jedoch nichts, das ungarische Gesetz blieb. Ohne eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit sind die hunderten Millionen für Frontex verschwendetes Geld. Pushbacks sind Frontex verboten. Viele Staaten führen sie aus, wollen dabei aber nicht beobachtet werden. Und so ist Frontex an vielen Grenzen mit Migrationskrisen nicht präsent, zwischen Kroatien und Bosnien, Ungarn und Serbien, Belarus und Polen. Hier finden systematisch Menschenrechtsverletzungen statt.

Es fehlt bei Frontex an Kontrolle. Vor allem aber fehlt es in der EU an Rechtsstaatlichkeit.

Gerald Knaus, Migrationsexperte

profil: Sprechen wir also am Problem vorbei?
Knaus: Ja. Es war nie klar, worin der genaue Mehrwert von Frontex besteht. Was machen finnische oder irische Grenzschützer in Griechenland besser als Griechen? Sie sind teurer und haben EU-Abzeichen. Und sonst?

profil: Die EU könnte Vertragsverletzungsverfahren gegen Länder einleiten, die Rechtskonventionen brechen. Wieso geht die EU-Kommission nicht gegen Staaten wie Griechenland und Kroatien vor?
Knaus: Gegen Ungarn ist die EU-Kommission ja vorgegangen. Viktor Orbán wusste, dass er sich mit seinem Gesetz, das 2016 Pushbacks erlaubte, über EU-Recht hinwegsetzte. Es hat dann zwei Jahre gedauert, bis die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, und nochmal zwei Jahre bis zum Urteil des EuGH. Es hat einen Tag gedauert, bis die ungarische Justizministerin erklärte, Ungarn werde das Urteil ignorieren. So wird offen EU-Recht gebrochen. Die Kommission müsste Ungarn jetzt ein zweites Mal vor den Gerichtshof bringen und eine Geldstrafe fordern.

profil: Wieso geschieht das nicht?
Knaus: Es geschieht sehr selten. 2019 fand der EuGH Staaten in 22 Vertragsverletzungsverfahren schuldig. Am Ende des Jahres waren insgesamt 98 solcher Urteile – auch aus den Jahren davor – noch gar nicht umgesetzt. Im Durchschnitt bringt die Kommission im Jahr nur zwei nicht umgesetzte Urteile erneut vor den EuGH für eine oft auch nur symbolische Geldstrafe. Wenn aber Staaten bewusst darauf setzen, Recht zu brechen, dann wird aus einer Krise des Flüchtlingsschutzes eine noch tiefere Krise der Rechtsstaatlichkeit. Das ist sehr gefährlich. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft. Doch viele nehmen das Recht nicht mehr ernst.  

profil: Mit welchen Folgen?
Knaus: So werden Grundrechte, wie das Recht aus Asyl, ausgehöhlt. So stirbt die Flüchtlingskonvention. Der Supreme Court in den USA und der Höchste Gerichtshof in Australien haben Pushbacks auf dem Meer zugelassen. Orbán spekuliert, dass das irgendwann auch der EuGH und der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg tun werden. Manche Staaten hoffen darauf, dass sich die Gerichte ihrer rechtswidrigen Praxis anpassen und nicht umgekehrt.

profil: Wie sieht so eine Anpassung in der Praxis aus?
Knaus: In Amerika, wo Fliehende ohne Verfahren nach Haiti zurückgebracht wurden, hat der Supreme Court das 1993 gerechtfertigt. In Australien sind alle Versuche gescheitert, vor dem Höchstgericht gegen Pushbacks auf dem Meer und die Politik der Unterbringung von Flüchtlingen in Nauru vorzugehen. Es stimmt: ohne Gerichte können wir Gesetze und Konventionen nicht verteidigen. Doch sich allein auf Gerichte zu verlassen, reicht auch nicht. Es braucht eine politische Strategie.

profil: Das Problem mit der Rechtsstaatlichkeit, keine politischen Strategien im Umgang mit Migration – welchen Schaden nimmt die EU davon?
Knaus: Es war ab 2015 Orbáns Strategie, dass man, wenn man nur entschlossen und skrupellos genug ist, selbst Grundrechte durch eine brutale Politik des Ignorierens aushebeln kann. Sollen wir uns an Grenzbeamte in der EU gewöhnen, die einen iranischen Dissidenten im Rollstuhl aus dem Spital in Kroatien an die bosnische Grenze zurückschleppen und jugendliche Flüchtlinge dort zusammenschlagen? Die seit Jahren die Menschenrechtskonvention, die Europäische Grundrechtscharta, die Kinderrechtskonvention, die Flüchtlingskonvention, nationale und EU-Gesetze verletzen? Jeder EU-Innenminister weiß, was dort passiert. Es könnte mit einem Schlag beendet werden. Deutschland und andere müssten der Regierung in Zagreb klar sagen: Kroatien kann Schengen jetzt beitreten, wenn diese Praxis sofort aufhört. Die Kroaten wären wohl selbst froh darüber. Dann würden Menschen sich von Griechenland nach Deutschland bewegen wie heute von Italien durch die Schweiz. Und diese unnötige Gewalt hätte sofort ein Ende.

Wenn aber Staaten bewusst darauf setzen, Recht zu brechen, dann wird aus einer Krise des Flüchtlingsschutzes eine noch tiefere Krise der Rechtsstaatlichkeit. Das ist sehr gefährlich. 

Gerald Knaus, Migrationsexperte

profil: Was kann an anderen Grenzen dagegen getan werden?
Knaus: Es genügt jedenfalls nicht, auf Missstände nur aufmerksam zu machen. Das ist die Strategie vieler Menschenrechtsverteidiger: Shaming der Staaten, indem man Gewalt dokumentiert und der Gang vor internationale Gerichte. Doch der Schlüssel liegt in der Politik. Man muss Mehrheiten, in Österreich wie in Griechenland, davon überzeugen, dass humane Kontrolle irregulärer Migration möglich ist: durch Partnerschaften, durch Rückführungen und durch mehr legale Aufnahme. Wenn eine Regierung in Athen die Zahl der Ankommenden mittels illegaler Pushbacks drastisch senkt und die einzige Alternative in den Augen der Öffentlichkeit in einer Rückkehr zum Kontrollverlust besteht, dann gewinnen die Verfechter von Pushbacks. Es braucht daher eine Strategie, Mehrheiten davon zu überzeugen, dass sich irreguläre Migration auch ohne Verletzung der Menschenwürde reduzieren lässt. Menschenrechtsorganisationen und der UNHCR müssten für solche Strategien werben, auch um Menschenleben zu retten. Es ist moralisch, irreguläre Migration human reduzieren zu wollen, solange man auch legale Wege für Schutzsuchende ausbaut. Es ist fatal, das nicht zu tun. Wir sehen das heute an der US-mexikanischen Grenze. Präsident Joe Biden sprach von einer neuen Politik. Das Ergebnis: heute versuchen mehr Menschen als je zuvor irregulär in die USA zu kommen, in den letzten 12 Monaten so viele wie seit 1960 nicht mehr. Derweil setzt Biden auf die Fortsetzung der Rückführungen ohne Verfahren, wie unter Donald Trump. Das ist die schlechteste aller Welten: mehr irreguläre Migration, mehr Pushbacks, mehr Zynismus, und am Ende die Gefahr einer Rückkehr Trumps an die Macht. Biden hatte kein Konzept. Gute Absichten genügen nicht.

profil: Wie würde die Umsetzung einer humanen Strategie in Europa aussehen?
Knaus: Irreguläre Migration, die seit Jahren zu unglaublich vielen Toten geführt hat, muss reduziert werden. Wenn man das human tun will, müssen jene, die irregulär kommen, gerettet, aber nach Prüfungen in andere Staaten gebracht werden. Nicht nach Libyen oder Belarus, sondern in Länder, in denen ihre Menschenwürde gewahrt wird. Die Botschaft wäre richtig: Es hat keinen Sinn, sich in Booten der Lebensgefahr auszusetzen. Da braucht man aber andere Staaten und Einigungen und Angebote an die Türkei, Tunesien, Marokko, Moldau oder die Ukraine. Gelingt es jedoch nicht, Strategien für humane Kontrolle umzusetzen, ist die Flüchtlingskonvention selbst in Europa, wo sie ja einst geschaffen wurde, in Gefahr. Das ist ein Stich ins Herz für eine großartige moralische Idee, die 1951 in die Welt kam. In Asien, in 22 Ländern mit vier Milliarden Menschen, also der Hälfte der Erdbevölkerung, wird heute schon praktisch kein Asyl vergeben. Im Jahr 2019 war es weniger als im selben Jahr allein in Kanada. In diesen 22 Staaten gibt es de facto keine Flüchtlingskonvention.

Das ist die schlechteste aller Welten: mehr irreguläre Migration, mehr Pushbacks, mehr Zynismus, und am Ende die Gefahr einer Rückkehr Trumps an die Macht.

Gerald Knaus über Migration an der US-mexikanischen Grenze

profil: Um es polemisch zu formulieren: Wie kann Europa es schaffen, nicht Asien zu werden? Könnte sich in der EU mit der neuen Regierung in Deutschland etwas ändern?
Knaus: Europa muss Europa bleiben. Zur modernen europäischen Identität gehören seit 1951 auch der Flüchtlingsschutz und das Recht auf Asyl. Meine Hoffnung ist, dass die Parteien in Deutschland das Thema ernst nehmen und realistische Strategien für die nächste Regierung entwickeln. Das deutsche Sondierungspapier ist ein Anfang. Es fordert ein „Ende“ des Sterbens an den Grenzen, aber auch, dass mehr Schutzbedürftige durch Resettlement geordnet nach Europa kommen. Würde Deutschland durch Resettlement so viele Menschen aufnehmen wie Kanada oder Schweden – also nicht nur junge Männer, sondern Familien – dann wären das 40.000 im Jahr. Für Frankreich wären es 35.000. Das wäre ein Durchbruch.

profil: Sie hoffen auf eine Koalition der Willigen in der EU?
Knaus: Ja. Würde sich auch Österreich so verhalten wie Schweden wären das 4500 Menschen im Jahr, die ohne Schlepper aufgenommen würden – 0,05 Prozent der Bevölkerung. Flüchtlingshelfer haben mich vor kurzem nach Vorarlberg geladen, um darüber zu diskutieren. Sie hatten jedem Bürgermeister im Land auch mein Buch geschenkt, wo ich dafür argumentiere („Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl“, Piper Verlag 2020). Wir haben dort erklärt, dass das in Vorarlberg im Jahr rund 200 Flüchtlinge wären. Auch der FPÖ-Bürgermeister in Hohenems hat mir dazu gesagt: Natürlich könnten wir das bewältigen!

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.